Kribbelzone NaturWarum der Wald für die Entwicklung von Kindern so wichtig ist

Der Wald und seine Bäume stellen für Kinder einen Raum mit vielen Reizen dar – einen Raum für wildes Spiel, einen Raum zum Entdecken, Erfahren und Sinnieren. Ein Plädoyer für alle Kitas, mit Kindern in den Wald zu gehen.

Zwei Kinder im Wald
© Anke Wolfram

Nils (4;2 J.) und Jarmo (4;8 J.) ziehen und zerren gemeinsam an einem Ast, der als Tragfläche für ein Astlager dient. „Gleich haben wir es geschafft!“ Tatsächlich – mit einem lauten Krachen fällt auf einmal der ganze Bau zusammen. „Oje, warum reißt ihr denn euer schönes Lager ein? Ihr habt euch doch so viel Mühe gegeben, es aufzubauen.“ Die pädagogische Fachkraft Caro kann es kaum glauben, dass die zwei Freunde ihr Lager mutwillig zerstören, wo es doch tagelang als Kulisse für ihre Räuberspiele diente. Indessen kommen fünf weitere Kinder angelaufen und staunen über den Zusammenbruch des Lagers. Wie wild fangen sie sofort an, die letzten stehenden Äste abzureißen und hüpfen freudig auf dem Asthaufen herum. „Wir bauen uns ein neues Lager. Es muss noch größer werden und wir brauchen zwei Eingänge, damit die Räuber besser flüchten können“, strahlt Jarmo Caro an. Äste, Hölzer, Reisig, Blätter, Zapfen, Nadeln … – all diese Naturmaterialien, die Nils, Jarmo und die anderen Kinder bespielen und nutzen, liefern der Wald und seine Bäume. Doch weshalb sind Erfahrungen mit diesen so bereichernd?

Der Wald als Bildungsraum

Lässt man den Blick über den Waldplatz eines typischen Waldkindergartens schweifen, präsentiert sich ein breites Spektrum an kindlichen Aktivitäten: Während einige Kinder ein Lager bauen, klettert ein Mädchen geschickt auf ihren Lieblingsbaum, eine Kleingruppe sitzt im Schatten einer großen Buche und blättert versunken in einem Bilderbuch, wieder andere rühren mit Stöcken in einem alten Topf und kochen leckere Waldsuppe, während zwei Jungen versunken in der Erde graben und dabei ein Stück Wurzel freilegen. Im Bildungsraum Wald finden laute und leise Beschäftigungen nebeneinander statt, ohne sich gegenseitig zu stören. Das Blätterdach der Bäume schluckt die Geräusche. Büsche und Mulden bieten Nischen, in denen man sich ungestört fühlt. Und dennoch überblickt die pädagogische Fachkraft das Geschehen der Gruppe. Die unterschiedlichen Aktionen der Kinder sind für alle einsehbar und ermöglichen spontane, aktive aber auch passive Teilhabe.

Naturmaterialien – fix und fertig vor Ort

Der Wald bietet eine Vielzahl von unterschiedlichen Naturmaterialien. Diese sind für die Kinder stets:

  • verwendungsoffen,
  • einzigartig und
  • echt in ihrer Funktion und Beschaffenheit.

Jedes Teil ist ein Unikat. Ein Stock kann ein Hexenbesen, Zauberstab, Gehhilfe oder Schwert sein: Naturmaterialien bieten Kindern einen größeren Handlungsspielraum als industriell gefertigtes Spielmaterial. Sie lassen mehr Eigenaktivität zu und fordern Kinder zum aktiven Gestalten ihrer Spiel- und Lernprozesse heraus. Zudem kosten sie nichts und die Kita hat keinen großen Aufwand, um diese zu beschaffen.

Wald und Bäume als vielfältige Reizumgebung

Jeder, der einen Wald betritt, spürt sofort eine gewisse Atmosphäre und nimmt mit allen Sinnen Gerüche, Temperatur, Farben, Geräusche und Stille wahr. Wald und Bäume regen Geist und Fantasie der Besucher/-innen an. Der Psychoanalytiker Ulrich Gebhard stellt fest, dass zahlreiche Untersuchungen zur Kleinkindentwicklung immer wieder darauf hinweisen, wie wichtig eine möglichst vielfältige Reizumgebung ist. Diese trägt dazu bei, dass sich das Gehirn gesund entwickelt, sie regt ebenso psychische Entwicklungsschritte des Kindes an. Als besonders sinnvoll erweist sich dabei ein Wechsel zwischen vertrauten, gleichbleibenden Reizen, welche das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung bedienen, und immer neuen Reizen, die zur Exploration einladen. Spielen und Lernen im Wald bietet beides: Kontinuität durch das Aufsuchen immer gleicher Plätze und deren natürliche Veränderung durch Witterung und Jahreszeit sowie das Schaffen neuer Erlebnisflächen. Der Wald eröffnet Kindern vielseitige, stimulierende Erfahrungs- und Erlebnismöglichkeiten:

  • Der Wechsel der Temperatur, Lichteffekte, Gerüche, Wind und die Struktur des Geländes bieten eine Vielfalt an Reizen.
  • Eine Bandbreite an Tönungen – von hell zu dunkel, von trocken zu nass, von warm zu kalt usw. – spricht die Sinne von Kindern im kontinuierlichen Wechsel an.
  • Die Umrisse im Wald sind vieldeutig, unscharf und verschiedenartig, das regt die Fantasie von Kindern an.
  • Die unterschiedlichen Geländestrukturen verlangen, ebenso wie die Veränderlichkeit der Naturelemente, die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit der Mädchen und Jungen.
  • Und nicht zuletzt ist ein Kind beim Aufenthalt im Wald permanent im Kontakt mit Lebendigem, was Aktivität und Entspannung in ein wohltuendes Gleichgewicht bringt.

Die innere Natur des Kindes

Zurück zu unserer Kindergruppe, die so freudig ihr mühsam aufgebautes Lager zerstört. Liegt nicht gewissermaßen eine Ur-Lust in uns Menschen, Dinge zu zerstören, neu zu gestalten und gar zu optimieren? Die Natur macht es uns mit Leichtigkeit vor. Werden und Vergehen scheinen im jahreszeitlichen Einklang zu stehen und bedeuten Erneuerung für die Natur. Der Sturm, der einen Baum aushebelt, die Witterung, die sich über das alte Astsofa hermacht. In der Natur erleben wir, dass in jedem Ende auch ein Anfang liegt, dass der tote Baum zum Wohnraum zahlreicher Insekten wird und der umgestürzte Baum ein Klettergerüst für Kinder ergibt. Auch für uns Menschen ist Zerstörung ein Motor, um neue Ideen und Energien frei werden zu lassen. Im Wald sind Kinder Baumeister/- innen und Gestalter/-innen ihrer eigenen, ganz individuellen Spielwelten. Solche, die mit ihnen mitwachsen und aus ihren aktuellen Interessen und Inspirationen immer wieder neu hervorgehen. Hier gibt es kein Aufräumen, keine vorgefertigten oder erwachsenengesteuerten Strukturen. Das wilde Spiel, die Lust an der Entdeckung und Umgestaltung ihrer Umgebung verbinden die innere Natur des Kindes tief mit der äußeren Natur.

Der Wald als angestammter Entwicklungsraum und Kribbelzone

Der Neurobiologe Gerald Hüther und der Kinderarzt Herbert Renz-Polster plädieren in ihrem Buch „Wie Kinder heute wachsen“ (Beltz 2016) für die Natur als angestammten Entwicklungsraum für Kinder. Kinder suchen einen Entfaltungsraum, in dem sie selbst gestalten und experimentieren können sowie sich selbst begegnen. In der Natur können sie sich ausprobieren, Abenteuer und Freiheit erleben. Beobachtet man Kinder beim freien Spiel im Wald, scheint es, als würden sie die menschliche Evolution erneut durchleben. Sie bauen Hütten, sammeln Blätter und Beeren, kämpfen mit Stöcken oder gehen mit selbst gebauten Speeren auf imaginäre Jagd. Kinder suchen offensichtlich elementare Erfahrungen und Herausforderungen. „Kribbelzone“, so nennt Herbert Renz-Polster die Zone, in der sich Entdeckungslust und Angst die Waage halten und die Kinder bewusst ansteuern – besonders im Alter zwischen drei und sechs Jahren. Wenn Kinder sich in der sog. magischen Phase befinden, wollen sie ihren Ängsten begegnen und sind stolz darauf, ein Abenteuer bestanden zu haben. Der Wald stellt eine einzige Kribbelzone für Kinder dar. Überall gibt es etwas zu entdecken, ständig lauern verschiedene Herausforderungen – quasi hinter jedem Busch. Kein Tag gleicht im Wald dem anderen. Jede Witterung bringt neue Eindrücke und manchmal auch Widrigkeiten, denen sich die Kinder stellen müssen und die es auszuhalten gilt. Bspw. wenn der Winter einbricht und die Minusgrade in die Fingerspitzen „beißen“.

Der pädagogische Ansatz von Waldkindergärten

Waldkindergärten sind seit Jahren ein gutes Beispiel dafür, wie Bildung und Erziehung im Naturraum gelingen kann. In den vergangenen Jahren erfreut sich diese pädagogische Ausrichtung immer größerer Beliebtheit und deren Ausgestaltung wird zunehmend variabler. Neben dem reinen Waldkindergarten haben sich inzwischen Waldtage, Projektwochen oder Außengruppen in konventionellen Kitas etabliert. Der pädagogische Ansatz der Naturraumpädagogik vereint die pädagogischen Entwicklungen und Bestrebungen für mehr Naturerlebnisse von Kindern. Das Fundament des naturraumpädagogischen Ansatzes stellt die Grundgedanken der Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) dar. Die betriebliche Führung der Kita, deren Ausstattung sowie das gesamte Bildungsgeschehen richten sich an nachhaltigen Aspekten aus und reflektieren diese. Die Vermittlung von ökologischen Inhalten spielt in der Naturraumpädagogik zwar eine große Rolle, ist aber nicht immer Hauptanliegen pädagogischen Handelns. Sämtliche Bildungsbereiche, wie sie die Bildungspläne der Bundesländer für Kitas beschreiben, werden im Naturraum vermittelt.

Die Fachkräfte: Begleiter/-innen und Impulsgeber/-innen

Im Gesprächskreis über die Bedeutung von Bäumen bringt es Fenja (5;2 J.) auf den Punkt: „Alle Menschen brauchen doch Bäume. Ohne Bäume hätten wir keine Luft zum Atmen.“ Ihr Freund Jarmo (4;8 J.) unterstützt sie: „Ohne die Bäume hätten wir keine Spielsachen und auch keine Möbel, keine Holzüberdachung und keine Stifte.“ Kinder, die in der Natur spielen, lernen in Sinnzusammenhängen. Sie erschließen sich ihre Welt durch entdeckendes, forschendes Lernen, stellen Fragen und Transfer her. Jedoch nur, wenn sie Erwachsene an ihrer Seite haben, die sich auf ihre Denkprozesse einlassen. Dazu benötigen sie pädagogische Fachkräfte, die sie in ihren Fragen und Vorhaben ernst nehmen, begleiten und unterstützen, aber auch freie Spiel- und Entdeckungsräume ermöglichen. Sie verstehen sich dabei sowohl als Begleiter/- innen als auch als Impulsgeber/-innen. Hierfür ist es notwendig, dass sie die Kinder genau beobachten und die gesamte Lebenswelt des Kindes erfassen. Im Vordergrund steht ein lebendiger Dialog mit den Kindern, deren Eltern und Bildungspartner(inne)n – denn sie alle gestalten durch ihre Ideen, Fragen und Entscheidungskompetenzen maßgeblich das Bildungs- und Erziehungsgeschehen mit. Die Naturraumpädagogik versteht Lernen immer als Konstruktionsprozess: Das Kind lernt sowohl aus einer inneren Motivation heraus als auch durch die Interaktion mit anderen. Demokratische Prinzipien und partizipative Bildungsprozesse sind dabei der Schlüssel für nachhaltige Bildung (s. Schaubild).

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