„Dieser Kardinalshut ist eine Auszeichnung für alle New Yorker!“, so Timothy Kardinal Dolan, als er von der Kardinalserhebung in Rom in den Bischofssitz der St. Patricks Cathedral an New Yorks vornehmer Fifth Avenue zurückkehrte. Den Medien präsentierte sich der 62-jährige Irisch-Amerikaner als allererstes in einer Suppenküche für Obdachlose, die Franziskaner in Midtown betreiben. Statt Kardinalspurpur trug der barocke Kirchenfürst dazu ein grau-weiß-kariertes Flanellhemd, das signalisierte: „Ich bin einer von euch“.
Dolan ist ein großer Kommunikator. Gleichgültig, ob er sonntags in der Kathedrale predigt, seine wöchentliche Radiotalkshow hält, als gern gesehener Gast im Frühstücksfernsehen oder als gelegentlicher Zeitungskommentator auftritt, er bringt seine Botschaft pointensicher unters Volk. Dabei ist ihm die unter Bischöfen seltene Fähigkeit zu eigen, Glauben und Alltag der Menschen in immer neuen Verbindungen leuchten zu lassen.
Der extrovertierte Kirchenhistoriker scheut sich nicht, auf einen reichen Anekdotenschatz zurückzugreifen und (verbale) Ausflüge in andere gesellschaftliche Regionen zu unternehmen. Auf Facebook ist er ebenso zu finden wie auf Twitter. Sein erster Tweet als Kardinal lautete: „Hier meldet sich Timothy Teebow, sorry Cardinal Dolan.“ Timothy Teebow ist ein berühmter Footballstar, der gerade zu den New York Jets wechselte und als bekennender Christ immer wieder in die Öffentlichkeit tritt. Mit Humor und Selbstironie versucht Kardinal Dolan gar nicht erst, den Neid auf die Popularität des Sportlers zu verhehlen. Zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli lautete sein Tweet: „Ich danke Gott für die großzügigen Segnungen, mit denen er unser wundervolles Land überschüttet hat. Möge Gott Amerika weiter segnen.“ Auch das zeigt, wie er die Stimmung im Volk mit seiner Botschaft elegant verbindet.
Eine schnelle kirchliche Karriere
Angefangen hat Kardinal Dolan als Gemeindepfarrer. Sein gewinnendes Wesen, strategisches Denken und gute Vernetzung führten ihn schnell in kirchenpolitische Schaltpositionen in den USA.
Seit mehr als einem Jahr ist er Vorsitzender der US-Bischofskonferenz, der mehr als 250 Bischöfe angehören. Seine Wahl war eine Überraschung, war er doch gerade eineinhalb Jahre Erzbischof von New York. Da er zum dritten Mal kandidiert hatte, rechnete er angeblich nicht damit, gewählt zu werden. Traditionell wählen die Bischöfe den Stellvertreter zum Vorsitzenden. Und das Wahlergebnis war knapp: 118:111 lautete es am Ende. Angesichts der Affären um sexuellen Missbrauch durch Priester, des rapiden Rückgangs der Messbesucher an Sonntagen und der massiven Polarisierung zwischen Konservativen und Reformern entschieden sich die Amtsbrüder mit knapper Mehrheit für ihn als einen Konservativen, der auch den „linken Flügel“ einbinden kann und eine „Stimme“ für die Bischofskonferenz werden sollte, die politisch und gesellschaftlich Gehör findet.
Timothy Dolan ist als Ältester von fünf Kindern im Mittleren Westen der USA aufgewachsen, in einem Vorort von St. Louis, Missouri. In irischer Tradition besuchte er katholische Schulen, wurde von Nonnen unterrichtet und so ins Priesteramt geführt. Promoviert in Kirchengeschichte, verbrachte er nur knapp zehn Jahre als Hilfsgeistlicher und Pfarrer, bevor er einige Zeit an der päpstlichen Nuntiatur in Washington D.C. arbeitete. Von dort holte man ihn als Rektor an das North American College in Rom. Nach sieben Jahren Rom wurde er 2001 Weihbischof in seiner Heimatstadt St. Louis. Just zu diesem Zeitpunkt setzte die Flut der öffentlichen Anklagen gegen Priester ein. Überwiegend Männer berichteten öffentlich von ihrer jeweiligen Leidensgeschichte als Missbrauchsopfer katholischer Geistlicher.
In der Folge zahlte die US-amerikanische katholische Kirche bisher etwa 2,5 Milliarden US-Dollar Entschädigung. Einige Diözesen gingen unter der Last der Zahlungen bankrott. Schwerer noch wiegt – auch in den Augen Dolans –der Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche als moralische Instanz in Politik und Gesellschaft. Bis heute ist es nicht gelungen, ihn wieder auszugleichen.
Eine klare öffentliche Strategie
Bereits ein Jahr später – auf dem Höhepunkt des Skandals in den USA – entsandte Rom Dolan als neuen Erzbischof nach Milwaukee. Die Diözese litt unter besonders vielen Missbrauchsfällen, deren Aufklärung ausstand. Dolan suchte das Gespräch mit den Opfern, aber Ausläufer der Krise dort verfolgen ihn bis heute. Die Nationale Vereinigung von Opfern priesterlicher Gewalt warf dem Kardinal kürzlich vor, viele Fälle vorbei an der Justiz, das heißt ohne strafrechtliche Verfolgung gelöst zu haben. Und erst vor wenigen Wochen berichtete die „New York Times“, Dolan habe Priestern selbst jeweils 20 000 US-Dollar Abfindung gezahlt, wenn sie angesichts der Vorwürfe gegen sie ohne Aufhebens ihr Amt niederlegten. Dolan bestreitet den Wahrheitsgehalt des Berichts, die Zeitung bleibt bei ihrer Darstellung.
Nach sieben Jahren Milwaukee wechselte Dolan 2009 in die reichste Diözese der Welt und wurde der 10. Erzbischof von New York. Die bedeutendste und gleichzeitig einschüchterndste Erzdiözese der USA war für den Mann aus dem Mittleren Westen eine Herausforderung mit ganz speziellem Reiz. Denn die Medienmetropole bietet Dolan, über den „Newsweek“ schrieb, er sei für den Broadway geboren, öffentliche Aufmerksamkeit. Anders als in der Mitte Amerikas, wo nicht so genau hingeschaut wird, steht ein Bischof hier im Fokus.
Dolan nutzte diese Chance in den vergangenen Jahren. Als Historiker denkt und argumentiert er politisch und strategisch, kämpft um die Wahrnehmbarkeit der Kirche in der Gesellschaft und lässt sich deshalb medientechnisch auch intensiv beraten. Seine Strategien bleiben nicht im Verborgenen, der Deckmantel der Verschwiegenheit wird gelüftet. Wer erfahren will, was Dolan politisch umtreibt – zum Beispiel der Kampf gegen das liberale amerikanische Abtreibungsrecht – und wie er sein Ziel erreichen will, hört laut und explizit, was der Bischof für geboten hält.
Im April 2012 zählte das Magazin „Time“ Kardinal Dolan zu den hundert bedeutendsten Persönlichkeiten des Jahres. Die Redaktion begründete ihr Urteil damit, dass Dolan zu den wenigen katholischen Prominenten gehöre, denen es gelungen sei, sich selbst und die katholische Kirche wieder stärker in der politischen Debatte der USA sichtbar und hörbar gemacht zu haben. Dieser Platz sei lange von protestantischen Persönlichkeiten dominiert worden, so ein Teil der Begründung.
Ein Effekt ist zweifellos, dass Dolan im amerikanischen Präsidentschaftswahljahr eine heftige öffentliche Auseinandersetzung mit Präsident Barack Obama über die Konsequenzen der Gesundheitsreform für katholische Krankenhäuser und Institutionen suchte. Obama und seine katholische Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius verteidigen eine Regelung, nach der auch katholische Arbeitgeber die Pflicht haben, empfängnisverhütende Mittel für die Mitarbeiter im Rahmen ihrer jeweiligen Krankenversicherungen abzudecken. Dies lehnt die Bischofskonferenz ab.
Die katholische Kirche der USA nimmt im Gesundheitsbereich auch heute noch eine bedeutende Stellung ein. In etwa 600 katholischen Krankenhäusern wird ungefähr ein Sechstel aller Patienten versorgt. Obamas Gesundheitsreform einer Grundversicherung aller erfüllte langjährige Forderungen auch der Katholiken. Dennoch wurde der Konflikt um Obamas Gesundheitsreform zur Nagelprobe für die Geschlossenheit beziehungsweise für die unterschiedlichen Positionen in der katholischen Kirche; denn die Catholic Health Care Association, die katholische Krankenhäuser und Gesundheitssysteme vertritt, hatte das gesamte Gesundheitsreformpaket zu einem frühen Zeitpunkt begrüßt und einige Änderungsvorschläge eingebracht.
Sorge um die Freiheit der Religionsausübung
Kardinal Dolan und die Bischofskonferenz dagegen betonten zwar, dass die katholische Kirche ein derartiges Rahmengesetz seit 1919 immer wieder gefordert habe. Die vorliegenden Eckpunkte befänden sich – unter anderem wegen der Abtreibungsfrage – jedoch im Widerspruch zur katholischen Lehre und seien abzulehnen. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz argumentiert sogar, durch die Verwaltungsvorschrift zur Empfängnisverhütung sei die Freiheit der Religion bedroht, bestimmte Dinge so regeln zu können, wie es der Glaube erfordere. Er befindet sich damit in Übereinstimmung mit Benedikt XVI., der im Januar in einem Brief an seine amerikanischen Mitbrüder seine Sorge um die Freiheit der Religionsausübung beschrieben hatte.
In den USA ist der gesellschaftliche Konsens über den Vorrang der Freiheit, gerade auch zur Ausübung der jeweiligen Religion sehr breit. Zwar sieht die US-amerikanische Verfassung eine Trennung von Staat und Kirchen vor. Aber das Grundgefühl der meisten Amerikaner wurzelt in ihrer Religionszugehörigkeit und in deren freier, öffentlicher Ausübung. Trotz unterschiedlicher Ausprägungen verstehen sich die USA als ein überwiegend gläubiges Land; weit mehr als es die Europäer heute tun. Das belegen auch Umfragen auf beiden Seiten des Atlantik. 78 Prozent der amerikanischen Bevölkerung gelten als religiös gebunden, 24 Prozent sind katholisch. Das Verhältnis wird sich im Zuge der demographischen Entwicklung insofern ändern, als etwa die Hälfte aller Einwanderer der katholischen Kirche angehören und schon jetzt einige New Yorker Gemeinden großen Zulauf durch die hispanische Bevölkerung bekommen.
Während die katholische Kirche, besonders ihre Bischöfe, entlang der bedrohten Religionsfreiheit argumentieren, trägt ein großer Teil der Katholiken und katholischen Organisationen im medizinischen Bereich diese Auffassung nicht mit. Sie sehen zumindest teilweise sowohl die Debatte um die Empfängnisverhütung als auch um die Abtreibung als Teile einer größeren Debatte über die Rechte der Frauen in Kirche und Gesellschaft. Bis zu 82 Prozent der 70 Millionen Katholiken halten laut Umfragen Empfängnisverhütung für legitim und nur die wenigsten Katholiken lassen sich von der Kontroverse in ihrer Wahlentscheidung beeinflussen.
Der Streit um die Gesundheitsreform
Dennoch ist die Debatte geeignet, die Demokraten und ihren Präsidenten Obama im Wahljahr unter Druck zu setzen. Schon im Februar ließ er kurzfristig ein Kompromissangebot vorlegen. Dieses hätte einen inneren Kreis von katholischen Institutionen davon befreit, Empfängnisverhütungsmittel zahlen zu müssen. Katholische Versicherungen und Krankenhäuser wurden jedoch nicht ausgenommen. Zu wenig, sagte die Spitze der Bischofskonferenz und rief dazu auf, im Juni eine vierzehntägige „Kampagne für die Religionsfreiheit“ mit vielen öffentlichen Veranstaltungen abzuhalten. Sie endete bewusst am 4. Juli, dem Tag der amerikanischen Unabhängigkeit.
Unabhängig von dieser Mobilisierung haben mittlerweile 13 Diözesen und 30 Organisationen gegen den konkreten Teil der Gesundheitsreform Klage vor Gericht erhoben. Diese Klagen sind unabhängig vom Normenkontrollverfahren, das vor dem Supreme Court in Washington D.C. anhängig war, der mit dem deutschen Verfassungsgericht in Karlsruhe verglichen werden kann. Im Wesentlichen bestätigte das Verfassungsgericht, die Gesundheitsreform des Präsidenten widerspreche nicht der Verfassung.
Bischof Stephen E. Blaire von Stockton, Kalifornien, machte in einem Kommentar in der „Washington Post“ öffentlich, dass vielen Bischöfen der Klageweg zu früh kommt. Sie hätten sich eine umfassende Diskussion in der Bischofskonferenz gewünscht und befürchten, einige konservative Bischöfe wollten das Gesundheitsgesetz als eine Waffe im Wahlkampf gegen Präsident Obama nutzen.
Schon beim Konflikt um die Verabschiedung des Healthcare-Gesetzes 2009 hatte sich gezeigt, dass die Katholiken in den USA keine so homogene Gruppe sind, wie Dolan es sich wünschen mag. Damals hatten die Bischöfe sich gegen das Gesetz ausgesprochen, weil es möglicherweise Abtreibungen im ganzen Land finanziell erleichtert hätte. Die Catholic Healthcare Association unterstützte es als den langjährigen Forderungen entsprechend. Dolan kritisiert dies vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass die Bedeutung der Bischofskonferenz als Vertretung der amerikanischen Katholiken unterminiert werde. Er besteht darauf, dass die Bischöfe die einzige legitime Vertretung amerikanischer Katholiken sind und weist darauf hin, dass deren gesellschaftlicher Einfluss durch die Schließung zahlreicher Einrichtungen, beispielsweise der Waisenhäuser, ohnehin schwinde.
Wenn jedoch von 195 US-amerikanischen Diözesen sich lediglich dreizehn auf den Klageweg gegen Präsident Obamas Gesundheitsgesetz und den Punkt Empfängnisverhütung einlassen, so zeigt diese Tatsache, dass es auch in der US-amerikanischen katholischen Kirche viele Schattierungen im Spektrum zwischen Konservativen und Reformern gibt, wobei viele Bischöfe keine öffentliche Position beziehen, sondern dies Dolan überlassen.
Die Diskussion ist eingebettet in die parteipolitische Polarisierung, die vor den am 6. November stattfindenden Präsidentschaftswahlen immer schärfer wird. Ihr lebendigster Ausdruck war bisher einer der Exponenten für die Vorwahlen des republikanischen Präsidentschaftskandidaten, der Katholik Rick Santorum, lange Zeit Favorit der reaktionären Tea-Party-Anhänger innerhalb der Republikanischen Partei. Für den Vater von sieben Kindern stand felsenfest, Sexualität, nur zwischen Männern und Frauen in der Ehe statthaft, dürfe nur dem Zweck der Fortpflanzung dienen. Die Republikaner entschieden sich jedoch gegen Santorum als Präsidentschaftskandidaten und nominierten den Mormonen und Multimillionär Mitt Romney.
Parallel dazu vertieft sich der Graben zwischen Befürwortern und Gegnern der gleichgeschlechtlichen Ehe in den USA. Republikaner stehen dieser in ihrer Mehrheit total ablehnend gegenüber, Demokraten in ihrer Mehrheit befürwortend. Die Katholiken lehnen Eheschließungen unter Homosexuellen mehrheitlich ebenfalls ab. Timothy Dolan hielt sich allerdings im vergangenen Sommer im Bundesstaat New York zurück, als das dortige Parlament die Eheschließungen in einem Gesetz erlaubte. Er wendet sich auch gegen die Forderung mancher, bereits Befürworter der gleichgeschlechtlichen Ehe von den Sakramenten auszuschließen.
Diese Zurückhaltung wird auch als Beleg dafür gewertet, dass Dolan nicht so einfach dem konservativen Lager in der US-amerikanischen Bischofskonferenz zugerechnet werden kann. Als sich Präsident Obama im Frühjahr 2012, nach langem Zögern, für gleichgeschlechtliche Eheschließungen einsetzte, sprach Kardinal Dolan in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der US-Bischofskonferenz dennoch seine tiefe Trauer über diesen Missgriff aus und forderte Obama auf, weiter die Ehe zwischen einem Mann und einer Frau als die allein richtige anzusehen.
Die Kirchen im Präsidentschaftswahlkampf
Natürlich dürfte die Zurückhaltung vieler Diözesen auch darin begründet sein, dass Sexualmoral und die Abtreibungsfrage gerade bei der Republikanischen Partei eine große Rolle spielen. Die Republikaner haben ihren Wahlkampf bisher so angelegt, dass sie das religiöse Amerika für sich in Anspruch nehmen und dem amtierenden Präsidenten Obama Kirchenferne vorwerfen. In den letzten Jahren haben immer mehr Menschen in den USA laut Umfragen den Eindruck gewonnen, das sich die Kirchen, und dazu gehört zweifellos auch ein Teil der katholischen Kirche, unverhohlen auf die Seite einer politischen Partei stellen, nämlich der der Republikaner. Die Teaparty in der Grand Old Party wird wesentlich von Evangelikalen und konservativen Katholiken getragen.
Hielten 1991 lediglich 22 Prozent der Befragten den Einfluss der Kirchen in der Politik für zu groß, so waren das im Jahre 2011 schon 70 Prozent. Beklagt wird dabei vor allem der zu starke Einfluss der Kirchen auf soziale Themen aber auch auf die Gesamtpolitik. Ehrlicherweise muss jedoch festgestellt werden, dass keine eindeutige parteipolitische Zuordnung möglich ist. Während in Fragen von Krieg und Frieden, sozialer Gerechtigkeit, Ökologie, Immigration und Todesstrafe eher den Demokraten nahekommende Positionen bezogen wurden und zum Teil werden, stellen sich viele Bischöfe bei Abtreibung und Homosexualität eindeutig auf die Seite der Republikaner und nutzen die daraus entstehenden Konflikte publizistisch.
Ein anderes Feld der Auseinandersetzung ist der innerkirchliche Streit um die Ausrichtung der Konferenz der amerikanischen Ordensfrauen (LCWR), dem Dachverband der rund 57 000 Nonnen in den USA, die sich den Zorn Roms zugezogen haben (vgl. HK, Juni 2012, 279 ff.). Die Ordensgemeinschaften haben große Nachwuchssorgen. Sie verloren in den USA in den vergangenen fünfzig Jahren etwa zwei Drittel ihrer Mitglieder, nicht zuletzt mangels Nachwuchs und durch Überalterung. Sie bilden jedoch sowohl in Bezug auf das theologische Fundament der Kirche als auch im medizinischen, sozialen oder Bildungssektor immer noch einen wesentlichen Teil der intellektuellen Elite der katholischen Kirche in den USA.
Im Februar dieses Jahres entschied die vatikanische Glaubenskongregation angeblich nach vielfachen Beschwerden und Ermahnungen, das Wirken der verschiedenen Ordensgemeinschaften unter Beobachtung zu stellen. Der Vorwurf des Vatikans lautet, die Ordensschwestern wichen von der kirchlichen Lehre ab und verbreiteten radikal-feministische Positionen. Sie tolerierten Geburtenkontrolle und Abtreibung, kümmerten sich zu viel um Soziales und zu wenig um die Kernaussagen des Glaubens.
Die Polarisierung zwischen Rom und den Ordensgemeinschaften hat sich seit Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils langsam aber sicher aufgebaut. Beflügelt vom Reformgeist des Konzils orientierten sich viele Nonnen neu, bevorzugt in sozialem Engagement für die Welt. Als die Untersuchung gegen die Konferenz eingeleitet wurde, hatte Dolan als damaliger Erzbischof von New York erklärt, er warne vor einer lehramtlichen Untersuchung der Ordensgemeinschaften durch die Glaubenskongregation. Dies werde die Menschen weiter von den Bischöfen distanzieren. Nun ist der Erzbischof von Seattle, Peter Sartain, genau damit beauftragt. In der Tat schlagen die Wogen jetzt hoch, und nicht jeder hält diese Maßnahme aus Rom für sehr geschickt. Viele im sozialen und medizinischen Bereich tätige Schwestern genießen in den USA unter Katholiken wie Nicht-Katholiken hohes Ansehen.
Nicht nur die Nonnen selbst, sondern auch die Gläubigen waren entsetzt, ein Sturm der Entrüstung und Solidaritätsaktionen mit den Schwestern, die vielerorts das Rückgrat von Schulen, Krankenhäusern und Suppenküchen bilden, folgten bereits. Die Ordensgemeinschaften selbst organisierten eine Bustour durch einige katholische Kerngebiete der USA, mit der sie auf ihre Arbeit aufmerksam machen und weitere Unterstützung mobilisieren wollten – nicht zufällig in genau jenen zwei Wochen, in denen die Bischöfe zum vermeintlichen „Kampf für die Religionsfreiheit“ aufriefen. Die Bustour geriet zum Triumphzug. Das römische Verfahren wird dadurch sicher nicht erleichtert.
Dolan steht vor einer schwierigen Aufgabe
Großes Aufsehen in den Medien und in Teilen der Kirche erregte auch, dass Rom kürzlich das von der emeritierten Yale-Professorin und Schwester Margaret Farley 2006 veröffentlichte Buch „Just Love. A framework for christian sexual ethics“ als nicht für die Lehre geeignet auf den Index stellte. Der Vorwurf lautet, die Beschreibungen von sexuellen Praktiken und die positive Bewertung von Homosexualität widerspreche der Lehre der Kirche. Trotz der großen öffentlichen Aufmerksamkeit hielt sich Kardinal Dolan aus dieser Debatte bisher heraus. Vermutlich hat er erkannt, dass sie der Stellung der katholischen Kirche im Staat nicht nützen würde.
Papst Benedikt hat den Amerikaner Dolan nach seiner Kardinalserhebung in die aus seiner Sicht wichtigste aktuelle Behörde der Kurie in Rom berufen, den Rat für die Neuevangelisierung. Und als im Februar vor der Kardinalserhebung ein kleines Treffen der Neukardinäle in Rom stattfand, war es Dolan vorbehalten, in einer Rede vor den Mitbrüdern die Zukunft der Kirche in der Welt von Morgen zu skizzieren. Genau lautete der Titel seines Vortrages: Von der Missio ad gentes zur neuen Evangelisierung, nachzulesen im Blog des Kardinals: Der Glaube im digitalen Zeitalter (http://blog.archny.org).
Dass die USA hier den meisten Europäern weit voraus sind, beweisen immer wieder aufs Neue die „Pilgerreisen“ auch deutscher Katholiken. Medienbischof Gebhard Fürst sah sich vor drei Jahren die elektronische Vielfalt in den USA ebenso an wie interessierte Ordensleute – alle auf der Suche nach Anregungen, wie man die digitalisierte Welt auch in Europa, in Deutschland für den Glauben nutzbringend einsetzen kann, zumal der Einfluss traditioneller Medien zunehmend geringer wird, wenn sie nicht gar sterben.
Dolans Hauptthese in diesem Referat lautete: Die Kirche müsse wieder neu lernen, mit Liebe, Freude und Begeisterung ihren Auftrag zu erfüllen. Dolan knüpft an das vom Papst ausgerufene Jahr des Glaubens an, das im Oktober am 50. Jahrestag des Beginns des Zweiten Vatikanums beginnen wird. Dolan ließ bei seiner Rede vor dem Kardinalskollegium offen, ob er für mehr oder weniger Reformen einzutreten gedenkt.
Der New Yorker Primas steht vor der schwierigen Aufgabe, eine überaus vielgestaltige, teils polarisierte Kirche zusammenzuführen. Gelingt ihm das, werden viele auf ihn schauen und versuchen, seine Art zu kopieren. Garantiert ist das aber nicht.