Als der französische Außenminister Robert Schumann vor 75 Jahren, im Mai 1950, den Vorschlag machte, eine Europäinischesche Gemeinschaft für Kohle und Stahl ins Leben zu rufen, konnte noch niemand ahnen, dass dies gleichsam zum Grundstein für die Europäische Union (EU) werden sollte. Die Absicht bestand darin, durch wirtschaftliche Vernetzung, Zusammenarbeit und gemeinsame Interessen künftigen Kriegen vorzubeugen und ein solidarisches Miteinander zu schaffen. Die Idee von „Europa als Friedensprojekt“ war geboren. Im deutsch-französischen Verhältnis sah Schumann den Kern für eine solche Entwicklung und setzte maßgebliche Impulse für den Aussöhnungsprozess zwischen beiden Ländern. Aufgrund der Konfrontation der Westmächte mit der Sowjetunion war das europäische Friedensprojekt jedoch de facto ein westeuropäisches Projekt, aus dem sich ein Erfahrungsraum bildete, der das Selbstverständnis der EU als Wertegemeinschaft fundierte.
Vor diesem Hintergrund war es eine Überraschung, als sich die katholischen Bischöfe Polens in einem Hirtenschreiben am 18. November 1965 direkt an die deutschen Bischöfe wandten. Zwanzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs streckten sie die Hand zur Versöhnung aus, die in dem Satz kulminierte: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Angesichts des Überfalls auf Polen und dessen Besatzung durch die deutsche Wehrmacht sowie der von den Deutschen verübten Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg einerseits und der Vertreibung bzw. Flucht von insgesamt mehr als zehn Millionen Deutschen aus Mittelost-, Ost- und -Südosteuropa zwischen 1944 bis 1948 andererseits erforderte diese Geste politischen und gesellschaftlichen Mut. Für die kommunistischen Machthaber und Teile der polnischen Gesellschaft stellte dies eine Provokation und Zumutung dar.
Das Antwortschreiben der deutschen Bischöfe vom 5. Dezember 1965 war von Dankbarkeit und dem sichtlichen Bemühen um Anerkennung der Versöhnungsbereitschaft geprägt. Allerdings gelang es ihnen nicht, in gleicher Offenheit und Klarheit zu antworten. Die Rücksicht auf die politische Wirklichkeit des Kalten Kriegs und auf viele Millionen Gläubige in Deutschland ließen sie eher zurückhaltend reagieren, was zu großer Enttäuschung in Polen führte. Denn die polnischen Bischöfe hatten mit ihrem Hirtenschreiben durch die Erinnerung an eine gemeinsame christliche Geschichte und die Verbundenheit im Glauben gerade die Ebene des Politischen überboten, ohne die schweren Erfahrungen der polnischen Bevölkerung zu verschweigen: „Nach alledem, was in der Vergangenheit geschehen ist – leider erst in der allerneuesten Vergangenheit –, ist es nicht zu verwundern, dass das ganze polnische Volk unter dem schweren Druck eines elementaren Sicherheitsbedürfnisses steht und seinen nächsten Nachbarn im Westen immer noch mit Misstrauen betrachtet.“
Heute, 75 Jahre nach der Schumann-Erklärung und sechzig Jahre nach dem Hirtenschreiben der polnischen Bischöfe, stellt sich die Situation jedoch anders dar. Nach dem Mauerfall, dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit ehemaliger Sowjetrepubliken wie der baltischen Staaten hat mit der Osterweiterung ab dem Jahre 2004 eine Integration ehemaliger Ostblockstaaten in die EU stattgefunden. Diese Entwicklung war vom Optimismus getragen, dass die Idee von Europa als umfassendes Friedensprojekt weiter verwirklicht werde. Dabei kam jedoch die Verschiedenheit kollektiver Erfahrungsräume nicht angemessen in den Blick. So war das Bedrohungsgefühl der mittel- und osteuropäischen Staaten gegenüber Russland für die westeuropäischen Staaten kaum nachvollziehbar. Die Warnungen vor den aggressiven Bestrebungen Putins wurden nicht so ernst genommen, wie es nötig gewesen wäre.
In ihrem Essay „Posttraumatische Souveränität“ (2023) stellen Jarosław Kuisz und Karolina Wigura dar, wie die Staaten Mittel- und Osteuropas – im Unterschied zu Westeuropa – die Erfahrung gemacht haben, in ihrer Souveränität durch den russischen Imperialismus bedroht zu sein. Sie beschreiben das kollektive Gefühl der Angst, das durch die aggressiven Expansionsbestrebungen Putins und die Sorge hervorgerufen wird, erneut ihre staatliche Unabhängigkeit zu verlieren. Konkret verdeutlichen Kuisz und Wigura das an den unterschiedlichen Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine: „Während der Westen die Aufgabe darin sah, einen Dritten Weltkrieg zu vermeiden, glaubte der Osten, dass der Krieg gegen den Westen mit seinen internationalen Bündnissen und vertraglich garantierten Grenzen bereits begonnen hatte [ …]. Während der Westen beobachtete, dass ein Krieg stattfand, war der Osten überzeugt, sich bereits im Krieg zu befinden.“ Unterschiedliche kollektive Erfahrungen führen zu verschiedenen Wahrnehmungen, Deutungen und Priorisierungen. Entgegen mancher Europa-Lyrik ist die EU als Friedensprojekt und Wertegemeinschaft ein Gebilde heterogener Erfahrungsräume, das bleibend auf Versöhnungsprozesse und ein verständnisvolleres, solidarisches Miteinander angewiesen ist. Andernfalls ist die „Europadämmerung“ (Ivan Krastev) kaum aufzuhalten. Die polnischen Bischöfe haben vor sechzig Jahren gezeigt, wie es gehen könnte.