Schwemmer, Marius (Hg.): KulturDiakonie. Chancen für eine Kirche von morgen.
Würzburg: Echter 2024. 259 S. Gb. 24,90.
Der Begriff „KulturDiakonie“ überrascht und erfordert Klärung: Handelt sich um einen Dienst („Diakonie“) an der Kultur? Wessen Dienst und an welcher „Kultur“? Oder um eine Kultur des Dienens? „Diakonie“ meint ja meist das sozial-karitative Engagement ausgerichtet auf Bedürftige; die Verbindung zu „Kultur“ liegt nicht auf der Hand. Der Sammelband – wie meist in dieser Literaturgattung sind die Beiträge in Charakter und Qualität recht unterschiedlich – bleibt in der Begriffsbestimmung leider recht unbestimmt.
Zwei Kurienkardinäle (Ravasi und Calaça de Mendoça) mäandern mit Enthusiasmus im Ungefähren. Ludwig Mödl (49) erwähnt die vier traditionellen Handlungsfelder der Kirche (Verkündigung, Liturgie, Diakonie und Gemeinschaft) und entfaltet dann die Diakonie in drei Richtungen: Karitative, gesellschaftliche (soziale) und kulturelle Diakonie. Letztere ist also Dienst der Kirche an der Kultur. „Kultur“ wird gut erklärt (55 ff.) und weit verstanden: vor allem als Gestaltungsweisen menschlichen Handelns. „Kulturdiakonie“ versteht Mödl dann zweifach: als kulturelle Qualität des kirchlichen Handelns und als „jene Aktivitäten, mit denen die Kirche am gesellschaftlichen Leben zum Wohl aller mitwirkt, also Beiträge für das gesellschaftliche und allgemein kulturelle Leben liefert“ (59). Mit dieser Begrifflichkeit könnte man gut weiterarbeiten; leider jedoch suchen die AutorInnen meist selbst mühsam nach ihrer eigenen Begrifflichkeit, so dass am Ende vieles eher unklar bleibt.
Stefan Klöckner schildert eindrücklich, wie die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. die säkulare und diverse Kultur ablehnten („Diktatur des Relativismus“…) und eine „Entweltlichung“ der Kirche forderten. Der Soziologe Michael N. Ebertz beschreibt (mit N. Luhmann) Kulturdiakonie „als ein Spektrum von Leistungen des kirchlichen Religionssystems für das gesellschaftliche Immunsystem der Kultur…, sofern diese von den Lebensformen und/oder den Künsten angenommen oder irgendwie verarbeitet werden“ (156) – damit hat er den weiteren („Lebensformen“) und den engeren („Künste“) Begriff der Kultur zusammengebunden. Er zitiert dann sieben Thesen von Friedhelm Mennekes SJ zum Verhältnis von Kirche und Kunst. Je nach Profession bringen die weiteren Autorinnen eigene Begriffe oder Themen ins Gespräch mit der Kultur, etwa Ralph Bergold den Bildungsbegriff oder Bernhard Kirchgessner die Theologie der Sehnsucht. Marc Grandmontagne, Kulturberater und -politiker, erzählt erfrischend von seiner kirchlichen Biografie, endet dann aber mit seinem recht umfassenden Kirchenfrust.
Das Buch lässt die Beiträge unverbunden nebeneinander stehen und erscheint wenig durchgearbeitet; man vermisst eine mehr systematische Durchdringung. Dennoch bietet es den Lesenden vielfältige Anregungen zur Frage, wie das Christentum und die Kirche zur Kultur stehen.
Stefan Kiechle SJ
Beck, Jonathan: Eine andere Welt. Bücher, die in die Zukunft weisen.
München: C.H. Beck 2023. 511 S. Gb. 32,–.
Dieses inspirierende Sammelwerk ist das Ergebnis einer Einladung des Beck-Verlages an „über hundert Autoren und Autorinnen und dem Verlag nahestehende Personen“, jeweils die Kurzvorstellung eines Buches gleich welcher Kategorie beizusteuern, um so einen kultur- und zeitübergreifenden Kanon „von Büchern zu erhalten, die insbesondere für uns lesenswert sind, weil sie uns helfen können, eine gute, zumindest aber bessere Zukunft zu gestalten“.
Die von 112 Autorinnen und Autoren verfassten, jeweils drei- bis vierseitigen Vorstellungen sind nach ihrem jeweiligen Erscheinungsjahr angeordnet: jeweils sechs Bücher aus Antike, Mittelalter/Frühe Neuzeit und dem 18. Jahrhundert, fünfzehn aus dem 19. Jahrhundert, fünfundzwanzig aus der ersten Hälfte und sechsunddreißig aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einundzwanzig aus dem gegenwärtigen Jahrhundert. Wie bei Anthologien stets und bei dieser reichlich zufällig entstandenen noch mehr, ist Kritik an der Aufnahme bestimmter Werke und dem Fehlen von anderen zu erwarten. Aber die meisten Leserinnen und Leser finden sich vermutlich vor einem nachdenklich machenden Panorama von teils sehr bekannten, teils weniger bis kaum bekannten Werken, die recht unterschiedlich besprochen werden, oft mit sehr persönlichen Bezügen, meist mit mehr oder weniger detaillierten Angaben zu Inhalt und/oder soziokulturellem Kontext.
Die Liste der Kurzvorstellungen regt zweifellos zum ersten Lesen von Nichtbekanntem an, insbesondere aus dem Bereich human- und sozialwissenschaftlicher Studien. Selbstverständlich geht es nicht um praktische Gegenwartsverbesserungsrezepte, sondern um meist nicht allzu optimistisch angegangene Aspekte der sich abzeichnenden Umweltkatastrophe, der weiterhin virulenten Folgen von Sklaverei und Kolonialismus, der neuen planetarischen Rolle Chinas, des Zusammenhangs von Reichtumskonzentration und anhaltender sozioökonomischer Ungleichheit oder um Überlegungen zur Demokratie als gefährdetem Erbe des Westens und den Möglichkeiten und Bedingungen weltweiter interkultureller Kommunikation.
Da über die Hälfte der Autoren und Autorinnen an deutschsprachigen Hochschulen lehren, ist es nicht verwunderlich, dass (meist ziemlich umfangreiche) Werke mitteleuropäischen und nordamerikanischen Ursprungs überwiegen. Aber es erstaunt doch etwas, dass die Ränder Europas, und mit ganz wenigen Ausnahmen Lateinamerika, Asien und Afrika anscheinend bislang keine erwähnenswerten Beiträge zu dem erwarteten Kanon hervorgebracht zu haben scheinen.
Eine der intensiven Nutzung dienliche systematische Auswertung dieses Sammelwerkes wird sich sicher nicht nur dem auffälligen 9:1-Verhältnis von männlichen zu weiblichen Rezensenten oder den sie besonders beeinflussenden historisch-kulturellen Umständen − über die Hälfte von ihnen ist in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren − widmen, sondern vor allem den thematischen Analysen, ihren Quellen und Argumenten. Könnte eine derartige Auswertung, die die Möglichkeiten einzelner Leserinnen und Leser wohl übersteigt, nicht sogar ein Ausgangpunkt weiterer, ähnlich organisierter Einladungen zu Lektüre und Reflexion von „zukunftsweisenden“ Klassikern und Gegenwartsliteratur werden? Dabei könnte auch gefragt werden, inwieweit deutsche Durchschnittsabiturienten jemals von welchen der vorgestellten Bücher gehört oder sie gar gelesen haben, wie der Zugang zu diesen auch für weniger betuchte Bürgerinnen und Bürger weit abseits großstädtischer Bibliotheken zu garantieren wäre, und nicht zuletzt, wie die in den erwähnten Büchern und ihren hier gesammelten Darstellungen enthaltenen Ideen mittels gerade jener digitalen Kommunikationskanäle zu verbreiten wären, die derzeit wohl zu den größten Herausforderungen des traditionellen Verlagswesens gehören.
Stefan Krotz
Ruster, Thomas / Horstmann, Simone / Taxacher, Gregor: Krallen, Federn, Drachenblut. Tiere in der Kunst des Mittelalters.
Köln: Greven 2025. 160 S. Gb. 40,–.
Das Kölner Museum Schnütgen zeigt herausragende Kunstwerke des Mittelalters, Gemälde und Skulpturen. Viele davon bilden Tiere ab, in verschiedensten Kontexten und Weisen. Stephan Kube hat diese sehr eindrücklich fotografiert für diesen hervorragend ausgestatteten Bildband. Die Texte dazu sind von drei Personen geschrieben, die sich theologisch mit Fragen der Tierethik beschäftigen.
In der Tiersymbolik des Mittelalters verweisen Tiere entweder auf Jesus Christus / Gott oder auf das Böse / den Teufel. In der heutigen Theologie der Tiere werden sie zuerst als Lebewesen und Geschöpfe gesehen, mit eigenem Recht zu leben. Die Abbildungen des Bandes zeigen oft wunderbare Tiere, etwa die nach Wasser lechzende Hindin (vgl. Ps. 42), das Lamm, auf das der Täufer verweist, die Schafe, die vom guten Hirten geführt werden. Ein eigenes Kapitel ist dem Drachen gewidmet, der auch außerchristlich sein Wesen treibt und in der christlichen Ikonografie häufig abgebildet wird, als gefährlich, bedrohlich, verschlingend, aber auch als kleines und besiegtes, fast niedliches Tier. Nicht nur der Erzengel Michael und der heilige Georg überwinden mit männlicher Energie Drachen, auch Frauen, insbesondere die Gottesmutter Maria und die heilige Margareta, retten vor Drachen. Die verdrängte Tiernatur des Menschen ist ein Thema des Buches, ebenso die Erlösung von dem durch Tiere gezeigten Bösen. Ohnmacht und Angst gegenüber wilden Tieren spielen eine große Rolle im Mittelalter, das Gewaltthema ist allgegenwärtig. Besonders berührt eine „Madonna auf breitem Thronsitz“ von 1270: farblich gefasst, hoheitlich, wunderbare Gesichter von Mutter und Kind, ein Apfel für das Kind, der Drache klein und unterworfen unter dem Fuß der Frau.
Die Texte geben zu den Darstellungen historische und ikonografische Hintergründe, und sie deuten die Tiere in ihren theologischen Bezügen. Der Vorrang des Menschen als Gipfel der Schöpfung ist im Mittelalter überall zu spüren, aber Tiere sind bisweilen auch Helfer und Gefährten der Menschen. In der Überwindung ihrer Gewalt liegt auch Erlösung. Der letzte Text von Simone Horstmann trägt eine sehr dezidierte heutige Tierethik vor, mit kritischen Fragen wie etwa der, warum wohl Menschen sich zwar gegenseitig nicht töten und essen, aber sehr wohl Tiere töten und essen dürfen – Darstellungen, die getötete Tiere oder Fleischspeisen zeigen, werden entsprechend ablehnend kommentiert. Hier ist zu fragen, ob die Autorin, um ihr gegenwärtiges ethisches Anliegen vorzubringen, nicht heutige Fragen und Deutungen, die dort nicht hingehören, in die mittelalterliche Kunst einträgt. Werden hier nicht die Kunst und auch die dargestellten Tiere selbst instrumentalisiert – was diese Ethik ja genau ablehnt? Trotz dieses Einwandes ist der Bildband gelungen und empfehlenswert.
Stefan Kiechle SJ
Steinmann, Jan Juhani: Corvus albus.
Wien: Edition acéphale 2024. 268 S. Kt. 25,–.
Ein Roman über zwei Philosophen: Am 1. Mai 1869 lernen sich in einem fiktiven Geschehen in Basel, ohne voneinander zu wissen, Friedrich Nietzsche und Søren Kierkegaard zufällig kennen und verbringen philosophierend den Tag und den Abend miteinander. Der ältere dänische Schriftsteller nähert sich dem jungen deutschen Philologie-Professor an und eröffnet ihm, nach einem strategischen Plan, seinen geistigen Weg. Am Ende liest er ihm einen längeren autobiografischen Bericht vor, in dem sein göttlicher Auftrag enthüllt wird, den er auf diese Weise an Nietzsche weitergibt.
Im Gespräch kreisen Nietzsche um die Stichworte Wagner, Schopenhauer, Wille, Macht …, Kierkegaard um existenzielles Christentum, Individuum und Entscheidung, Paradox und Radikalität des Christentums, Wunder und Kreuz … Abends im Gewittersturm spricht Kierkegaard von seinem Tod am 11. November 1855, der aber – ab hier ist die Biografie fiktiv – kein Tod war, sondern im Sterben gleichsam eine Auferweckung durch einen weißen Raben, verbunden mit dem Auftrag, im Ausland einen Nachfolger zu finden und ihm seine „Methode“ – die Mäeutik des Sokrates, um zu Christus zu führen – zu übergeben. Er glaubt, an diesem Maitag in Nietzsche den lange ersehnten Mann gefunden zu haben und weiht ihn ein. Kierkegaard verabschiedet sich: „Meine Aufgabe ist nur, Sie auf den Weg der indirekten Mitteilung zu geleiten. Der Rest ist Ihr Weg, doch immer, um in das Christentum hineinzutäuschen“ (227). Vom Ästheten über den Ethiker soll man den Sprung in das Christentum, in die Hingabe wagen. Der weiße Rabe – die Ausnahme, „rein für die Reinen“ (255) – ist das Symbol für diesen Weg. Danach wird Kierkegaard nächtlich entrückt.
Das Buch ist eine Genremischung. Es wirkt etwas zerklüftet, unfertig, im Fiktionalen wunderhaft, auch elitär. Seine Sprache ist teils recht philosophisch, in den narrativen Teilen – etwa breit das zeitgenössische Basler Stadtleben ausmalend – auch altväterlich, etwas manieriert, pompös, beladen mit gewagten Metaphern. Aber das Buch ist eine geschickte und gut lesbare Einführung in den Geist Kierkegaards, mehr als in den Nietzsches, wobei am Ende angedeutet wird, dass dieser auf der Folie dieser fiktiven Begegnung neu gedeutet werden könnte – man darf gespannt sein auf Neues von Jan Juhani Steinmann.
Stefan Kiechle SJ