ReliquienkultLeichen auf Abwegen

Angesichts fragwürdiger Reliquien-Tourneen pocht unser Autor auf theologische Vergegenwärtigung.

Leichenwagen lösen bei mir Beklommenheit aus. Unwillkürlich schlage ich das Kreuzzeichen im Wissen darum, dass die oder der Verstorbene bald zur letzten Ruhe gebettet wird. Dieser letzte Weg gehört unabdingbar zum Werden und Vergehen des Lebens. In gläubigem Vertrauen wissen wir sein Ziel in Gottes vergängnislosem Sein.

Irritieren müssen demgegenüber kirchenamtlich organisierte Leichenfahrten – so derzeit in der Erzdiözese Freiburg, meinem Heimatbistum. Dort sind derzeit die sterblichen Überreste der heiligen Bernadette Soubirous auf Tournee. Sie gastieren an mehreren Hotspots klassischer Frömmigkeit, zu denen programmatisch etwa auch das Freiburger Münster zählt. Mit einem Hit von Herbert Grönemeyer bin ich mehr als versucht zu fragen: „Was soll das?“

Zur Einordnung: Bernadette Soubirous (1844–1879), 1933 von Pius XI. heiliggesprochen, gilt als Seherin der Erscheinungen der „Unbefleckten Empfängnis“ in Lourdes. Im nachrevolutionären Frankreich formierte sich seinerzeit ein stramm ultramontaner, auf Rom ausgerichteter Katholizismus. Mit einem als antimodern zu bewertenden Manöver proklamierte Pius IX. 1854 das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens: Die Gottesmutter sei ohne Erbsünde empfangen worden. Bemerkenswert ist, dass Pius IX. und seinen Ghostwritern durchaus bewusst war, dass sich diese päpstliche Entscheidung nicht auf den Konsens der theologischen Tradition stützen konnte. Um sie dennoch zu legitimieren, entschied man sich, die damalige Glaubenslage zu erfragen. Wenig überraschend erfolgte das weltweite Placet – wen der Papst suggestiv fragt, der widerspricht nicht. Die „Unbefleckte Empfängnis“ verbreitete sich, fleißig von allen Kanzeln gepredigt, offensichtlich bis in die Pyrenäen zur Müllerstochter Bernadette. Damit sollte genug über die Ermöglichung des „Wunders von Lourdes“ gesagt sein – ohne damit in Abrede zu stellen, dass sich an dem Ort eine trostreiche Leidenssolidarität unter Kranken ereignen mag.

Gleichwohl ist es für den aufgeklärten und gegenwartssensiblen Geist angesichts zahlloser drängender Fragen in Kirche und Welt allemal verstörend, dass im Jahr 2023 nicht nur eine Leiche auf Reisen geht, sondern dadurch auch eine fragwürdige Wundersucht befeuert wird. Stattdessen gilt es, die Probleme der Kirche eigenständig in die Hand zu nehmen! Der Befleckung der kirchlichen Wirklichkeit ist nicht durch einen Rückgriff auf Strategien des 19. Jahrhunderts beizukommen. Es braucht eine gegenwartskompatible Theologie und Gläubigkeit – deren Gradmesser dürfte bei einer neuerlichen Umfrage (ohne päpstliche Vorentscheidung) zwar breit gefächert, aber dennoch richtungsweisend sein: Die gewaltsame Aufspaltung zwischen unserer (herausfordernd komplexen) Lebenswelt und der amtskirchlich verordneten (unterkomplexen) Weltanschauung muss um Gottes willen ein Ende finden. Ansonsten kann man uns zu Recht nicht länger ernst nehmen.

Inzwischen empört sich die Öffentlichkeit weitgehend nicht einmal mehr über die Kirche. Sie ist ihr schlicht egal. Gott sei Dank, möchte ich in Bezug auf die Leichentour sagen. Aber auch: Gott sei’s geklagt! Denn so steht „Gott“ in Gefahr, von Fundamentalisten gefährlich verdummt und weltweit von parareligiösen Populisten vor den Karren gespannt zu werden. Dagegen wird kein Wunder helfen, sondern allein die Selbstaufklärung!

Anzeige: In der Tiefe der Wüste. Perspektiven für Gottes Volk heute. Von Michael Gerber

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