Ansätze der christlichen Bibelauslegung

Die Bibel ist eine Sammlung von Texten, deren Sinn nicht eindeutig ist. Um die Bedeutung biblischer Texte zu erschließen, hat die Bibelwissenschaft verschiedene Methoden entwickelt. Zu den bekanntesten Ansätzen der Auslegung zählen die historisch-kritische Exegese, die kanonische Bibelauslegung, die feministische, die befreiungstheologische und die tiefenpsychologische Exegese.

Ansätze christlicher Bibelauslegung
© Pixabay / James Nichols

Die Bibel ist eine Sammlung von Texten und Texte sind grundsätzlich auslegungs- oder interpretationsbedürftig: Ein Text hat nie nur einen Sinn, der unmittelbar erkennbar ist („Das steht doch da.“), sondern umfasst eine Fülle von Sinnpotentialen, die im Lesen erschlossen werden können und müssen. Dieser Prozess des Erschließens oder, bildlich gesprochen, des ‚Herausführens‘ (griech.: exegeomai) eines Sinns aus dem Text heißt Interpretation, Auslegung oder – bei besonders wichtigen Texten – Exegese. Aus der Bedeutungsvielfalt eines Textes ergibt sich also einerseits, dass man, wenn man einen Text verstehend liest, in einem weiten Sinn immer schon interpretiert / auslegt / Exegese betreibt, so schreiben die beiden Alttestamentler Thomas Hieke und Benedict Schöning (Methoden alttestamentlicher Exegese, 2017). Andererseits folgt daraus, dass verschiedene Leserinnen und Leser einen Text jeweils unterschiedlich verstehen, weil sie unterschiedliches Vorwissen mitbringen, unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben und unterschiedliche Fragen oder Erwartungen an den Text herantragen. Will man sich mit anderen über das eigene Textverständnis austauschen oder mit wissenschaftlichem Anspruch über einen Text sprechen, muss man deshalb reflektieren, wie man zu einem bestimmten Textverständnis kommt: Dabei helfen Methoden.

Drei Grundorientierungen der Bibelauslegung

Die Texte der Bibel sind wie alle Texte das Ergebnis einer Kooperation: Autoren schreiben Texte, die von Lesern gelesen werden. Bei der Interpretation eines Textes gibt es deshalb drei mögliche Ansatzpunkte: die Autoren, die Leser oder den Text selbst. Entsprechend können in der Bibelauslegung drei Grundorientierungen unterschieden werden.

An der Produktion des Textes orientiert: Historisch-kritische Exegese

Eine produktionsorientierte Bibelauslegung nimmt die Entstehung eines Bibeltextes in einer bestimmten historischen Situation in den Blick, seine kulturelle Umwelt und seine spätere Überlieferung und Bearbeitung. Eine solche Exegese fragt, wie ein Text entstanden ist und welche Absicht seine Autorinnen und Autoren damit verfolgt haben.

Der Inbegriff produktionsorientierter Bibelauslegung ist die historisch-kritische Exegese: Der Begriff umfasst ein Set von Methoden, das zu ermitteln versucht, „welchen Sinn ein biblischer Text zur Zeit seiner Abfassung hatte“, erklärt der Theologe Joachim Vette im „Wissenschaftlichen Bibellexikon im Internet“ (Wibilex). Ausgangspunkt der historisch-kritischen Exegese ist die Tatsache, dass die Bibel uns heute nicht als ein einheitlicher Text vorliegt: Wir lesen biblische Texte in vielen verschiedenen Übersetzungen, die auf hebräischen, griechischen oder aramäischen „Urtexten“ beruhen. Diese liegen aber selbst jeweils nicht als ein Text vor, sondern in Form vieler Manuskripte, die sich unter anderem darin unterscheiden, welche Texte sie in welcher Reihenfolge und in welcher Fassung überliefern. Die Texte der Bibel gibt es also zum einen in verschiedenen Varianten, die zeigen, dass sie in jahrhundertelangen Prozessen des Abschreibens und Übersetzens verändert wurden. Zum anderen zeigen die Texte, selbst wenn man nur je eine einzelne Fassung betrachtet, in sich Brüche und Spannungen, so Vette. Die historisch-kritische Exegese betrachtet diese „Unebenheiten“ als Spuren von Wachstumsprozessen, erläutert der Theologe Egbert Ballhorn (Der Bibelkanon in der Bibelauslegung, 2007). Sie zeigen, dass an den biblischen Texten im Laufe der Zeit viele Hände gearbeitet haben. Die historisch-kritische Exegese rekonstruiert, wie aus mündlichen Vorstufen und ersten schriftlichen Fassungen, durch Überarbeitungen, Ergänzungen und Zusammenführungen mehrerer Texte der Text in seiner heutigen Form entstanden ist. Diese „Arbeitsschritte“ auf dem Weg zum Text in seiner Endgestalt ordnet die historisch-kritische Exegese bestimmten Zeiten, Personengruppen (den sogenannten Trägergruppen) und kulturellen, politischen oder weltanschaulichen Kontexten zu. Sie fragt: Wer hat wann, wie und mit welcher Absicht an einem biblischen Text gearbeitet? Es geht ihr also darum, ein möglichst genaues Bild der Welt zu entwerfen, aus der ein Text kommt, und zu ermitteln, wie der Text innerhalb dieser Welt mutmaßlich verstanden wurde. Zu ihren wichtigsten Methoden zählen Textkritik, Literarkritik, Form- und Gattungskritik, Motiv- und Traditionskritik, Überlieferungskritik und Redaktionskritik, schreibt der Alttestamentler Christoph Dohmen (Die Bibel und ihre Auslegung, 1998).

Am vorliegenden Text orientiert: Kanonische Bibelauslegung

Eine textzentrierte Bibelauslegung nimmt einen Bibeltext so in den Blick, wie er den Leserinnen und Lesern heute vorliegt, und versucht, mit Hilfe sprach- und literaturwissenschaftlicher Methoden zu einem reflektierten Verständnis dieses Textes zu gelangen. Sie fragt danach, welche Sinnpotentiale der Text als eigenständige Größe aufgrund seiner literarischen Gestalt (beispielsweise seiner Struktur, Erzählperspektive oder Bildsprache) und, in der kanonischen Bibelauslegung, seines Zusammenspiels mit anderen Texten der Bibel eröffnet – unabhängig davon, ob ein so ermittelter Sinn des Textes dem entspricht, was sein Autor damit mutmaßlich sagen wollte, erklärt Vette (Artikel „Bibelauslegung, christliche“, Wibilex).

Der kanonischen Bibelauslegung, „Biblischen Auslegung“ oder „kanonisch-intertextuellen Lektüre“ geht es laut Thomas Hieke um „das Verstehen biblischer Texte im Kontext der Bibel“ (Biblische Notizen 119-120/2003). Ihr Ausgangspunkt sei die Tatsache, dass Bibeltexte uns heute nicht als einzelne, isolierte Texte begegnen, sondern „als Texte der Bibel“: Sie stehen innerhalb eines Kanons, das heißt einer Sammlung von Texten, die von einer Glaubensgemeinschaft als maßgebend betrachtet werden. Ein biblischer Text hat innerhalb dieses Kanons eine bestimmte Position und steht zu einer Fülle von anderen Texten dieses Kanons in Beziehung, indem er sie zitiert, auf sie anspielt, gleiche Motive wie sie aufweist oder sich mit den gleichen Themen auseinandersetzt. Dieses Phänomen, dass Texte mit anderen Texten verknüpft sind, wird Intertextualität genannt. Das Verständnis eines biblischen Textes, so lautet eine Kernthese der kanonischen Bibelauslegung, verändert sich, wenn man seine Position innerhalb der Bibel und seine intertextuellen Beziehungen zu anderen Bibeltexten berücksichtigt, diese Texte mitliest: So spielt es etwa für die Interpretation der Ankündigung der Geburt Jesu in Lk 1 eine Rolle, dass wir sie am Beginn des Lukasevangeliums, innerhalb des Neuen Testaments als zweitem Teil der christlichen Bibel nach dem Alten Testament, und in intertextueller Verbindung mit Texten aus dem Buch Genesis und dem Buch Jesaja lesen. Die kanonische Bibelauslegung fragt dabei nicht nach der Entstehungsgeschichte des Textes und auch nicht danach, ob in der Textanalyse entdeckte intertextuelle Beziehungen vom Autor beabsichtigt waren. Sie blickt auf den Text in seiner vorliegenden Form „aus der Warte eines idealen, bibelkundigen Lesers“, der die Sinnpotentiale aufspürt, die der Text im Zusammenspiel mit anderen Texten zulässt: Insofern ist die kanonische Bibelauslegung „textzentriert“, aber auch „leserorientiert“, so Hieke.

An den Lesern orientiert: feministische, befreiungstheologische, tiefenpsychologische Exegese

Leserorientierte Auslegungsweisen zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit bestimmten Anliegen an die biblischen Texte herantreten, die in der Situation ihrer Leserinnen und Leser gründen: Sie nehmen ihren Ausgang von deren Erfahrungen, gehen bestimmten Fragestellungen nach, die diese an den Text herantragen, oder zielen auf eine Anwendung von Einsichten aus der Textanalyse in deren Leben. Zu diesen Auslegungsweisen können etwa feministische, tiefenpsychologische und befreiungstheologische Exegese gezählt werden.

„Gegenstand feministischer Exegese ist die Rekonstruktion der vergessenen oder unsichtbar gemachten Geschichte von Frauen und ihrer Lebenswirklichkeiten in biblischer Zeit und der Auslegungsgeschichte“, schreibt die Theologin Claudia Janssen im „Wissenschaftlichen Bibellexikon im Internet“. Eine solche Auslegung setze sich unter anderem damit auseinander, dass die biblischen Texte in patriarchalen Gesellschaften entstanden sind, in männerzentrierter Sprache verfasst sind und in patriarchalen Zusammenhängen ausgelegt wurden und werden. Dafür bedient sie sich vielfältiger Methoden, etwa aus Linguistik, Literaturwissenschaft und historisch-kritischer Exegese. Die feministische Exegese ist durch ihren klaren Standpunkt und ihre Zielsetzungen gekennzeichnet: Sie nimmt Abstand vom Postulat wissenschaftlicher Objektivität und legt offen, dass sie ihren Ausgang von den konkreten Erfahrungen der Exegetinnen und Exegeten und einer „Parteilichkeit (für Frauen)“ nimmt, so Janssen. Das Anliegen sei aber nicht nur die Emanzipation von Frauen, sondern Geschlechtergerechtigkeit in umfassendem Sinn, die Beleuchtung und Überwindung von „Macht-, Ausgrenzungs- und Unterdrückungsstrukturen“ aller (etwa auch rassistischer, klassenbasierter, imperialer) Art und beispielsweise die Analyse von Konstruktionen von Männlichkeit / Weiblichkeit, Körperlichkeit und Sexualität.

Die befreiungstheologische Exegese entstammt der um das Jahr 1968 entstandenen „Theologie der Befreiung“, die die Armen ins Zentrum der Theologie rückte. Auch sie ist durch ihren Ausgangspunkt – den Blickwinkel der Armen – und ihre Zielsetzung charakterisiert: Der befreiungstheologischen Exegese geht es darum, aus den biblischen Texten Motivation und Anleitung für eine Veränderung der sozialen und politischen Verhältnisse zugunsten der Benachteiligten zu gewinnen. Deshalb nimmt sie besonders die biblischen Texte in den Blick, in denen das Thema der Befreiung besonders stark hervortritt, etwa die Erzählung vom Exodus Israels aus Ägypten, aber auch sozialkritische Prophetentexte, so Vette.

Tiefenpsychologische Exegese bezeichnet die Anwendung der Grundthesen der Psychoanalyse und Tiefenpsychologie nach Sigmund Freud bzw. Carl Gustav Jung auf biblische Texte. Biblische Texte, so erklärt Vette die Grundidee der tiefenpsychologischen Exegese, veranschaulichen seelische Verdrängungsprozesse oder sogenannte Archetypen eines kollektiven Unbewussten und können den Prozess der Selbstfindung unterstützen. Diese Art der Auslegung erfreute sich vor allem aufgrund der Publikationen des Theologen und Psychoanalytikers Eugen Drewermann in den 1980er Jahren großer Beliebtheit, war und ist aber – wie heute auch die psychologischen Theorien, auf denen sie basiert – stark umstritten.

Legitimität verschiedener Auslegungsarten vs. unzulässiger Fundamentalismus

Diese drei Ausrichtungen sind nicht scharf voneinander zu trennen, sondern beschreiben Schwerpunktsetzungen. Viele Methoden lassen sich mit unterschiedlichen Fragestellungen verbinden. Die verschiedenen Grundorientierungen beleuchten verschiedene Aspekte eines Textes, sie stellen verschiedene, gleichermaßen legitime Fragen an den Text, können ihn aber nie als ganzen erfassen, betont Hieke (Internationale katholische Zeitschrift Communio 39/2010). Das Bewusstsein dafür ist für eine verantwortete Bibelauslegung unverzichtbar.

Einer fundamentalistischen Auslegung (auch: Biblizismus) fehlt dieses Bewusstsein. Damit wird eine Lesart der Bibel bezeichnet, die davon ausgeht, dass die Bibeltexte im Wortlaut göttlich inspiriert und deshalb irrtumsfrei sind: Die Bibel ist nach dieser Auffassung ein wörtlich aufzufassender Bericht von Tatsachen, dessen Gehalt unmittelbar erfasst werden kann. Fundamentalisten bestreiten daher meist die Notwendigkeit, biblische Texte zu interpretieren oder ihr Verständnis zu reflektieren, so Vette. Die fundamentalistische ist die einzige Lesart der Bibel, die im Dokument „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (1996) von der päpstlichen Bibelkommission der katholischen Kirche ausdrücklich als unzulässig zurückgewiesen wird.

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