Juristisches Tauziehen

Der Tod von Archie Battersbee lässt die Diskussion um den Umgang mit lebenserhaltenden Maßnahmen erneut aufflammen. Frontstellungen zwischen Eltern und Ärzten dienen dabei niemandem.

Arzt und Patient geben sich die Hand
© Pixabay

Es war wohl eine Internet-Mutprobe, die dafür gesorgt hat, dass wieder einmal das britische Gesundheitssystem und dessen Umgang in Bezug auf lebenserhaltende Maßnahmen in die Kritik geraten sind. Der 12-jährige Archie starb, nachdem bei ihm die Behandlung mit Medikamenten und die Beatmung eingestellt worden waren. Dem war ein juristisches Tauziehen zwischen seinen Eltern und Ärzten vorausgegangen. Der Junge hatte seit April im Koma gelegen, weil er sich schwere Hirnverletzungen zugezogen hatte. Die Ärzte hatten ihn daraufhin für hirntot erklärt und sahen keinen Chance mehr auf eine Genesung.

Doch die Eltern kämpften dafür, dass die lebenserhaltenden Maßnahmen für ihren Sohn fortgesetzt werden. Allerdings scheiterten sie in allen gerichtlichen Instanzen. Auch das oberste britische Gericht, der Supreme Court, lehnte den Antrag der Eltern auf Fortführung der lebenserhaltenden Maßnahmen ab und folgte damit der Entscheidung der Ärzte. Die Maßnahmen würden nur „das Sterben verlängern“, so die Richter. Zuletzt wandten sich Archies Eltern auch an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Die Straßburger Richter wollten allerdings nicht in die Entscheidung der nationalen Gerichte eingreifen. Auch der abschließende Versuch, den Jungen vom Krankenhaus in ein Hospiz zu verlegen, scheiterte vor Gericht.

Der Fall Archie erinnert an das Schicksal anderer britischer Kinder aus den vergangenen Jahren. Auch bei Alfie und Charlie hatte es lange juristische Streitigkeiten zwischen Eltern und Ärzten um die angemessene Behandlung der Kinder gegeben. Sogar der Vatikan und Papst Franziskus schalteten sich damals ein. Im Fall von Alfie gab es auf dem Petersplatz eine Mahnwache, der Papst empfing den Vater des Jungen in einer Audienz. Das vatikanische Kinderkrankenhaus „Bambino Gesu“ bot in beiden Fällen an, die Kinder aufzunehmen und zu pflegen. Das scheiterte jedoch an den behandelnden Ärzten, die eine Verlegung der Kinder für nicht verantwortbar hielten.

Auch wenn die Situation bei Archie anders gelagert ist, da er im Gegensatz zu Alfie und Charlie medizinisch als hirntot angesehen wurde, zeigt sich einmal mehr, wie komplex und ethisch schwierig Entscheidungen rund um den Umgang mit lebenserhaltenden Maßnahmen sind. Wer entscheidet letztlich über Leben und Tod? Mit Blick auf Alfie hatte der Papst damals festgehalten: „Der einzige Herr des Lebens, vom Anfang bis zu seinem natürlichen Ende, ist Gott! Es ist unsere Pflicht, alles zu tun, um das Leben zu schützen.“ Und der Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben, Erzbischof Vincenzo Paglia, äußerte sich nach dem Tod von Archie: „Wenn es ein Gericht ist, das über das Leben eines Menschen befindet, dann ist das eine Niederlage für die Menschlichkeit.“

Maßen sich die Halbgötter in Weiß und die Richter, die diese Entscheidungen bisher gestützt haben, zu viel an? Das ist zu kurz gesprungen. Der unbedingte Schutz des Lebens ist leicht einzufordern. Die konkrete Umsetzung meist umso schwieriger.

Zumindest im Fall von Archie war die Lage aus medizinischer Sicht eindeutig. Der Hirntod gilt als Tod des Menschen. Nicht zuletzt die Diskussionen um die Organspende, für die der festgestellte Hirntod die Voraussetzung ist, hat gezeigt, wie schwierig es jedoch oftmals ist, diese Definition zu akzeptieren.

Die Eltern sollten der fachlichen Expertise der Ärzte vertrauen dürfen. Im Gegenzug sollten die Mediziner auf die Bedürfnisse der Angehörigen Rücksicht nehmen und diese in die Entscheidungen miteinbeziehen. Frontstellungen zwischen den beteiligten Parteien sind nicht zielführend.

Dass es in Großbritannien immer wieder dazu kommt, liegt auch am Gesundheitssystem. In Deutschland entscheiden die Angehörigen, ob und wie lange lebenserhaltende Maßnahmen durchgeführt werden, falls es keine Patientenverfügung gibt. Auf der Insel hingegen haben Richter und Ärzte ein Mitspracherecht und können sich auch über die Wünsche der Angehörigen hinwegsetzen. Dabei ist es in solchen Fällen besonders wichtig, dass zwischen allen Beteiligten ein vertrauens- und respektvoller Umgang herrscht. Zu einem juristischen Tauziehen sollte es gar nicht erst kommen!

Der „National Health Service“, der Gesundheitsdienst des Landes, steht finanziell unter enormem Druck. Er neigt dazu, lebenserhaltende Maßnahmen sehr viel früher abzubrechen, als das in Deutschland der Fall wäre. Die palliative Pflege in einem Hospiz oder gar zuhause ist deutlich teurer als in einer Klinik. Wenn diese ökonomischen Gesichtspunkte bei der Entscheidung darüber, ob die Kinder zur Pflege in ein Hospiz oder nach Hause verlegt werden, eine Rolle gespielt haben sollten, wäre das fatal. Fehlende Gelder dürfen nicht dazu führen, dass am Lebensende Abstriche bei der Versorgung und Sterbebegleitung gemacht werden. Zu einem menschenwürdigen Leben gehört auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben.

Kritik kam auch vom „Anscombe Bioethics Center“, eine Einrichtung, die von der katholischen Kirche von Großbritannien und Irland unterstützt wird. Sie sieht in den gerichtlichen Auseinandersetzungen um die Pflege von Archie das jüngste Beispiel dafür, „dass das Sterben von Kindern durch ungelöste Konflikte zwischen Eltern und Krankenhausbehörden erschwert wird“. Es müsse Reformen geben. „Niemand gewinnt, wenn Entscheidungen in einer Weise getroffen werden, die das Leid derjenigen vergrößert, die den Verlust am stärksten spüren werden.“ Die Eltern von Archie fordern ebenfalls eine Untersuchung: „Wir wollen, dass aus dieser Tragödie und der schrecklichen Erfahrung, die wir durch das System machen mussten, etwas Gutes entsteht.“ hansen-strosche@herder.de

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