Thomas Mann war ein begnadeter Vorleser. Zeit seines Lebens trug er Auszüge aus eigenen Werken vor, sei es im kleinen Kreis, sei es vor einem größeren Auditorium. Aufmerksamkeit war ihm stets gewiss. Ironischer Witz lag ihm besonders, sein Tagebuch verzeichnet „Heiterkeit“, auch „Ergriffenheit“ beim Publikum. Mühelos bewältigte er seine berühmten verschachtelten Sätze. „Der große und bewunderte Mann sprach in der Tat genauso, wie er schrieb“ erinnerte sich der Schweizer Autor Georges Motschan. Und bezeichnenderweise geht auch der Erzähler in Joseph und seine Brüder an einer entscheidenden Stelle auf die „gespannte Erwartung seines Hörerkreises“, nicht etwa des Leserkreises ein.
Passend zu diesem inneren Drang zum Gehört-Werden hat Der Audio Verlag die fünf großen Romane Buddenbrooks, Der Zauberberg, Joseph und seine Brüder, Lotte in Weimar und Doktor Faustus in einer Jubiläumsausgabe herausgebracht (teilweise leider gekürzt). Der NDR hatte die Hörbücher vor rund sechzig Jahren mit dem herausragenden Sprecher Gert Westphal aufgenommen. Seine Lesungen sind geprägt von unübertroffenem Textverständnis sowie einer wohlklingenden und wandlungsfähigen Vortragsweise.
Das zahlreiche Personal des wunderschön epischen Joseph-Romans wird durch Westphals stimmliche Gestaltung plastisch charakterisiert: der sorgende Vater Jakob, der bodenständige Bruder Ruben, die ägyptischen Zwerge Dudu und Gottliebchen, der „zwecklose“ Höfling Potiphar samt den greisen Eltern Huij und Tuij, Joseph selbst, ein liebenswürdiger, sorgloser Jüngling, und schließlich der rätselhafte „Mann auf dem Felde“, eine unerkannte Engelsgestalt, die leicht mürrisch über den Willen Gottes wacht, nach welchem Joseph aus dem lebensverändernden Brunnen herausgeholt und nach Ägypten geführt wird.
Im aufziehenden Nationalsozialismus kam es einem literarischen Akt des Widerstands gleich, wenn ein Schriftsteller sich daran machte, den Gott Israels und seine Gesegneten Jakob und Joseph mit literarischer, geistiger und die Humanität beschwörender Liebe auszuarbeiten. Mann bekam viele begeisterte Zuschriften für das Buch, auch aus anderen Ländern.
Neben der Lichtgestalt Joseph, die er gleichwohl liebevoll tadelnd betrachtet, wendet sich der Autor mit Empathie den Frauengestalten zu: Rahel, der sanften Mutter Josephs, und Mut-em-Enet, besser bekannt als „Potiphars Weib“. Aus der klischeehaften Figur der Verführerin wird eine gegen ihren Willen verzweifelt Liebende, die eher Mitgefühl verdient als Verachtung. Die Schilderung von Rahels Tod gehört zu dem Ergreifendsten der gesamten Erzählung. In seinem Tagebuch notiert Thomas Mann, dass er beim Wiederlesen von Rahels Tod zu Tränen gerührt gewesen sei, und begründet die literarische Anlage der Figur aus dem Verhältnis zu seiner Frau Katia: „Nicht umsonst liebt auch sie die Geschichte Jakobs und Rebekkas so sehr. Sie erkennt sie als die idealisierte, mythische Darstellung unserer Lebensgemeinschaft.“
Noch vor Abschluss der Joseph-Tetralogie verwirklichte Mann mit Lotte in Weimar (1939) sein Herzensanliegen, Goethe in einem geistreich-hintergründigen Spiel literarisch zu ehren. Im Roman lässt er historische Personen im Weimar des Jahres 1816 aufeinandertreffen, die den berühmten Dichter und Geheimrat umschwirren wie Motten das Licht. Charlotte, die vierzig Jahre zuvor die „Leiden des jungen Werther“ ausgelöst hatte, möchte dem Dichterfürsten noch einmal gegenübertreten, der ihr als Jungspund einen Kuss geraubt und sie danach literarisch verewigt hatte. Bei einer Einladung in Goethes Haus am Frauenplan bemerkt sie erstaunt: „Die Stimme … war völlig die alte geblieben, der klangvolle Bariton, in dem schon der schmale Jüngling gesprochen und vorgelesen; – es war sehr wunderlich, ihn aus der Altersgestalt wieder ertönen zu hören.“
Gert Westphal schenkt jeder Figur ihren eigenen Charakter: der nachdenklichen Charlotte, der intelligenten Mademoiselle Schopenhauer, dem vorwitzig-devoten Kellner Mager, der widerspruchsvollen Persönlichkeit Goethes selbst. Die Neuauflage dieser meisterhaften Lesungen lädt ein, die Kunst des Jubilars Thomas Mann hörend neu zu entdecken.