In der kirchlichen Lehre der Sieben Todsünden bezeichnen einige von ihnen das, was heute „Gier“ genannt wird: die Völlerei (gula) etwa das gierige Essen, das den Körper schädigt; die Wollust (luxuria) die sexuelle Gier, die egoistisch, übergriffig ist und andere zum Sex-Objekt erniedrigt; der Geiz (avaritia) eine Habgier, die immer mehr besitzen und anderen nichts abgeben will; der Neid (invidia) jene Missgunst, die dem Nachbarn das nicht gönnt, was er mehr hat, und es ihm abnehmen will – bezogen nicht nur auf materielle, sondern auch auf geistige Güter wie Begabungen, Kompetenzen, Erfolge; die eitle Ruhmsucht (vana gloria), die begierig ist auf die Anerkennung der anderen, auf ihr Lob, auf ihre Huldigung. Die Liste ließe sich fortsetzen und vertiefen. Bemerkt wurde freilich, dass diese früheren Sünden mit Beginn des neuzeitlichen Kapitalismus teilweise zu Tugenden mutierten, denn sie seien Kräfte im Menschen, die zum Unternehmertum, somit zu wirtschaftlichem Erfolg und zur Hebung des allgemeinen Wohlstands motivierten. Auf der Gier beruhe der heutige hohe Lebensstandard nicht nur in westlichen Industrieländern, sondern überall in der Welt.
Ergänzt wird diese These durch eine Deutung des Calvinismus: Nach dieser zeige sich die dem Christen von Gott persönlich zugemessene Gnade darin, dass er zu Wohlstand kommt. Also strebe man nach diesem, auch gierig, um sich selbst und anderen den erreichten Gnadenstand zu demonstrieren – auch dies sei eine Wurzel des neuzeitlichen Kapitalismus und damit des wirtschaftlichen Fortschritts und des Wohlstands.
Die These wirkt bestechend: Die Gier ist der Motor der modernen Lebenskultur, der Wirtschaft, der Weltordnung: sowohl die Gier nach materiellem Besitz wie auch die nach Macht und die nach persönlicher Ehre – alle drei eng verschränkt und in Wechselwirkung. Verifizieren lässt sich diese Einsicht – so sieht es aus – mit einem Blick in die Welt: auf die Oligarchen, nicht nur die russischen. Auf die Tech-Milliardäre, nicht nur die amerikanischen. Auf die sich stetig vermehrenden Superreichen, nicht nur in reichen Ländern, sondern auch und besonders krass in armen Ländern. Auch mit einem Blick in die Politik? Dort werden, so der Eindruck, die Autokraten stärker: Sie sind gierig nach Vergrößerung ihrer Imperien und damit ihrer Macht –nicht nur in Russland. Manche von ihnen verbinden gar Big Business und hohe Politik – nicht nur in den USA.
Was ist Gier? Warum ist sie eine Todsünde? Gier kann man verstehen als heftiges, maßloses Verlangen; auch als individuelles oder kollektives Raffen von mehr Gütern als zum Leben gebraucht werden, und das in illegitimer oder illegaler Weise oder auf Kosten anderer Menschen, welche durch diese Gier enteignet, in Not gebracht und beschädigt werden. Gier ist auch ein selbstverständliches Konsumieren auf übermäßig hohem Niveau, unter Ignoranz der Schäden, die dadurch anderen zugefügt werden, etwa indem diesen zu wenig Güter für ein würdiges Leben verbleiben oder indem sie unter ökologischen und anderen Schäden zu leiden haben.
Mit ihren Flügen rund um den Globus, mit ihren Prunkvillen und Luxusyachten werden sehr reiche Menschen leicht als gierig identifiziert und dafür schuldig gesprochen – um wohlfeil auf sie mit dem Finger zu zeigen. Und doch leben sie nur in größerem Grad vor, was weltweit alle einigermaßen wohlhabenden Menschen betrifft: dass sie allzu oft in ihrer Lebenskultur von dem auf Gier beruhenden Wirtschaftssystem profitieren und dabei durch Konsum andere schädigen – was sie freilich gerne mit Verweis darauf verleugnen, dass die Welt eben so funktioniere und dass – bei manch berechtigter Kritik im Einzelnen – nur so Güter und Wohlstand für alle geschaffen würden.
Doch nun ist ein Einwand fällig: Gibt es nicht doch auch die oben erwähnte tugendhafte Gier? Also ein moralisch und rechtlich einwandfreies Streben – man wird es freilich kaum „Gier“ nennen – nach Gütern, materiellen und geistigen, bei dem die auf diese Weise erworbenen oder geschenkten Güter dann auch vielfach geteilt werden? Bei dem beispielsweise Unternehmensgewinne großenteils so reinvestiert werden, dass mit ihnen Arbeitsplätze geschaffen und gerecht geführt und außerdem Güter nachhaltig produziert werden, die auch bedürftigen Menschen zugutekommen? Motive menschlichen Handelns sind ja fast immer ambivalent: Unlautere, vielleicht auch egoistische Motive verbinden sich mit lauteren, vor allem gemeinwohlorientierten – wenn letztere die Oberhand haben, ist das Projekt im Ganzen gut. Auf diese Weise liebt man nicht nur sich selbst, sondern auch den Nächsten – wie sich selbst. Hier unterscheidet sich die „tugendhafte Gier“ vom krankhaften Narzissmus – dieser wohl die dominante Pathologie unserer Zeit.
Dennoch: Wo wirkliche Gier Menschen ausbeutet und schädigt, ist sie Sünde. Und wo die Schädigung zum äußeren oder inneren Sterben von Menschen führt, ja zu deren Tod, ist sie Todsünde. „Sünde“ nennt man sie deswegen, weil diese Gier die von Gott gut geschaffene Schöpfung in ihrer Ordnung und in ihrem Ziel stört. Die Gier zu benennen, mag manche Lebensgewohnheit stören. Das Sprechen darüber ist freilich realistisch und heilsam.