Vorlesen ist ZuwendungBilderbücher im Hort einsetzen

Warum gemeinsames Erleben von Literatur so wichtig ist und wie man Bilderbücher im Hort einsetzen kann. Ein Interview mit dem Pädagogen Thomas Müller.

Vorlesen ist Zuwendung
© Aline Dassel - Pixabay

klasseKinder!: Herr Müller, Sie sind Sonderpädagoge. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, mit Bilderbüchern zu arbeiten?
Thomas Müller: Die Idee entstand durch mein eigenes Interesse an Kinder- und Jugendliteratur. Immer wieder fällt mir dabei auf, dass kluge und intelligente Bilderbücher zu Themen entstehen, die für mich fachlich relevant sind, etwa wenn Kinder sich auffällig verhalten. Mit der Zeit entstand eine Sammlung an Büchern, die meine Studierenden dann analysierten und dazu Unterrichtseinheiten entwickelten. Das war die Grundlage für mein Buch.

Darin stellen Sie Bilderbücher vor, in denen es um Mobbing, Autismus, Depressionen und Fluchterfahrungen geht, aber auch Emotionen wie Wut oder Aufregung. Wie würden Sie „Heute bin ich“ oder „Robbi regt sich auf“ im Ganztag einsetzen?
„Heute bin ich“ ist gut geeignet, um Gefühlslagen benennen zu können, die jenseits von Gut oder Schlecht liegen und die Kindern dazu verhelfen können, so etwas wie emotionale Zwischentöne zu entwickeln. Bei „Robbi regt sich auf“ finde ich es spannend, dass hier eine Erfahrung geschildert wird, die wir im Grunde alle kennen. Man ärgert sich über etwas, hatte einen schlechten Tag und dann richtet sich die eigene negative Energie gegen einen selbst.

Zu jedem der vorgestellten Bücher geben Sie Erziehern und Erzieherinnen Anregungen, wie sie damit weiterarbeiten können, etwa indem sie den Kindern bestimmte Aufgaben oder Fragen stellen. Reicht es manchmal einfach auch, die Bilderbücher nur vorzulesen?
Natürlich, es muss nicht alles immer erläutert oder analysiert werden. Ein Buch vorzulesen ist schon an sich wichtig, denn das ist ein Moment, in dem Kinder gemeinsam mit den Erwachsenen die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand richten. Geteilte Aufmerksamkeit ist für Kinder etwas sehr Wertvolles und geht leider beim Heranwachsen zunehmend verloren.

Welche praktischen Erfahrungen mit Bilderbüchern haben Sie bei Ihrer Arbeit mit Kindern sammeln können?
Ich erinnere mich gut an mehrere Kinder, die auf Bilderbücher sehr eindrucksvoll reagiert haben. Eines davon, ein Kindergartenkind mit auffälligem Verhalten, war völlig fasziniert davon, im Bilderbuch einen anderen Jungen zu erleben, der auch Wutausbrüche hatte und Dinge zerstörte. Für ihn, der viel geschimpft wurde, war das so etwas wie Solidarität: Es gibt andere Kinder und denen geht es auch so. Später, als wir über die möglichen Motive des Kindes im Buch sprachen, konnte er plötzlich seine eigenen benennen und so in Distanz zu seinem Verhalten gehen. Kinder können mithilfe von Büchern Bilder und Wörter finden, sich mit dem eigenen Geschehen auseinanderzusetzen und es besser verstehen.

Welche Chancen versäumt man, wenn man gar keine Bilderbücher vorliest?
Alle! Neben dem Aspekt der ungeteilten Aufmerksamkeit raubt man Kindern die Möglichkeit, der Welt in ihrer Vielgestalt begegnen zu können. Bilderbücher bringen Kinder zum Träumen, zum Staunen und zum Nachdenken – und sie geben ihnen die Möglichkeit, zu erproben, wie es wäre, dieser oder jener Protagonist zu sein, und so etwas über das eigene Sein und Werden herauszufinden.

Das Gespräch führte Antje Ehmann.

Thomas Müller, Anette Temper: Pädagogisch arbeiten mit Bilderbüchern.
Ernst Reinhardt Verlag, München 2018. 105 Seiten, 14,90 Euro. ISBN 978-3-497-02759-0

Mies van Hout: Heute bin ich.
Aracari Verlag, Zürich 2012. 48 Seiten, 13,80 Euro. ISBN 978-3-905-945-30-0

Mireille d’Allancé: Robbi regt sich auf.
Beltz & Gelberg, Weinheim 2016. 32 Seiten, 11,80 Euro. ISBN 978-3-89565-113-7

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