Wahrsagerei100 Jahre Mühlhiasl

Kleine Kulturgeschichte einer Prophezeiung aus Niederbayern: Im Film „Herz aus Glas“ (1976) von Werner Herzog spielt der junge Josef Bierbichler den Hellseher Hias. Das von der Mühlhiasl-Legende inspirierte Drehbuch schrieb Herbert Achternbusch. Der Originaltext der Mühlhiasl-Prophezeiung erschien im Februar 1923 im Straubinger Tagblatt.

In Windschatten von Fridays for Future und Extinction Rebellion hat sich in den zurückliegenden Jahren die Kollapsologie als Denkrichtung entwickelt. Als einer ihrer wirkmächtigsten Vordenker gilt der französische Agraringenieur Pablo Servigne, auf den auch die Begriffsschöpfung (frz. collapsologie) zurückgeht. Gegenstand ihres Interesses ist die Betrachtung des Untergangs der modernen industriellen Zivilisation – sowohl ihrer Voraussetzungen als auch ihrer Begleiterscheinungen. Die Kollapsologen fragen dabei in zwei Richtungen: Was führt in den Untergang und was folgt auf den Untergang? Die Frage, was den Untergang (noch) verhindern könnte, die in der von Hoffnungsnarrativen geprägten Mainstream-Literatur zu allerhand Umwelt- und Menschheitsproblemen im Vordergrund steht, ist allenfalls am Rande von Relevanz. Für die Mehrzahl der Kollapsologen ist der nahe Untergang unserer gegenwärtigen zivilisatorischen Strukturen und damit eines Großteils der Menschheit eine ausgemachte Sache.

Das Phänomen als solches ist nicht neu. Kollapserzählungen und Untergangsprophezeiungen aller Art – realistische und weniger realistische – begleiten die Menschheitsgeschichte schon immer. In Krisenzeiten haben sie zumeist eine besondere Konjunktur. Einer dieser historischen Untergangspropheten soll hier näher betrachtet werden. Seine Prophezeiung wurde vor 100 Jahren, im Multikrisenjahr 1923, erstmals publik. Es ist der Mühlhiasl. Mühlhiasl? So lautet der Übername eines Mannes, der für gewöhnlich mit dem Müller Matthäus Lang aus dem niederbayerischen Weiler Apoig bei Hunderdorf im Landkreis Straubing-Bogen gleichgesetzt wird. Er soll vor mehr als 200 Jahren im Bayrischen Wald ein eher unstetes Leben geführt und die Zukunft vorhergesagt haben. Seine Visionen sind düster und apokalyptisch. In seinen eigenen Worten: „Eine Zeit kommt, wo die Welt abgeräumt wird und die Menschen wieder wenig werden.“ In Niederbayern ist der Mühlhiasl bis in die Gegenwart Menschen jeden Alters bekannt.

Der Priester Johann Landstorfer (hier sein Sterbebild im Personalakt des Bischöflichen Zentralarchivs) brachte im Februar 1923 durch seinen Artikel im „Straubinger Tagblatt“ die Mühlhiasl-Geschichte ins Rollen. (Foto: Thomas Forstner / Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg)

Die unheilvolle Prophezeiung des Mühlhiasl ist jedoch nicht so alt, wie sie scheinen will. Sie wird erstmals 1923 von Johann Landstorfer verschriftlicht. Landstorfer ist zu diesem Zeitpunkt katholischer Pfarrer in der zum Bistum Regensburg gehörenden Landgemeinde Pinkofen. Mit den Geschichten um den Mühlhiasl kommt er über seinen greisen Mitbruder Pfarrer Johann Georg Mühlbauer in Berührung, der als Pfarrer im Ruhestand ebenfalls in Pinkofen lebt. Der über 90-jährige und zu diesem Zeitpunkt bereits hochgradig demente Mühlbauer berichtet dem Jüngeren manches Wundersame. Landstorfer geht dem Hinweis nach, der Mann, von dem ihm Mühlbauer nur den Übernamen Mühlhiasl überliefert hat, sei der Sohn eines Müllers aus Apoig bei Hunderdorf. Überzeugt von seinen Forschungsbemühungen in den Kirchenbüchern veröffentlicht Landstorfer das sprachlich höchst eigenwillige, in einem um Authentizität bemühten Pseudodialekt verfasste Resultat, unter dem Titel: „Ein Zukunftsseher aus Großväterszeiten: Mathias Lang, gen. ‚der Mühlhias‘, aus Apoig“ am 28. Februar 1923 im Straubinger Tagblatt. Die angebliche Prophezeiung des Mühlhiasl löst in der Region und darüber hinaus sofort eine erhebliche Resonanz aus, die bis heute anhält.

Was ist der Inhalt dieser Prophezeiung? Landstorfers Aufzeichnung, die auf zwei halben Zeitungsseiten Platz findet, besteht aus drei Abschnitten. Der erste enthält die Aufzählung der Vorzeichen, welche die Katastrophenzeit ankündigen: Genannt werden neben anderen modische Veränderungen („wenn sich d‘Bauernleut g‘wanden wie die Städtischen und die Städtischen wie d‘Narrn“), neue Ernährungsweisen („wenn d’Leut nichts mehr tun als fressen und saufen, schlemmen und dämmen, wenn a Bauernleut alle Kuchen fressen“), neue Formen des Verkehrs („Wenn d‘Leut in der Luft fliegen können“; Wenn d‘Wägen ohne Roß und Deichsel fahren“), religiöse Zeichen („übern katholischen Glauben spotten am besten die eigenen Christen“) und wirtschaftliche Verfallsphänomene („Einerlei Geld kommt auf – Geld wird gemacht, so viel, dass mans gar nimmer kennen kann“).

An die Aufzählung der Vorzeichen schließt die Beschreibung der katastrophischen Zeit selbst an, die durch den „großen Krieg“ eingeleitet wird. „Nachher stehts Volk auf“, es kommt zu revolutionären Verhältnissen, zu einer Art Bürgerkrieg („Raufen tut alles“; „In jedem Haus ist Krieg“) in Verbindung mit einem auf Leben und Tod ausgetragenen Klassenkampf („Die Reichen und noblen Leut werden umgebracht, wer feine Händ hat, wird totgeschlagen“). Dann kommen „die Roten“ aus dem Osten. Die Katastrophenzeit tritt in ihre finale Phase, wenn der Sensenmann in seiner niederbayerischen Ausprägung höchstpersönlich in Erscheinung tritt. Bei Mühlhiasl/Landstorfer klingt das so: „Auf d’Letzt kommt der Bänker-a-ramer.“ (also: der Bankabräumer). In Niederbayern ist der Weltuntergang seitdem als das große Bankabräumen bekannt. Damit sind die Bänke in den Bauernhäusern gemeint, auf denen Bauersfamilie und Gesinde bei den Mahlzeiten eng beieinandersitzen. Sie werden nun vom Leben zum Tod befördert. Übrig bleiben nur wenige.

Schließlich folgt die Charakterisierung der Zeit nach diesen geschilderten Ereignissen, die von einer starken Reduktion der Bevölkerung und einem Wiedererwachen der Religiosität gekennzeichnet ist. Landstorfer gibt auch Hinweise zur zeitlichen Einordnung: Der von Mühlhiasl prophezeite große Krieg sei mit Gewissheit der soeben zu Ende gegangene Erste Weltkrieg. Er lässt so keinen Zweifel daran, dass seine Gegenwart, die frühen 1920er Jahre, die Zeit ist, in der das Bankabräumen unmittelbar bevorsteht.

Welche Einwände lassen sich gegen die Authentizität der Prophezeiung, das heißt gegen ihre Zuschreibung an eine historische Figur mit dem Übernamen „Mühlhiasl“ und ihre Entstehung in der Zeit um 1800 erheben? Wir folgen hier den Forschungen des Volkskundlers Reinhard Haller, der eine der wenigen seriösen Publikationen zu dem Phänomen vorgelegt hat. Zuerst ist das Fehlen jeglicher Parallelüberlieferung zu Landstorfer zu nennen. Wenn die Prophezeiung des Mühlhiasl im nördlichen Niederbayern zu Zeiten der Verschriftlichung durch Landstorfer tatsächlich bereits seit einem Jahrhundert von Mund zu Mund schwirrt – wie dieser behauptet –, dann müsste sie in Verbindung mit ihrem Urheber vor 1923 literarischen Niederschlag gefunden haben. Dies umso mehr, da das 19. Jahrhundert in Bayern die große Zeit der Volkskunde ist. Doch bei keinem der bayerischen Volkskundler, Sprach-, Heimat- und Brauchtumsforscher dieser Zeit, etwa bei Johann Andreas Schmeller (1785 bis 1852), dem Begründer des Bayerischen Wörterbuchs, oder bei Josef Schlicht (1831 bis 1917), der sich mit Vorliebe der Erforschung des ländlichen Raums und des bäuerlichen Lebens widmete, finden sich Hinweise auf den Mühlhiasl und seine Prophezeiung. Es ist Anton Landstorfer, der den Namen 1923 erstmals aus der Sphäre der mündlichen Überlieferung hebt und zu Papier bringt – seine Aufzeichnungen sind die älteste Quelle.

Ein zweiter gewichtiger Einwand betrifft die vergebliche Suche nach einer historischen Figur, die zur Mühlhiasl-Überlieferung passt. Als Landstorfer sich Anfang der 1920er Jahre über die Kirchenbücher beugte, um die Sagengestalt mit einer konkreten historischen Person zu unterfüttern, ging er nicht sehr differenziert vor: Nachdem sich in Apoig bei Windberg ein Müller mit halbwegs passendem Vornamen in der fraglichen Zeit gefunden hatte, erklärte Landstorfer diesen kurzerhand zum „Mühlhiasl“ – eine Verbindung, die von den passionierten, aber nicht besonders kritischen Mühlhiasl-Exegeten in den letzten 100 Jahren nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wurde. Das ist wenig verwunderlich, denn Alternativen, den angeblichen Propheten als historische Person dingfest zu machen, gibt es nicht. Doch wenn es nicht als erwiesen gilt, dass die Prophezeiung von einer historisch festzumachenden Figur aus dem 18. Jahrhundert stammt, verliert sie ihre Glaubwürdigkeit. Aber die Details von Matthäus Langs Lebensumständen passen bei näherer Betrachtung keineswegs zur Mühlhiasl-Legende. Der historische Müller und Gärtler Matthäus Lang (1753 bis 1805) war eine recht unspektakuläre Figur. In keiner der überlieferten historischen Quellen zu seinem Leben findet sich ein Hinweis darauf, dass er Prophezeiungen irgendwelcher Art ausgesprochen hat.

Kein Wunder, denn die Prophetenfigur hat vermutlich nie existiert. Ihre angeblichen Prophezeiungen sind zudem weder originell noch typisch bayrisch. Vielmehr weisen sie – angereichert um regionale Bezüge – formal wie inhaltlich starke Übereinstimmungen mit ähnlichen Prophezeiungen aus anderen Teilen Deutschlands auf. Reinhard Haller nennt etwa die Voraussagen des Klosterboten und Geigenspielers Johann Bernhard Rembold (genannt „Spielbernd“) und des Knechts Johann Peter Knopp, die beide aus dem Rheinland stammen, oder die „Geißen-Käther“ genannte Bettlerin Katharina Leistnerin aus Gutach im Schwarzwald. Alle „Propheten“ befassen sich mit ähnlichen Themen, sehen ähnliche Dinge vorher (etwa Automobile, Eisenbahn, kriegerische Ereignisse) und üben vergleichbare Kritik an den Sitten der Zeit.

Die Mühlhiasl-Prophezeiung hat ihren ältesten Traditionsstrang in den sybillinischen Weissagungen, die bis auf die griechisch-römische Antike zurückgehen, im Laufe der Zeit aber viele Wandlungen erfahren haben. Seit dem Mittelalter werden die antiken Traditionen durch Weissagungen angereichert, die spezifisch christliche Motive aufweisen: Hauptmotiv ist jetzt das Ende der Welt und die Zeichen, die den Anbruch dieser neuen Zeit andeuten. Weite Verbreitung finden diese Prophezeiungen seit der Erfindung des Buchdrucks vor allem in den sogenannten Volksbüchern. Hierbei handelt es sich um eine frühe Form populärer, nicht wissenschaftlicher Literatur, in der sich allerhand vermischt, was dem Interesse der zwar lesekundigen, aber nicht zur Elite gehörigen Schichten entgegenkommt: Abenteuergeschichten, Schwänke, Religiöses und Phantastisches. Volksbücher mit christlich umgeformten sybillinischen Prophezeiungen finden sich bis in das frühe 20. Jahrhundert. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts entstehen ausgehend von den sybillinischen Weissagungen immer wieder neue, variierte, angepasste und ergänzte Prophezeiungen. Ihre Besonderheit liegt darin, dass sie lokalisiert werden, sie sind nicht mehr allgemein gehalten, sondern die apokalyptischen Zeichen sind mit bestimmten Orten oder Regionen verknüpft. Manchmal handelt es sich bei den Urhebern um tatsächlich historisch nachweisbare Personen, denen die Gabe der Prophetie zugeschrieben wird, oftmals verschwinden sie aber unkenntlich im Nebel der Geschichte.

Häufig hört man bei Kritik gegen die Mühlhiasl-Prophezeiungen den Einwand, diese seien doch bis auf das finale Bankabräumen alle eingetroffen. Dabei ist die entscheidende Frage nicht die, ob sie eingetroffen sind, sondern wann sie abgefasst wurden. In der Fachwissenschaft bezeichnet man eine Prophezeiung, die erst dann festzumachen ist, wenn die prophezeiten Ereignisse bereits in der Vergangenheit liegen, als vaticinum ex eventu, als „Weissagung vom Ereignis her“. Es ist eine altbekannte Strategie zur Steigerung der Glaubwürdigkeit, zu behaupten, eine Prophezeiung sei sehr alt. So alt, dass der Prophezeiende von den oft verklausuliert vorhergesagten Ereignissen keinesfalls schon habe wissen können. Er muss sie vielmehr auf übernatürliche Weise vorhergesehen haben. Tatsächlich geben die in der Prophezeiung beschriebenen Phänomene und Ereignisse jedoch fast immer einen guten Datierungshinweis im Hinblick auf den Zeitraum ihrer Abfassung.

Das wird auch bei den Mühlhiasl-Prophezeiungen deutlich, die überwiegend Phänomene beschreiben, die um die Wende zum 20. Jahrhundert Realität werden. Was in der Zeit um 1800 noch wie eine Verrücktheit klingen mochte, ist nun real geworden und musste einem zeitgenössischen Leser daher ganz schlüssig erscheinen, etwa dass Wagen „ohne Roß und Deichsel“ fahren und Leute durch die Luft fliegen. Auch Geld wird nun „gemacht, so viel, dass mans gar nimmer kennen kann“ – Ende 1921, kurz bevor Landstorfer die Prophezeiungen niederzuschreiben beginnt, hat die Mark infolge der kriegsbedingten Inflation nur noch ein Hundertstel ihres Vorkriegswerts. Und kommt es nicht im revolutionären Russland, in dem seit 1917 ein Bürgerkrieg tobt, gerade in dieser Zeit zu fürchterlichen Klassenkämpfen, zu Terror und Pogromen durch die „Roten“? Der aufmerksame Zeitgenosse, der diese Prophezeiung las, konnte mit Fug und Recht behaupten, dass es nicht mehr lang war bis zum Bankabräumen.

Der französische Religionshistoriker Georges Minois hat sich intensiv mit Prophezeiungen aller Art auseinandergesetzt. Ihm verdanken wir die Einsicht, dass uns diese nichts über die Zukunft mitteilen, sondern über die Zeit, in der sie entstanden sind. Prophezeiungen sind ein Spiegel der jeweiligen Kultur, in der sie geäußert werden. Betrachtet man die Sache näher, ist die Prophezeiung des Mühlhiasl dann auch kein Spiegel der niederbayerischen Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts – der Zeit, in der sie angeblich erstmals ausgesprochen worden sein soll –, sehr wohl aber ein Spiegel der Zeit ihrer erstmaligen Niederschrift im beginnenden 20. Jahrhundert. Der Erste Weltkrieg brachte einen enormen Aufschwung von Prophezeiungen dieser Art, oft in regionalen Ausprägungen. Sie erstreckten sich überwiegend auf die nähere Zukunft und nicht so sehr auf ein allzu fernes Ende der Welt. Was wir in der Mühlhiasl-Prophezeiung finden, ist ein Panoptikum des Kulturpessimismus. Sie bewertet das Verhalten bestimmter Bevölkerungskreise höchst kritisch: ihre religiöse Praxis, ihre Kleidungssitten, ihre Ernährungsgewohnheiten, ihr Freizeitverhalten, sie prangert Luxus und Genusssucht an, aber sie steht auch den wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen der Epoche ablehnend gegenüber.

Viele Zeitgenossen hatten angesichts der gewaltigen Umwälzungen in dieser Zeit das Gefühl, dass die Endzeit bereits angebrochen war. Der (verlorene) Erste Weltkrieg und die auf ihn folgenden gesellschaftlichen Veränderungen, das Ende der Monarchien, der Anbruch des Zeitalters der Massen, die langanhaltende wirtschaftliche Krise, zugleich aber auch die Entstehung neuer, revolutionär und für viele verstörend anmutender künstlerischer Ausdrucksformen, etwa in Musik, Literatur, Mode, Tanz, Theater, Architektur, verstärkten den Zukunftspessimismus. Der Gedanke des Fortschritts, der im 19. Jahrhundert ausgehend von den enormen Errungenschaften auf dem Gebiet der Naturwissenschaft und Technik noch die Ideenwelt der Menschen dominiert hatte, trat nun in den Hintergrund. Erschien die Zukunft vormals rosig, färbte sie sich nun schwarz. Vor allem die Konservativen befürchteten eine Zukunft, die von Mittelmäßigkeit, Dekadenz und Verfall der überkommenen Werte und Sitten geprägt sein würde.

In dieser Welt voller Pessimismus und Endzeitgedanken setzt sich Pfarrer Johann Landstorfer 1922/23 an seinen Schreibtisch. Er ist konservativ gesinnt, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg musste er bereits heftige Gefechte mit dem in Niederbayern besonders starken, liberalen und antiklerikal gesinnten Bauernbund austragen. Es ist auch in Bayern eine unruhige Zeit. Der Sturz des Königs, der Verlust der bayerischen Reservatrechte (eigene Post, eigene Bahn, eigenes Militär) durch die Weimarer Reichsverfassung und zwei kurz aufeinanderfolgende Räterevolutionen liegen bereits hinter dem Land. Der Ruf nach Ordnung wird immer lauter, der Freistaat wird zur konservativ-reaktionären „Ordnungszelle“, bis zu Hitlers Putsch am 8./9. November 1923 sind es nur noch wenige Monate. Auch wirtschaftlich ist es äußerst schwierig. Die Geldentwertung schreitet voran, die Staatsschulden steigen. Die Menschen im Bayerischen Wald – Bayerns Armenhaus – sind von der wirtschaftlichen Not besonders betroffen. Diese Krisenzeit findet ihren Niederschlag in Landstorfers Niederschrift der dem Mühlhiasl zugeschriebenen düsteren Prophezeiung.

Letztendlich ist die Prophezeiung aber auch Ausdruck einer Grundkonstante der Geschichte: Die Zukunft ist ungewiss, und je unruhiger die Zeiten sind, desto unsicherer und ängstlicher stehen die Menschen der Zukunft gegenüber. Deutungen sind gefragt. Das ist heute nicht anders als vor 100 Jahren. Prophezeiungen sind ein Weckruf, eine Warnung und ein Aufruf zur Besinnung und zur Umkehr. In diesem Weckruf ist eine überdeutliche Kritik an den Zeitverhältnissen enthalten. Kulturpessimistische Zeitdeutungen fallen bis heute auf einen fruchtbaren Boden. Sie werden von vielen geteilt, die wie seinerzeit Pfarrer Landstorfer der Ansicht sind, dass das alles nicht gut gehen kann, selbst wenn die Mühlhiasl-Prophezeiung mit dem legendären Satz „Kein Mensch wills glauben“ schließt.

Das liegt auch an der unmittelbaren Zugänglichkeit. Wenngleich anderes gern behauptet wird, so sind die Zeichen des herannahenden Umbruchs bei Mühlhiasl eben nicht voller Rätsel und Symbolik, sondern ziemlich banal. Damit stehen sie aber – anders als eine hochkomplexe Schrift wie die Offenbarung des Johannes – nicht nur Theologen offen, sondern sind weitgehend für jedermann verständlich und einleuchtend. Dies erklärt ihren Erfolg. Dass dieser bis in die Gegenwart andauert, dürfte nicht zuletzt darin begründet sein, dass es sich eben nicht um eine Apokalypse im engeren Sinne des Wortes handelt, sondern um eine Kollaps-Erzählung.

Denn im christlichen Verständnis bedeutet die Apokalypse das Ende der Zeiten. Die Geschichte im herkömmlichen Sinne endet. An ihrem Ende steht das Strafgericht Gottes, der Jüngste Tag bricht an und die Toten werden auferstehen. Diese christliche Idee der Apokalypse, wie sie im Buch der Offenbarung niedergeschrieben ist, erscheint bei Mühlhiasl jedoch in seltsam säkularisierter Form. Vom Eingreifen des Schöpfergottes in die Weltgeschichte ist dort nicht die Rede, sofern man ihn nicht mit dem „Bänkeraramer“ gleichsetzt. Auch treten keine übernatürlichen Zeichen in Erscheinung, wie sie sich im Buch der Offenbarung etwa in Form der apokalyptischen Reiter zuhauf finden. Und die Welt endet nicht. Aber die Menschen werden weniger, das Leben kehrt gewissermaßen wieder zu einer Art von Ursprünglichkeit zurück, es kommt eine „schöne Zeit“ – wie es bei Mühlhiasl heißt –, eine Zeit, in der die von vielen damals wie heute als unsäglich empfundenen Zumutungen der Gegenwart verschwunden sind, in der die Welt wieder geradegerückt wird, die sich unseren Handlungsmöglichkeiten längst entzogen zu haben scheint, eine Welt, in der wieder vieles so sein wird, wie es früher einmal war, in der vermeintlich guten alten Zeit. Ist dies nicht eine Hoffnung, die viele Menschen eint?

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