Auch im laufenden Jahr kann die Forschungsgrabung im ehemaligen Kloster Kaltenborn fortgesetzt werden. Derzeit werden neben der Kirche und Klausur erstmals auch die Wirtschaftsbereiche der ausgedehnten Anlage näher untersucht. Unterstützung erhält das Ausgrabungsteam des Landesamts für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt unter Leitung von Prof. Dr. Felix Biermann dabei nicht nur durch deutsche und polnische Studierende, sondern auch durch 10 bis 15 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die unter fachkundiger Anleitung Erfahrungen in der archäologischen Feldforschung gewinnen. Überdies beteiligen sich Schülerinnen und Schüler der Freien Schulen Riestedt mit großem Engagement an den Ausgrabungen.
Reges Alltagsleben und Spuren der Gewalt: Ergebnisse der laufenden Untersuchungen
Geophysikalische Untersuchungen hatten bereits in den Vorjahren gezeigt, dass sich der Kirchen- und Klausurkomplex des heute von der Erdoberfläche verschwundenen Stifts innerhalb eines etwa rechteckigen, von einer Mauer umgebenen Wirtschaftshofs von 140 mal 200 Metern Ausdehnung befand, in dem sich diverse Baulichkeiten erhoben. Neben Ställen und Scheunen ist hier mit verschiedenen Werkstätten, aber auch einem Gästehaus, einer Schule, gegebenenfalls einem Hospital und weiteren Einrichtungen zu rechnen, die zum Betrieb und zur Verwaltung eines wirtschaftlich bedeutenden und reichen Klosters notwendig waren. Mit mehreren Grabungsschnitten werden diese Anlagen nun näher erforscht. So gelingt in herausragender Weise die Rekonstruktion eines mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Klosterbetriebs, der nicht nur religiöses, sondern auch ökonomisches und grundherrschaftliches Zentrum seiner Region war.
In geringer Tiefe unter der heutigen Ackeroberfläche haben sich mächtige Fundamente, Fußböden, Kultur- und Trümmerschichten sowie Keller der massiven Steingebäude des Wirtschaftshofs erhalten, die meist direkt an die Klostermauer anschlossen. Unter anderem kam ein großes, 30 Meter langes, dreischiffiges Gebäude mit sehr starken Mauern ans Tageslicht, das vermutlich als Zehntscheune für die Aufbewahrung der bäuerlichen Abgaben diente. Bei einem anderen Bauwerk könnte es sich um eine Schmiede gehandelt haben. Ein halbes Dutzend Lehmkuppelöfen künden von intensiver Buntmetallbearbeitung in der Frühzeit des 1118 gegründeten Klosters.
Reste einer Glockengussanlage wohl aus dem 12. Jahrhundert.
© Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Felix Biermann.
Insbesondere ist die Basis einer Glockengussanlage mit dem charakteristischen, stark verziegelten Feuergang, mit Buntmetallschmelz und Formteilen erhalten, in der wohl eine Glocke für die benachbarte Stiftskirche gegossen wurde. Im Torhaus des Wirtschaftshofs kündete noch ein zentraler Pfeiler vom Gewölbe des Erdgeschosses. In einem anderen Bauwerk fanden sich drei teilweise reich verzierte Buntmetall-Schreibgriffel des 12. oder 13. Jahrhunderts, mit denen man auf Wachstafeln Notizen vornehmen konnte. Hier dürfte sich ein Teil der Verwaltung des Klosterguts, etwa eine Kanzlei, befunden haben. Ein Ofen mit Dörrpflaumen, die komplett verkohlt und daher über Jahrhunderte erhalten geblieben sind, zeugt von der Bereitung von Trockenobst wohl in der Zeit bald nach 1500.
Sockel eines Seitenaltars in der Stiftskirche.
© Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt, Felix Biermann.
Besonderes Interesse verdienen daneben ein ausgezeichnet erhaltener steinerner Altarsockel mit Podest und Stufenanlage im Bereich des südlichen Seitenschiffs der Stiftskirche sowie ein menschliches Skelett, das sich in Seitenlage im ausgebrochenen Fundament der mutmaßlichen Zehntscheune befand. Die Frage, wann und warum der kopflose Tote an dieser ungewöhnlichen Stelle niedergelegt wurde, lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beantworten und wird Gegenstand weiterführender Untersuchungen sein.
Viele Münzen, landwirtschaftliches Gerät wie Beile, Hacken und eine Mistgabel, reich verzierte Beschläge von Gürteln und Messerscheiden, Spinnwirtel als Schwunggewichte von Spindelstäben, zerschlagenes Tongeschirr, Ofenkacheln, Fensterglas und Tierknochen, eine bemerkenswerte rosettenförmige Stuckdekoration aus dem 12. Jahrhundert sowie zahlreiche Buchbeschläge ermöglichen zusammen mit den reichen Bauresten eine facettenreiche Rekonstruktion des regen Alltagslebens, das sich über gut 420 Jahre an diesem Ort abgespielt hat. Mit dem Bauernkrieg und der Reformation fand all dies ein abruptes Ende.
Von den dramatischen Umbrüchen des Jahres 1525 künden starke Brandschichten in den Gebäuden des Wirtschaftshofs, namentlich auch in der mutmaßlichen Zehntscheune: Brennend heruntergebrochene Dachbalken und Dachziegel des ›Mönch-Nonne‹-Typs haben sich direkt unter dem Pflughorizont erhalten. Es ist allerdings zunächst nicht zu entscheiden, ob diese Zerstörungszeugnisse auf den schriftlich überlieferten Angriff der Riestedter und Emseloher Bauern am 30. April 1525 oder auf eine ebenfalls historisch dokumentierte Attacke eines Söldnertrupps knapp einen Monat früher zurückgeht. Dieser hatte am 4. April 1525 im Rahmen einer Fehde gegen den Landesherrn, Herzog Georg von Sachsen, 14 Ställe und zwei Scheunen Kaltenborns angezündet. Jedenfalls stammen die Zerstörungsrelikte unmittelbar aus jenem von Konflikt und Gewalt geprägten Frühjahr vor 500 Jahren.
Meldung Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt