Schön schlank?

Gerade Frauen schauen oft mit Bewunderung und auch Neid auf andere mit Model-Maßen. Ab einer gewissen Kleidergröße fängt die Scham an. Bin ich zu undiszipliniert? Sehen die Mitmenschen den Kummerspeck? Lieber heimlich alles wieder raus... Rigorose Schönheits-Normen begünstigen Essstörungen; die wiederum zeigen komplizierte Krankheitsbilder.

Das allererste Mal habe ich von Mager­sucht gehört, als ich 1974/1975 in einem Internat an der Ostküste der USA war. Ich war eher klein (bin ich bis heute) und mit 16 eher pummelig. Zu den Stars im Mäd­chenwohnheim gehörten die Großen und besonders Schlanken. Eines Tages gab es große Aufregung, ein Mädchen war zu­sammengebrochen, sie wurde mit Blau­licht abtransportiert. Wenige Tage später der Schock: Wir wurden informiert, dass sie verstorben war. Sie war sozusagen vor aller Augen verhungert. Niemand hatte es gemerkt, sie hatte lockere Kleidung getra­gen, alle hatten sie bewundert, weil sie so toll aussah.

Wie kann das sein, habe ich gefragt. Eine junge Frau sagte mir viele Jahre später: Bulimikerinnen sind meisterhaft darin, ihre Essstörung zu verbergen. Selbst die Eltern merken nichts, das Mädchen isst ja ganz normal mit bei Tisch. Dass sie hinterher ins Bad geht und sich den Fin­ger in den Hals steckt, um zu erbrechen, bekommt meistens niemand mit. Viele Eltern machen sich Vorwürfe, wenn sie begreifen, ihre Tochter leidet schon länger unter einer Essstörung und sie haben es nicht gemerkt.

90 Prozent der Betroffenen sind junge Frauen zwischen 15 und 35 Jahren. Das Robert­-Koch-­Institut hat in einer Stu­die gezeigt, dass bei fast 30 Prozent der Mädchen zwischen 11 und 17 Jahren Essstörungen auftreten. Das finde ich belas­tend. Sie sind derart getrieben von dem Wunsch, dünn zu sein, dass sie sich kör­perlich schädigen. Und selbst wenn sie schon unfassbar dünn sind, fühlen sie sich noch immer dick. Ich habe gelesen, dass in Japan Mädchen versuchen, so dünn zu sein, dass sie mit dem Zeigefinger der linken Hand um den Rücken herum ihren Bauchnabel erreichen. Schaffen sie das, soll das ein Erfolg sein, der glücklich macht. Versuchen Sie das mal. Ich komme höchstens bis zur rechten Hüfte. Gleich­ zeitig ist klar: Es geht nicht nur um den Wunsch, dünn zu sein. Da gibt es viele Ursachen, Essstörungen sind „multifakto­riell“ bedingt, es geht auch um das Ringen um Kontrolle über das eigene Leben...

Als Essstörung gibt es Magersucht, Ano­rexie, die bedeutet, dass Menschen mög­lichst wenig essen. 5 bis 15 Prozent sterben nicht wie das Mädchen in den USA am Verhungern, sondern an Infektionen, die der Körper nicht mehr bewältigen kann. Auch Suizide sind häufig. Dann gibt es die Bulimie, die Ess­-Brech-­Sucht wie oben be­schrieben. Die Mädchen sind nicht unter­gewichtig, aber aus lauter Panik vor Ge­wichtszunahme erbrechen sie, was sie gegessen haben, oder nehmen Abführ­mittel oder treiben übermäßig Sport. Und in Kombination mit beidem gibt es Bin­ge-­Eating, auch Fressattacken genannt. Aus lauter Heißhunger wird dabei schnell und gierig viel zu viel gegessen, was im Anschluss zu Scham, Ekel oder auch De­pression führt. Und natürlich gibt es Adi­positas, übermäßiges Übergewicht, wenn Menschen das Gefühl dafür verlieren, wann sie satt sind. Die Weltgesundheits­organisation spricht da inzwischen von einer „Pandemie“ wie bei Corona.

Ich denke, eine Essstörung betrifft immer auch die Seele. Wenn ich mit mir unzufrie­den bin, versuche ich, durch besonderes Aussehen zu glänzen oder Aufmerksam­keit zu erfahren – oder verliere völlig das Gefühl dafür, wann ich genug habe. Es gibt viele auslösende Faktoren: familiäre Verhältnisse wie Scheidung der Eltern; in­dividuelle Faktoren wie hohe Sensibilität; biologische und soziokulturelle Faktoren sowie traumatische Erlebnisse und den Einfluss von propagierten Schönheits­idealen. Es geht nicht um einen „Schlank­heitstick“, sondern um eine ernstzuneh­mende psychosomatische Krankheit!

Viele geraten schleichend in eine Ess­störung. Das passiert nicht von jetzt auf gleich. Aber wenn es jemandem so geht, muss sie sich nicht dafür schämen! Mir ist wichtig, dass junge Frauen offen darüber reden können und Unterstützung in dieser schwierigen Situation finden. Erst wenn ein Problem tabuisiert wird, kann es wirklich gefährlich werden.

Unsere Gesellschaft macht es uns nicht leicht, „normal“ auszusehen. Im Grun­de genommen habe ich mich auch mein ganzes Leben als „eher rundlich“ angese­hen. Für diesen Artikel habe ich erstmals den Bodymassindex errechnet. Er liegt im unteren Normalbereich, hätte ich nicht ge­dacht! Gerade deshalb ist es gut, dass etwa Tchibo – ich nenne jetzt bewusst eine Fir­ma, weil mir das in letzter Zeit aufgefallen ist – normale, durchaus auch rundliche Frauen als Models für Unterwäsche zeigt. Viel zu lange waren magere, knochendür­re Models Vorbild für eine ganze Frauen­generation. Schönheit kommt von innen, das ist leicht gesagt, wenn die ganze Ge­sellschaft Schönheit mit wenigen Kilos gleichsetzt. Und auch heute in den sozia­len Medien in Zeiten der Bildbearbeitung wächst der Druck nach dem perfekten Aussehen.

Was wir brauchen, ist ein natürliches oder auch entspanntes Verhältnis zu unserem Körper, aber auch zum Essen. Eine US­ amerikanische Therapeutin hat erklärt, Essstörungen würden auch entstehen, weil Eltern die Nahrungsaufnahme ihrer Kinder ständig beobachten, kommentie­ren, regulieren. Dadurch wird Essen nicht zu etwas entspannt Normalem, sondern zum ständigen Thema. Und genau das ist für Essgestörte der Fall: Es dreht sich alles im Denken um Nahrungsaufnahme: wie viel, wie wenig. Einfach mal entspannt am Tisch sitzen, keine Kalorien zählen, aufhören, wenn ich satt bin, weiter essen, wenn ich noch Hunger oder Appetit habe. Denn die Methode der Generation meiner Eltern: „Was auf dem Teller ist, wird aufge­gessen, egal ob du noch Hunger hast oder nicht!“, war auch nicht hilfreich, ein gelas­senes Verhältnis zu Hunger und Sattheit zu finden.

Mädchen und junge Frauen, die an einer Essstörung erkrankt sind, benötigen Un­terstützung auf verschiedenen Ebenen. Die finden sie zum Beispiel in Kliniken. Aber auch danach geht die Arbeit für sie zurück in ein ganzheitlich gesundes und selbstbestimmtes Leben weiter. Das ist mitunter ein langjähriger Prozess. Dabei gibt es deutschlandweit etwa spezialisier­te Wohngruppen, die ein umfassendes Therapieangebot bieten. Damit bilden sie eine Brücke zwischen Klinik und eigen­ständigem Leben, gerade wenn eine Rück­kehr in die Familie in dieser Zeit nicht sinnvoll scheint. Und auch ambulante Therapieangebote sind vorhanden.

Gemeinsame Mahlzeiten sind etwas Wun­derbares. Auch ein schönes Frühstück allein kann herrlich sein. Nicht „to go“ einen Becher lauwarmen Kaffee und ein Brötchen reindrücken, sondern am Tisch sitzen, Kaffee trinken, Brot schmieren, ein gekochtes Ei dazu – das genieße ich oft ganz bewusst.

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