Neue Formen des Glaubens ausprobierenMissionarische Pastoral als Entwicklung einer Kirche für heute und morgen

Unter den aktuellen Bedingungen zeigt sich derzeit eine massive Transformation von Glauben, Religion und Kirche in Deutschland. Die bisherigen Selbstverständlichkeiten und Sozialformen von Kirche trocknen offenbar aus. Christlicher Glauben und kirchliches Leben sind in einem vorher nicht gekannten Ausmaß von Relevanzverlust betroffen. Wie kann Zukunft des christlichen Lebens bei aktuellem Ressourcenrückgang gedacht und ausprobiert werden? Es braucht die Ermutigung, die kirchliche Sendung neu zu denken und veränderte Kirchengestalt und Pastoral zu erproben.

Fazit

Überlegungen der Innovation und Kirchenentwicklung können als Einladung und Ermutigung verstanden werden, im größeren sozialen Raum neue Formen des Glaubens und der Präsenz des Evangeliums zu erkunden und auszuprobieren. Insofern ist zu hoffen, dass sich eine missionarische Entwicklung der Pastoral in Richtung Vielfalt und Offenheit vollzieht, anstatt sich in Vereinfachung und Abgrenzung zurückzuziehen.

Mission heißt in den veränderten Koordinaten nicht mehr unbedingt: Menschen gewinnen, einer bereits bestehenden und nicht zu verändernden Ausdrucksform des Glaubens und des Kircheseins „beizutreten“. Vielmehr scheint es so, dass persönliches Glaubensleben, die Signatur authentischen Christseins und damit auch die sozialen Ausdrucks- und Gemeinschaftsformen weiterentwickelt werden müssen, um die Sendung (missio) des Evangeliums (und damit auch das christliche und kirchliche Selbstverständnis) in einer gesellschaftlich und kulturell veränderten Situation neu zu interpretieren und zu Gehör und zum Leben zu bringen. Dazu benötigt es die Bereitschaft, mit Anderen Facetten des Evangeliums neu zu „buchstabieren“ und in Lebensvollzügen zu realisieren. Auch mit denen, die nicht zu diesem Interpretationszusammenhang gehören. Um die Botschaft von Jesus dem Gekreuzigten als dem Liebes- und Beziehungsangebot Gottes in immer neue Kontexte hinein auszusagen, müssen die Vorstellungen des jeweiligen Kontextes aufgegriffen werden. Dabei wird für das Evangelium und mit ihm immer etwas Neues ausgesagt.

Transformation – Religion und Säkularität

Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) zeigt, dass Kirchenmitgliedschaft, bedingt durch Demographie und Austritte, stark zurückgeht. Aber auch bei der Frage nach Religiosität selbst ist ein „säkulares Driften“ wahrzunehmen, eine Verschiebung von eher religiös orientierten hin zu säkularen Orientierungen. Es findet also weniger eine Individualisierung (bei gleichzeitiger Ent-Institutionalisierung) von Religion („Suchende“), sondern tatsächlich ein Anwachsen des Säkularen („Nones“) statt.
Es ist aber auch wahr, dass manche Abwendung von der katholischen Kirche auch mit erwarteter und enttäuschter Veränderungsdynamik in ihr zusammenhängt. Viele seit langem auf Öffnungen oder Modernisierungen hoffende Katholik/ -innen haben sich in den letzten Jahren innerlich oder äußerlich von der verfassten Kirche und dem kirchlichen Leben abgewendet. Im Kontext der Hoffnungen auf Erneuerung zeigt sich Ernüchterung. Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Versuche von Reform oder Optimierung des Glaubenslebens und des kirchlichen Lebens zwar vielen wichtig sind (94  % der Katholiken befürworten in der KMU kirchliche Reformen). So notwendig diese Reformen sind: Sie werden jedoch, auch wenn sie kämen, den Gesamttrend eines Schwindens religiöser Bezüge und Praktiken und den Transformationsweg der verfassten Kirche in eine Minderheitensituation nicht aufhalten können (vgl. Loffeld, 2023).

Mission als Neue Evangelisierung

Manche kirchlichen Kreise zielen eher auf eine „Neue Evangelisierung“. Diese geht davon aus, dass die Gläubigen an die (ewigen) Wahrheiten des Glaubens bzw. an die Person Jesu auf neue Weise herangeführt werden müssen. Dabei zeigen sich oft traditionale Strömungen im Schulterschluss mit charismatisch bis evangelikal orientierten. Auffallend ist hier eine starke Betonung des Normativen und Uniformen des katholischen Glaubens (synchron in der Weltkirche und diachron in der Geschichte) und der Verweis auf die „Rechtgläubigkeit“ des „Katholischen“ und die emotional-ästhetische Dimension. Homogenisiert erscheint in der Regel nicht nur ein autoritativ legitimiertes und normativ vermitteltes Bild von Kirche und dem hierarchischen Amt, sondern auch die Vorstellung von (verbindlichem) Christsein als „missionarische Jüngerschaft“ unter klaren objektiven Kriterien. Folgerichtig geht es in der Neuen Evangelisierung nicht darum, Glauben und Kirche qualitativ neu auszuprobieren, sondern die Gläubigen, die „abständig“ oder „unverbindlich“ geworden sind, wiederzugewinnen und durch „Bekehrung“ neue Gläubige zu generieren. Dem dienen unter anderem Alpha- und Kath-Kurse, (in den USA entwickelte) pastorale Modelle wie Divine Renovation, Rebuilt sowie Großveranstaltungen wie z. B. die Mehr Konferenz oder die adoratio.
Was diese unterschiedlichen Ansätze auf lange Sicht für die Vorstellungen einer missionarischen Kirche, für die Zusammensetzung kirchlicher Gemeinschaftsformen in Deutschland bedeuten, ist derzeit nicht entschieden. Ein „Kulturkampf“ um die authentische Interpretation des „Katholischen“ ist schon lange entbrannt, der mit bestimmten Bildern von kirchlicher Gemeinschaft und Teilhabe/ Aktivität und von Rollen und Ontologie der Beteiligten (z. B. der Ordinierten und der Getauften) verknüpft ist.
Das Phänomen Religion und damit die Bezüge auf das Christentum werden künftig insgesamt geringer werden, dabei aber auch diverser (fuzzy religion): Religion zeigt sich politisch, fundamentalistisch-radikal, im Feld freier Rituale der Sinnsuche, insgesamt individueller, persönlicher, punktueller. Was bedeutet dieser Weg der Ausdifferenzierung in einer künftigen Minderheitensituation für das Nachdenken über Mission von Christen und Kirche und für kirchliche Praxis?
Die hier vertretene These ist, dass die Kirche trotz ihres Wegs in eine Minderheit eine qualitative, weil an der Sendung des Evangeliums Maß nehmende (in diesem Sinne missionarische) Veränderungsdynamik benötigt. Sie erschöpft sich nicht in einer klassischen „neuen Evangelisierung“. Sie wird zwar den Gesamtprozess des „Schrumpfens“ nicht grundsätzlich aufhalten können, hoffentlich aber dazu beitragen, die Spuren Gottes in der Gegenwart neu zu suchen und so das Evangelium authentisch zu leben und zu teilen.

Optimierung und Reform – Pastorale Innovation und Organisationsentwicklung

Diese Veränderungsdynamik wird derzeit auf verschiedenen Ebenen versucht. Im Anschluss an die Erfahrungen der fresh expressions of church der Anglikanischen Kirche im Vereinigten Königreich oder an die Praxis der pioniersplekken der Protestantske Kerk in den Niederlanden erfolgt seit einigen Jahren ein pastorales Experimentieren mit neuen lokalen Formen von Pastoral und Kirche.
Im landeskirchlichen Programm der „Erprobungsräume“ (z. B. der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland) werden beispielhaft neue Gemeinschaftsformen des Christlichen und des Kirchlichen an säkularen Orten ausprobiert. Die sieben Kriterien weisen auf ein verändertes mindset und eine veränderte Praxis hin: In den Erprobungsräumen entsteht Gemeinde Jesu Christi neu. Sie überschreiten die volkskirchliche Logik an mindestens einer der folgenden Stellen: Bezug auf Territorium/Parochie, Hauptamt, Kirchengebäude. Sie erreichen die Unerreichten mit dem Evangelium und laden sie zur Nachfolge ein. Sie passen sich an den Kontext an und dienen ihm. In ihnen sind freiwillig Mitarbeitende an verantwortlicher Stelle eingebunden. Sie erschließen alternative Finanzquellen. In ihnen nimmt gelebte Spiritualität einen zentralen Raum ein.
Wenn so pastoral experimentiert wird und die derzeitige verfasste Kirche als Geburtshelferin einer veränderten zukünftigen Gestalt von Kirche fungiert, entstehen neue Bilder von einer missionalen Sozialgestalt von Kirche. Dadurch verändern sich die Bezüge zwischen territorialen, kategorialen und passageren Formen kirchlicher Präsenz und Wirksamkeit; es entstehen neue Formen von Leitung und Beteiligung. Der Strategiekongress im Dezember 2024 in Bensberg nahm die „nächste“ Kirche in den Blick: Sie wird vielgestaltig, fluide, emanzipatorisch und unternehmerisch sein und benötigt dadurch neue „Geschäftsmodelle“. Einige Bistümer engagieren sich verstärkt in der Verbesserung der Qualität pastoraler Angebote, einer besseren Öffentlichkeitsdarstellung und „Kundenkommunikation“, wobei nicht nur die „Kirchenmitglieder“ gemeint sind. Kasualien werden im Sinne einer Ritendiakonie für neue Zielgruppen kreativ weiterentwickelt. Erst am Anfang stehen Bemühungen um die Messung der Wirksamkeit von pastoralen Vollzügen und Angeboten.
Solche Bestrebungen werden zumeist unter dem Label „Innovation“ und „Kirchenentwicklung“ in einigen Bistümern vorangetrieben. Man kann den Eindruck gewinnen, dass in der katholischen Kirche Innovation eher inkrementell als Optimierung des Bestehenden verstanden wird und daher oft nur an kleinen Stellschrauben gedreht wird. Noch scheint es wenig Mut zu radikal neuen Schritten der Innovation, z. B. dem Ausprobieren ganz neuer Sozialformen des Christlichen jenseits von traditionellen Pfarrgemeinden und kategorialen Seelsorgeformen wie in Krankenhaus, Pflegeheim, Gefängnis etc. zu geben. Tourismus- und Citypastoral, Pilgern etc. weisen exemplarisch in neue Dimensionen, wie das Evangelium auch en passant Resonanz und Prägekraft gewinnt. Für die Pfarreien, die derzeit immer größere Flächen umfassen, sind solche Überlegungen essenziell, geht es doch nicht um ein „Weiter-so-wie-bisher“ einer Betreuungspastoral um den jeweiligen Kirchturm herum. Vielmehr können solche Überlegungen der Innovation und Kirchenentwicklung tatsächlich als Einladung und Ermutigung verstanden werden, im größeren sozialen Raum neue Formen des Glaubens und der Präsenz des Evangeliums zu erkunden und auszuprobieren.

Der Sozialraum als Ausgangspunkt pastoraler Erneuerung

Nicht von ungefähr hat sich dabei wieder das Interesse an einer Gestalt von Pastoral verstärkt, die sich nicht primär als „Betreuung“ an den Binnenraum der Mitglieder richtet, sondern sich als „Sozialpastoral“ am Außen des sozialen Raums orientiert und von daher neue Bedeutung für kirchliche Entwicklung erhält. Die Beteiligung kirchlicher Personen und Gruppen an einer Gemeinwesenarbeit („Quartier“) fördert die Alltags- und Lebensweltorientierung und zielt auf Empowerment und Partizipation der Betroffenen, um Selbst-Bemächtigung, Selbstorganisation und Gewinn von Handlungsmöglichkeiten zu erreichen. Wenn Daseinsvorsorge (gutes Leben) vor Ort so zu einem wichtigen Prinzip der Pastoral wird, wirkt solches Tun mit anderen auf die Kirche und ihr Verständnis von Evangelisierung und Kirche-sein wieder zurück.
In diesen Zusammenhang eingebettet, erhalten dann auch Aspekte Bedeutung, die – angestoßen durch die Erschütterungen des sexuellen Missbrauchs in der Kirche (erst allmählich kommt auch der Missbrauch geistlicher Autorität stärker in den Blick) – auf dem Synodalen Weg als Reformvorhaben der katholischen Kirche in Deutschland diskutiert wurden. Dabei geht es um Rollen von Klerikern und Getauften, umfassendere Beteiligungsformen von Laien, insbesondere Frauen, an öffentlicher Verkündigung und Leitung, Fragen der Kontrolle und Teilung von Macht, größere Teilnahme des Gottesvolkes an der Installierung von Leitungspersonen, Umgang mit queeren Personen etc. Auch wenn dagegen immer wieder Kritik vorgebracht wird, wird man doch konstatieren müssen, dass eine Erneuerung der Kirche in diesen Fragen um der Glaubwürdigkeit und der Relevanz ihrer Verkündigung in modernisierter Gesellschaft willen unerlässlich ist.
Auch der weltkirchliche Prozess der Bischofssynode „Für eine synodale Kirche – Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung“ hat zum Ziel, kirchliches Leben und Zeugnis unter Einbeziehung der Ressourcen und der Kontexte angemessen weiterzuentwickeln. Angesichts des Ringens um Deutungshoheit für die Fragen kirchlicher Veränderung und Reform wird sich noch zeigen, ob diese Entwicklung in der Weltkirche tatsächlich das Potenzial hat, eine differenzierte Weiterentwicklung des christlichen Zeugnisses in unterschiedlichen Teilen der katholischen Weltkirche zu befördern.

Zukunftsbild

All diesen Versuchen ist gemeinsam, den christlichen Glauben mit den Herausforderungen des säkularen Lebens der Menschen in einem bestimmten lokalen Raum in Verbindung zu bringen. Damit ist nicht nur die Möglichkeit, sondern die Notwendigkeit verbunden, sich selbst als Kirche in diesen Öffnungen und Kooperationen neu zu entwerfen und aufzustellen und die Sendung von Christ/-innen und Kirche in veränderten Kontexten neu zu denken und auszuprobieren.
Inwieweit das die aktuelle religionsverfassungsrechtliche Organisation der Kirchen in Deutschland (Körperschaft des öffentlichen Rechts) verändern wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Deutlich ist jedenfalls, dass einige Aspekte, die mit dieser Verfasstheit der Kirche in der Vergangenheit wesenhaft verbunden waren (z. B. Denken vor allem in Mitgliedern, Vorrang der Hauptberuflichkeit in der Kirche, Finanzierung mehrheitlich durch Kirchensteuer) sich verändern wird, weil die Ressourcen, die damit verbunden sind (Mitgliedschaft, Hauptberufliche, Kirchensteuermittel), mittelfristig eher abnehmen als wachsen. So wird die Kirche auch ihre Vorstellungen von ihrer Sendung und die Möglichkeiten ihres pastoralen Engagements neu formulieren müssen.
Kirchliches Leben wird kleiner und unscheinbarer werden. Angesichts der neuen „Attraktivität“ autoritärer Führungsmodelle, einfacher Antworten und alternativer Fakten auf komplexe Fragen und Systeme, polarisierter Kommunikation (Freund-Feind-Schema, Opferstilisierung), wie sie sich in Gesellschaft und Weltpolitik herauskristallisieren: Ob die Kirche tatsächlich in eine Richtung geht, die vielfältig, liberal, suchend-fragend, am anderen orientiert und mit diversen Partnern kooperierend ist, ist derzeit nicht abzusehen. Es bleibt die Hoffnung, dass sich eine missionarische Entwicklung der Pastoral in Richtung Vielfalt und Offenheit vollzieht, anstatt sich in Vereinfachung und Abgrenzung zurückzuziehen.
Der katholischen Kirche in Deutschland ist zu wünschen, dass sie beherzt die jetzigen noch vorhandenen Ressourcen der verfassten Kirche nutzt, um Umrisse einer künftigen Sozialgestalt von Kirche zu erkunden, die von den genannten Kriterien geprägt sein wird. Eine missionarische Kirche muss sich auf die veränderte Lage einstellen, um glaubwürdig und attraktiv zu sein. Das „Missionarische“ als Zukunftsorientierung für Glauben, Christentum und Gestalt und Praxis von Kirche bleibt jedenfalls in seinem Verständnis zumindest zweideutig, je nachdem, wer es im Munde führt.

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