Was der Spiritualität ohne Religion fehlt

Die Rolle der Religion in der postsäkularen Gesellschaft ist spätestens seit seiner Dankrede als Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor knapp 25 Jahren ein sehr präsentes Thema im Denken des Philosophen Jürgen Habermas. Ein paar Jahre nach dieser Rede nahm er auf Einladung der Münchner Hochschule für Philosophie an einer Podiumsdiskussion zu seinen Überlegungen teil. Dort konstatierte er nüchtern, dass der aufgeklärten Vernunft die religiös konservierten Bilder vom sittlichen Ganzen – dem Reich Gottes auf Erden – als kollektiv verbindliche Ideale entglitten, um dann fortzufahren: „Gleichwohl verfehlt die praktische Vernunft ihre eigene Bestimmung, wenn sie nicht mehr die Kraft hat, in profanen Gemütern ein Bewusstsein für die weltweit verletzte Solidarität, ein Bewusstsein von dem, was fehlt, von dem, was zum Himmel schreit, zu wecken und wachzuhalten.“

In der Benennung dieser nicht auflösbaren Spannung zwischen aufgeklärter Vernunft einerseits und andererseits ihrer Bestimmung, „ein Bewusstsein von dem, was fehlt“ zu wecken, schwingt eine leise Melancholie mit: Mit den religiösen Bildern vom Ganzen ist etwas unwiederbringlich verlorengegangen; doch in der postsäkularen Gesellschaft bleiben die Religionen zumindest als Diskurspartner präsent, als eine lebendige Erinnerung an das bewusst Verabschiedete.

Folgt man den Reflexionen des Theologen Jan Loffeld aus seinem vielbeachteten Buch Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt (Freiburg 2024), dann taugen die Religionen (insbesondere das Christentum) inzwischen noch nicht einmal mehr als stumme Denkmäler vergangener Zeiten, geschweige denn als aktuelle Gesprächsteilnehmer. Seit 2015 sehe man, so Loffeld, in verschiedenen religionssoziologischen Untersuchungen einen kontinuierlichen Relevanzverlust der Religionen in vielen westlichen Gesellschaften, verbunden mit einer Haltung religiöser Indifferenz oder Gleichgültigkeit. Immer mehr Menschen fehlt nichts, wenn ihnen Gott fehlt – ganz ohne Melancholie.

Auf der anderen Seite scheint Spiritualität zu boomen. Der Philosoph Thomas Metzinger ist zuversichtlich, dass sich u. a. auch mit den Formen einer säkularen Spiritualität eine neue „Bewusstseinskultur“ schaffen lässt. Angesichts der Klima- und anderer Krisen müssten die Menschen sich in intellektueller Redlichkeit der Weltsituation stellen. Meditation helfe bei dieser ehrlichen Selbsterkenntnis, indem sie zu einem nicht-egozentrischen Selbstwissen führe, das wir Menschen untereinander und womöglich auch mit anderen organischen oder nicht-organischen Lebensformen teilen. Für Metzinger steht diese Form säkularer Spiritualität im scharfen Gegensatz zu den Religionen, die er als adaptive Wahnsysteme ansieht, weil sie die Menschen in emotionaler Sicherheit wiegen, statt sie mit der Wirklichkeit zu konfrontieren.

Allerdings stützen die Studien, auf die Jan Loffeld in seinem Buch verweist, gerade nicht die Zuversicht, dass die Menschen, die sich als „spiritual but not religious“ bezeichnen, sich zu einer Bewegung formen, von der sich Metzinger eine neue Bewusstseinskultur erhoffen könnte. Die Daten zeigen, dass auch individuelle spirituelle Praxis intergenerationell eher als eine Vorstufe zur Areligiosität zu betrachten ist. Mit anderen Worten: Den meisten Menschen wird nichts fehlen, wenn ihnen Vipassana-Meditation oder Yoga fehlt.

Was in den genannten religionssoziologischen Untersuchungen natürlich unter den Tisch fällt, sind die individuellen Auswirkungen einer spirituellen oder religiösen Praxis auf das Leben. Doch mit Blick auf die Tendenz einer schwindenden gesellschaftlichen Relevanz und der bloßen Optionalität einer spirituellen oder religiösen Praxis scheinen (säkulare) Spiritualität und Religion im selben Boot zu sitzen.

Dabei gibt es jedoch einen Unterschied. Religionen haben nicht nur jeweils eigene Spiritualitäten, sondern sie bestehen auch aus bestimmten inhaltlichen Lehren, aus Ritualen und aus Institutionen. Das macht sie zu etwas Konkretem: dogmatisch, objektivierend, unflexibel. Religionen kann man beim Wort nehmen und ihre Institutionen oder Anhänger:innen als unglaubwürdig entlarven. All das, was an Religionen nicht spirituell ist, scheint ihnen auf den ersten Blick zum Nachteil zu gereichen. Doch bei genauerem Hinsehen hat das Allzu-Konkrete der Religionen dazu beigetragen, diese durch die verschiedensten Krisen ihrer Geschichte zu tragen. Bis heute sorgt es für ihre Sichtbarkeit und – zumindest für diejenigen, die sich als Gläubige einer Religion ansehen – für ihre Verlässlichkeit sowie Wirksamkeit. Und damit halten Religionen – vielleicht in größerer Bescheidenheit als früher – ein Bewusstsein von dem wach, was zum Himmel schreit.

Das wird nichts daran ändern, dass vielen Menschen weiterhin nichts fehlt, wenn ihnen Gott fehlt. Doch sollte es sich der eine oder die andere Zeitgenoss:in einmal anders überlegen, dann finden sie in den Religionen Bewusstseinskulturen, die sich seit langem bewährt haben. Genau das ist es, was der Spiritualität ohne Religion fehlt.

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