Schobin, Janosch: Einsamkeit. Erkundungen eines universellen Gefühls.
München: Hanser 2025. 223 S. Gb. 24,–.
Das Thema „Einsamkeit“ wird gerade gehypt. Soziologisch erforscht ist es noch wenig. Hier legt ein Soziologe ein sehr anregendes Buch dazu vor, auf dem aktuellen Stand, angenehm differenziert, gut lesbar in seinen sowohl narrativen wie abstrakten Teilen.
Das Buch beginnt mit einer kurzen Geschichte der modernen Einsamkeit: Aus der solitude, der positiv verstandenen Einsamkeit im 18. Jahrhundert, in die sich Künstler, Intellektuelle und religiöse Menschen zu kreativer Inspiration zurückziehen, wird die loneliness, die negative Einsamkeit ab dem 19. Jahrhundert, hervorgerufen durch die Verstädterung, durch die soziale Verelendung in der Zeit der Industrialisierung, durch den Kolonialismus …. Gleichzeitig entsteht die „Einsamkeit der Differenz“, nicht nur die des einsamen Künstler-Genies, auch die der sozialen Differenzen, die etwa Menschen mit anderer als der heteronormativen sexuellen Orientierung zu spüren bekommen. Einsamkeit wird so zu einem subjektiven Zustand der mentalen Abgeschiedenheit, nicht nur – wie das Alleinsein – zu einer räumlichen Absonderung. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren des 20. Jahrhunderts kommt es zu großen kollektiven Einsamkeitserfahrungen. In den letzten Jahrzehnten wird die Einsamkeit mehr zum privaten Problem in konsumorientierten Mittelstandsgesellschaften.
Der Hauptteil des Buches sind Berichte und Reflexionen aus zahlreichen Interviews, die der Autor weltweit mit einsamen Menschen führte. Jedes Kapitel beleuchtet Aspekte moderner Einsamkeit, es verbindet biografische Aspekte der Protagonisten mit soziologischen Forschungen und Reflexionen. Erzählt wird das Leben einer sehr armen Frau in Chile, die nie Liebe erfahren hat, weder von Vätern noch von Ehemännern, und die sich in Arbeit und in Sorge für die Kinder so aufreibt, dass ihr kein Raum für Beziehungen bleibt und sie auch im Alter völlig vereinsamt. Es folgen Einsamkeiten von Personen, die sehr nahestehende Menschen verloren haben, Ehepartner oder Kinder, und ihre Bewältigungsstrategien; Einsamkeiten von allein sterbenden Menschen; von Dynamisierten, also sozialen Aufsteigern, die ihrem Herkunftsmilieu entfremdet, aber im neuen Milieu noch nicht verankert sind; von Menschen, die im Internet (virtuelle) Beziehungen nur projizieren, romantisierend und idealisierend, aber in der Realität sie nie einholen.
Am Ende ein vorsichtiger Blick nach vorne: Dass die Einsamkeit bei uns zuletzt zunahm, dieser verbreiteten Einschätzung widerspricht Schobin: Die einerseits größere Vereinzelung der Menschen werde andererseits durch die „Modernisierungsdividende“ ausbalanciert: Toxische Beziehungen löst man heute leichter auf und geht neue, bessere ein; man vernetzt sich leichter zu besseren Beziehungen usw. – in der Summe blieb die Einsamkeit etwa gleich. Sie verändert sich allerdings von einer häufigen Einsamkeit in Beziehungen, etwa unglücklichen Ehen, in denen man aushalten muss, zur Einsamkeit aus Mangel an Beziehungen. Künftig werden freilich einige Faktoren vermutlich die Einsamkeit verschärfen: Die KI generiert virtuelle Partner, mit denen man kommuniziert und reale Einsamkeit verdeckt; medikamentöse Behandlung oder Drogen werden Einsamkeit noch mehr unterdrücken, aber nicht auflösen; globale Krisen wie Covid, die Klimakrise oder Kriege werden zunehmen und die Einsamkeit verstärken. Keine guten Aussichten.
Stefan Kiechle SJ
Ehrich, Issio: Putsch. Der Aufstand gegen Europas Kolonialismus in Afrika.
Köln: Quadriga 2024. 288 S. Gb. 25,70.
„Die Essenz dieses Buches sind die Geschichten von Menschen aus der Sahelzone. Menschen, die mich in ihren Bann geschlagen haben … Sie ließen mich in ihren Alltag eintauchen, immer wieder auch in ihre Gefühlswelt. Sie öffneten sich mir in einem Maße, das mich in Erstaunen versetzte“ (246). Herausgekommen aus diesen Begegnungen ist ein Buch, das fasziniert, weil es die aktuellen weltbewegenden Umbrüche in den Staaten der Sahelzone mit Porträts der jeweiligen Gesprächspartner verbindet. So werden Zusammenhänge für einen Leser deutlich, der wie der Rezensent zu denen gehört, die von der Sahel-Zone eher aus spärlichen Nachrichten über gescheiterte Antiterror-Einsätze, aus Geschichten über Schlepperbanden und aus Bildern von Flüchtlingsbooten über dem Mittelmeer gehört haben.
Den Auftakt macht der Autor mit dem Bericht über eine symbolische Hinrichtung von Emanuel und Brigitte Macron (20-24) in Niamey, der Hauptstadt Nigers, kurz nach dem Putsch vom 26.7.2023. Sie steht paradigmatisch für die Abwendung der Sahel-Zone von Europa. Im nächsten Kapitel wird gleich klargestellt: „Putin ist nicht das Problem“ (26-42). Die Wurzeln gehen viel tiefer. Sie reichen in die Kolonialzeit hinein, in die anhaltende Ausbeutung der Ressourcen der Länder des Blocks „Frankreich-Afrika“ (vgl. 59 ff.), die sozialen Rückwirkungen der europäischen Abschottungspolitik (vgl. „Der Transportunternehmer“, 162-175), die Verschränkung von westlichem Antiterror-Kampf mit korrupten Regimen vor Ort, die Überfischung der Küsten durch europäische Unternehmen, und vieles andere mehr. Der Autor schließt seine Tour d’Horizon mit einem eher hoffnungsvollen Ausblick auf die „entfesselte Demokratie“ im Senegal (234-246): „Senegal wirkt wie ein dritter Weg, wie eine Alternative zur ewigen France Afrique und dem Pfad, den die Junten eingeschlagen haben. Vielleicht ist Senegal unter Pastef gar ein Staat, der Brücken reparieren könnte, die gesprengt wurden“ (244).
Dem Autor ist ein Buch gelungen, das bei aller Klarheit der Analyse und auch der Eindeutigkeit seiner Sympathie für die Menschen in der Sahel-Zone schwarz-weiß-Schablonen vermeidet – sieht man einmal von ein paar Ausrutschern ab, bei denen sich der Rezensent ein differenzierteres Urteil wünschen würde, etwa wenn mit Rückblick auf die Kolonialzeit dem Christentum pauschal unterstellt wird, es lehre – im Zusammenhang mit der Behauptung der Kolonialisten, die Bewohner Subsahara-Afrikas stünden den Tieren näher als den Menschen – dass das „Tierische das Teuflische, das Übel“ sei, „dem der Mensch widerstehen muss. Das Tierische ist in dieser Weltsicht auch etwas, das der Mensch, die Krone der Schöpfung, unterwerfen darf … So steht es im Alten Testament“ (106). Dazu wäre jetzt viel zu sagen, wozu in einer Rezension der Platz nicht reicht. Aber Kritik daran sollte kein Grund sein, dieses Augen öffnende Buch allen zur Lektüre zu empfehlen, die mehr verstehen wollen von dem, was zurzeit in Afrika geschieht und was Europa existentiell angeht. Afrika ist nicht weit weg, schon gar nicht in Zeiten der Globalisierung.
Klaus Mertes SJ
Schubert, Karsten: Lob der Identitätspolitik.
München: C.H. Beck 2024. 223 S. Kt. 20,–.
Nachdem Identitätspolitik in den letzten Jahren in die Kritik geraten ist (Stichwort „Cancel Culture“ etc.), geht es dem Autor, Philosoph an der Berliner Humboldt-Universität, darum, einen Gegenakzent zu setzen. Er nimmt das Anliegen der Identitätspolitik in Schutz gegen den Vorwurf, sie schränke Meinungsfreiheit ein, nagele Menschengruppen auf starre Identitätskonzepte fest und bekämpfe universalistische Werte. Das Gegenteil sei der Fall: „Die demokratische Revolution hat das demokratische Versprechen der Gleichheit und Freiheit für alle gestiftet. Und bei demokratischer Theorie und Praxis geht es darum, diese universalistischen Werte besser zu verwirklichen. Das vorliegende Buch will dazu beitragen, indem es diese auf den ersten Blick paradoxe Position zu plausibilisieren versucht: Dass man aus universalistischen Gründen in einem bestimmten Sinne anti-universalistisch argumentieren und handeln kann und sollte“ (37).
Im Einklang mit der „radikalen Demokratietheorie“ beansprucht der Autor, lediglich „den universellen Wertekanon ernst (zu nehmen), den sich westliche Demokratien … auf die Fahnen schreiben, ohne ihn jedoch konsequent zu realisieren.“ „Realistisch“ auf die Welt zu blicken, bedeutet für Schubert, „düsterer“ auf sie zu blicken, weil und sofern „die soziale Welt strukturell von exkludierenden Machtverhältnissen durchzogen ist.“ Schuster setzt sich von „liberalen Demokratietheorien“ ab, die auf universelle Vernunft und Kommunikation setzen (man hört im Hintergrund die Kritik an Habermas & Co.). Dafür schließt er sich der postmarxistischen kritischen Theorie an, „die in den Machttheoretikern Nietzsche und Foucault ihre wichtigsten Ideengeber hat“ (39-41).
Vor diesem Hintergrund ist Schusters Kritik an der „rechtsnietzscheanischen“ Kritik der Identitätspolitik erhellend für den Stil seiner Apologie. Die „rechtsnietzscheanische“ Kritik besteht in der Behauptung, „Political Correctness“ sei eine Variante der „Sklavenmoral“. Dem setzt Schuster eine „linksrechtsnietzscheanische“ Sicht auf die Identitätspolitik entgegen. Ihr geht es um die Kritik an Machtverhältnissen und Privilegien. „Dafür ist es nötig, Privilegien abzubauen. Es ist also kein zu vermeidender Nebeneffekt, sondern der vernünftige Kern von Political Correctness, dass dabei Privilegien eingeschränkt werden, was mit Gefühlen der Verletzung einhergehen kann“ (57). Die Vermeidung von „Gefühlen der Verletzungen“ oder schlicht: von Verletzungen kann nicht das ausschlaggebende Argument dafür sein, Widerspruch und Auseinandersetzungen zu vermeiden. So weit, so richtig. Die Vermeidung von Verletzungen kann ja in der Tat nicht das ultimative Kriterium für die Unterscheidung zwischen Sagbarem und Unsagbarem sein. Das gilt dann aber auch – wie der Rezensent, wenn er ihn richtig verstanden hat, vermutlich im Unterschied zum Buchautor meint – allgemein und nicht nur besonders in Bezug auf die Durchsetzung der Politischen Correctness.
Es geht dem Autor um eine Versachlichung der Debatte. Ihm ist klar, dass auch Identitätspolitik in ausgrenzende Interessenspolitik umkippen kann. Sie trage hingegen zur Demokratisierung bei, wenn sie sich der selbstreflexiven Kritik stellt. Sie brauche „sowohl offene interne Diskussionsstrukturen als auch eine gewisse (sic!) Offenheit für Kritik von außen, insbesondere (aber nicht nur) von anderen identitätspolitischen Projekten“ (172). Ob das gelingt, ist allerdings fraglich, wenn man die Schärfe mancher Attacken verfolgt. Beispiel: „Kill a TERF“. Kritik wird so sehr als Verletzung gefühlt, dass sie mit Gewalt verwechselt wird und zur Gegengewalt legitimiert. Hier helfen dann beschwichtigende Einwände des Autors nicht mehr weiter, die die Frage nach der Existenz einer „Cancel Culture“ so beantworten, als sei sie nur das Problem derjenigen, die behaupten, dass es sie gibt (83-93).
Klaus Mertes SJ