Lindemann, Gesa: Demokratie – Wirtschaft – Gewalt. Für eine realistische Gesellschaftskritik.
Weilerswist: Velbrück 2025. 148 S. Kt. 20,–.
Gesa Lindemann, Fellow am Max-Weber-Kolleg und bis 2024 Professorin für Sozialwissenschaftliche Theorie, diskutiert im vorliegenden Essay die „dunkle Seite der modernen Gewaltordnung“. Die These, die sie verteidigt: „Moderne Demokratien (…) müssen (…) ausreichend gewaltbereit und gewaltfähig sein“, um das „Versprechen, gewaltfrei in Freiheit und Würde zusammenzuleben“ erfüllen zu können. Nach ihrer Analyse über dieses „politisierte Gewaltparadox“ plädiert sie dafür, sich gegen den „Bruch des modernen Versprechens“ zu wehren – wobei sie Refatalisierung und ökologische Gewalt als zentrale Bedrohungen identifiziert.
Was in dieser Verkürzung Fragezeichen aufwirft, wird im Text, der 2023 den Essaypreis des Jakob-Fugger-Zentrums gewonnen hat, nachvollziehbar hergeleitet. Dabei ist Gewalt der entscheidende Schlüsselbegriff, der untersucht wird, um ihn dann auf herausfordernde Gewaltsituationen unserer Zeit anzuwenden.
Kapitel 1 zeigt, wie stark der Gewaltbegriff vom jeweiligen „Deutungskontext“ abhängt und einige Beispiele muten etwas relativistisch an – etwa der Verweis auf Gewalt in Beziehungen, welche die Partner selbst als Leidenschaft werten könnten. Ob Gewalt nur „mit starken moralischen Wertungen verbunden ist“ oder als Begriff gar nicht von einer solchen Wertung trennbar, bleibt fraglich. Die These der Reflexivität von Gewalt wird dennoch klar. Als „Verfahrensordnung der Gewalt“ entwickelt Lindemann folglich analytische Fragen, um im Kapitel II konkurrierende Stadien von Gewaltordnungen und deren Legitimationsmuster zu rekonstruieren: einer „modernen Verfahrensordnung der Gewalt“ stünden international eine „Ordnung des Ausgleichs“ sowie eine potenzielle „Ordnung der Opferung“ in Krisen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gegenüber. Wegen dieses Konkurrenzverhältnisses sei es dringend notwendig, die Gewaltordnung des Staates „praktisch zu gestalten“ und politisch zu klären, welche Gewalt legitim eingesetzt werden dürfe oder nicht.
Wie schwierig diese Aufgabe zu bewältigen ist, wird im Kapitel III deutlich, in dem Lindemann sich selbst wertend positioniert. So zeigt sie z. B., wie soziale Ungleichheit dazu beitrage, dass Menschen eine „Refatalisierung“ des Lebens erfahren, sich in der Konsequenz aus der „Gestaltung des politischen Lebens“ zurückziehen und mit anderen marginalisierten Gruppen entsolidarisieren – was zum internationalen Rechtsruck der Gesellschaft beitrage.
Das Essay stellt eine spannende Lektüre für jene dar, die für eine Auseinandersetzung mit der Grundidee des „modernen Versprechens“ und gegenwärtigen krisenhaften Herausforderungen aus linkspolitischer Perspektive offen sind. Besonders Kapitel III bietet einigen Diskussionsstoff. Dabei ist der Text angenehm zu lesen, sehr gut gegliedert und die genannten Referenzen – Lindemann verweist u. a. auf Fachliteratur aus dem Bereich der Soziologie als auch auf online zugängliche Quellen gängiger Nachrichtenmedien – regen zum Weiterforschen an.
Esther Jünger
Kermani, Navid: Wenn sich unsere Herzen gleich öffnen. Über Politik und Liebe.
München: C.H. Beck 2025. 143 S. Gb. 20,–.
Prominent als Deutscher iranischer Abstammung und wacher Beobachter des Zeitgeschehens, als Orientalist und Schriftsteller, auch als Träger mancher Preise, u. a. des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, legt Navid Kermani hier ein schmales Bändchen mit Reden und Ansprachen vor, die um das erstaunlich weit gespannte Themenfeld Politik und Liebe kreisen. Kann dieser Spagat gutgehen?
Der erste Text ist ein Brief an seine Tochter Raha zum 18. Geburtstag. Er handelt vom Geschenk, Kinder zu haben, von der Elternliebe, von ihrem Aufopfern für die Kinder, von der Generation der Tochter, die freundlicher ist und toleranter als ältere Menschen, auch gelassener im Umgang mit dem Fremden, und das in einer Welt, die ungesicherter ist, bedrohlicher, chaotischer. Die nächsten Texte sind öffentliche Reden zu gesellschaftlichen oder politischen Anlässen: Sie kreisen um Krieg und Gewalt, um Demokratie und Frieden, auch um Religion und Toleranz, um das Sterben und den Tod, um Humanität und Liebe. Berührend die Trauerrede für seinen Freund Carl Hegemann, den Kermani nicht verklärt, aber als Künstler und Mensch würdigt und trauernd verabschiedet. Die Dankrede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises in Lübeck erzählt erhellend die politische Geschichte des Irans nach, mit dem Regime des Ajatollah Chomeini und dem Versagen des Westens auf breiter Front. Besonders eindrücklich ist m. E. die lange Keynote zum Medienempfang des Hamburger Senats „Der Westen, in dem ich geboren bin“: Die politische Geschichte dieses Westens wird nachgezeichnet, mit seinen großen Errungenschaften wie Menschenrechte, politische Freiheit, Versöhnung der Völker, Demokratie, Toleranz, Kunst usw. – und dann sein Untergang in der aktuellen politischen Weltsituation, die nur noch grausam erscheint. Trauer spricht aus dieser Darstellung, aber auch großer Respekt und die Mahnung, weiter zu streiten für humane Werte und freies Leben, für die der Westen stand und steht. Zum Schluss eine Rede Kermanis zur Hochzeit seiner Tochter Ayda, vor allem über die Liebe, die eben Eigenstand und Miteinander verbindet und deren tiefster Grund „eure Güte. Ja, Güte, oder religiös ausgedrückt, eure Barmherzigkeit“ ist.
Kermani formuliert treffsicher und formschön, er bringt große Gedanken und schafft es, zugleich Emotionen zu bewegen, er schlägt die weiten Bögen der Geschichte und Politik, kehrt aber auch immer wieder zum Konkreten und Nahen zurück, zu den Anlässen seiner Reden, zu seiner Reiseerfahrung, zu seiner Familie. Ja, der Spagat gelingt: Liebe und Politik haben einen engen Zusammenhang, es ist die Humanität, die Freiheit, die Güte, die Annahme des Anderen. Manches in dem Buch klingt düster – die Welt ist düster. Doch zugleich springt Heiterkeit heraus, Humor und Zuversicht.
Stefan Kiechle SJ
Friederichs, Hauke / Barth, Rüdiger: Wenn morgen Krieg bei uns wäre. Welche Szenarien realistisch sind – Was wir jetzt wissen müssen – Wie wir uns vorbereiten können.
München: Heyne 2025. 335 S. Gb. 24,–.
Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat die Sicherheitslage in Europa grundlegend erschüttert. Seit Präsident Donald Trump auch die Glaubwürdigkeit der US-amerikanischen Sicherheitsgarantie für Europa unterminiert, wird immer mehr wahr, was Konrad Adenauer bereits vorhersah: „Europa lebt von der Gnade der Vereinigten Staaten. Auch das wird nicht immer so bleiben. Es wird ein Tag kommen, an dem Europa wieder sich selbst helfen kann und auf eigenen Füßen stehen muss“ (München, 3.4.1950).
Die Zeit scheint gekommen zu sein. Sie verunsichert zutiefst, gerade auch emotional. Die Völker Europas besinnen sich auf ihre unterschiedlichen Erfahrungen und definieren die Bedrohungssituationen unterschiedlich bis gegensätzlich. Es liegen Welten zwischen dem Dank und der Hochachtung, den die Bevölkerung in der Ukraine ihren Soldaten entgegenbringt, und Plakaten auf Demonstrationen in Berlin, auf denen „Soldaten sind Mörder“ steht. Es liegen ebenfalls Welten zwischen dem, was es in den 1970er- und 80er-Jahren bedeutete, Wehrdienst zu leisten, und Fragen, vor denen heute junge Menschen mit ihren Eltern und Familien stehen. „Fliehen oder bleiben“ (291-300): „Sollen wir im Kriegsfall das Land verlassen und uns selbst schützen?“ (291). Manche stellen diese Frage schon jetzt. Jedenfalls: Wer sich heute zum Wehrdienst bereiterklärt, muss für sich persönlich mitbedenken, ob er oder sie im Falle der Fälle bereit ist, das eigene Leben für Artikel 5 des NATO-Vertrages hinzuhalten. Der Ernst dieser Frage gehört zur „Zeitenwende“ dazu.
Die Autoren Rüdiger Barth und Hauke Friederichs versuchen, dem Schrecken des Kriegsfalles in die Augen zu sehen. Einerseits betonen sie: „Ein Krieg kann auch herbeigeredet werden“ (309). Das ist auch der Grund, warum ich das Buch eher mit gespitzten Fingern angefasst habe. Andererseits geht es um „Resilienz“ (274-279). Sie ist nicht nur von Angehörigen der Bundeswehr, sondern von der Gesellschaft als Ganzer verlangt. Dazu gehört: „Man muss der Bevölkerung erst einmal reinen Wein einschenken“ (Helmut W. Ganser, 301), ein „klares story-telling“, was in einem Krieg Russland gegen die NATO auf uns in Deutschland zukäme … Szenarien, die über abstrakte Floskeln hinausgehen“ (ders. 303). Das versuchen die Autoren. Sie beschreiben realistische Szenarien (21-136) und schildern, welches Wissen über die rechtlichen Rahmenbedingungen staatlichen Handelns, über die Bundeswehr und über die russischen Streitkräfte jetzt wichtig ist (137-230). Präventionsmaßnahmen sind wegen des sattsam bekannten Präventionsparadoxes immer mühsam; aber das kann kein Grund dafür sein, überhaupt nicht über Vorbereitungsmaßnahmen zu sprechen (231-270). Eindrücklich sind die Einblicke, die Gespräche mit Personen gewähren, die wissen, wovon sie sprechen, etwa in dem Kapitel „Ein Hauptfeldwebel erzählt“ (201-211).
Die Autoren bekennen sich zur Notwendigkeit von Aufrüstung zum Zweck der Abschreckung. Sie wissen aber auch: „Ein Wechselspiel aus Rüstung und Gegenrüstung kann zu einer Spirale werden, die niemand mehr aufhalten kann.“ Eine Verständigung mit Moskau unter den Bedingungen einer „kalten Koexistenz“ wird notwendig bleiben, nicht zuletzt weil sonst „die Menschen in Deutschland und Europa permanent in einem Zustand prekärer Sicherheit und Kriegsangst leben müssen“ (310). Das vorliegende Buch will genau dies: Der schrecklichen Wirklichkeit des Krieges in die Augen blicken, nicht um Angst zu schüren, sondern um den Ernst der Frage zu ermessen: Was ist zu tun und zu unterlassen, um Frieden und Stabilität in Europa zu sichern?
Klaus Mertes SJ