Gefährliche Regierungskoalition

Der Lateinische Patriarch von Jerusalem sieht in der israelischen Regierungskoalition eine Gefahr für das Zusammenleben in Israel/Palästina. Die Fragen stellte Hilde Naurath.

Blick auf Jerusalem
© Pixabay

Was sind die größten Herausforderungen unter der Regierung von Benjamin Netanjahu?

Pierbattista Pizzaballa: Netanjahu selbst ist als Premierminister in Israel keine Schlagzeile wert, die aktuelle Regierungskoalition dagegen schon. Als katholische Bischöfe haben wir bereits Stellung bezogen, als die Regierung gerade erst gebildet wurde: „Wir möchten unsere Besorgnis äußern über den politischen Kontext, in dem diese Regierung gebildet wird, und über die allmähliche Verschlechterung der allgemeinen sozialen und politischen Situation im Heiligen Land. Einige Äußerungen von Mitgliedern der Regierungskoalition sind höchst ambivalent gegenüber der arabischen oder insgesamt nichtjüdischen Gesellschaft. Sie widersprechen dem Geist eines friedlichen und konstruktiven Zusammenlebens der verschiedenen Gemeinschaften, die unsere Gesellschaft bilden. Solche Aussagen begünstigen diejenigen in diesem Land, die eine Spaltung herbeiführen wollen. Sie schaffen Misstrauen und Ressentiments. Sie legen den Grundstein für weitere Gewalt.“ Eine weitere Herausforderung ist der altbekannte israelisch-palästinensische Konflikt. Auch wenn kaum noch jemand darüber spricht, brennt die Wunde und muss versorgt werden. Sie nicht weiter zu beachten führt ebenfalls zu Gewalt, wie wir in diesen Tagen wieder sehen. Wir Bischöfe haben in der Stellungnahme hinzugefügt: „Gewalt ist die Konsequenz eines tiefen Misstrauens und vielleicht sogar Hasses, der sich einwurzelt in den Herzen der beiden Bevölkerungsgruppen, Israelis und Palästinenser. Es ist die Verantwortung eines jeden, vor allem der religiösen und politischen Führer aller Konfessionen, gegenseitigen Respekt zu fördern und nicht Trennung oder gar Hass.“

Welchen Bedrohungen sind Christen ausgesetzt?

Pizzaballa: Christen stellen kein separates Volk dar. Sie leben unter den gleichen Bedrohungen wie alle anderen auch. Kürzlich mussten wir einige Übergriffe von israelischen Siedlern auf christliche Symbole und heilige Stätten verzeichnen, auf Friedhöfe, Kirchen, und auf Geistliche. In den letzten Wochen verzeichneten wir eine Serie an Übergriffen. Einige Touristen wurden von einer Gruppe israelischer Siedler angegriffen. Die Siedler drangen über das Neue Tor in das christliche Viertel Jerusalems ein und verwandelten es in ein Schlachtfeld. Ein christlicher Friedhof in Jerusalem wurde verwüstet. Graffiti wie „Tod den Christen“ auf den Mauern eines Klosters im armenischen Viertel werden schon fast zur Gewohnheit. Ein maronitisches Zentrum in Nordisrael wurde ebenfalls verwüstet. Leider ist all das nicht neu. Manchmal spüren wir Spannungen mit muslimischen Gruppen. Aber ich muss betonen, dass es mit der Mehrheit der Bevölkerung, muslimisch oder jüdisch, keine ernsthaften Schwierigkeiten gibt. Unsere Sorge gilt der Zunahme gewaltbereiter, radikaler religiöser Gruppen, die christliche Einrichtungen ins Visier nehmen.

Arbeiten die christlichen Konfessionen zusammen gegen die Angriffe auf die Demokratie – und wer sind weitere Bündnispartner?

Pizzaballa: Wie gesagt: Die Christen sind kein separates Volk. Sie sind Teil der Gruppen, Bewegungen und Vereinigungen, in denen sie arbeiten: Anwaltskanzleien, Krankenhäuser, Universitäten. Es ist wichtig, dass Christen teilnehmen am allgemeinen Widerstand, nicht als isolierte Gruppe, sondern als Teil ihrer eigenen Gesellschaft. In einem Kontext, in dem es als normal angesehen wird, Barrieren aufzurichten, physische und mentale, sollte es unsere Priorität sein, uns für Inklusion, Teilhabe und Offenheit einzusetzen.

Inwiefern werden langfristige Herausforderungen vernachlässigt, wie Wasserknappheit, Umweltschutz, Bevölkerungswachstum oder die Bedrohungen durch den Iran, die Hisbollah, Russland, Syrien?

Pizzaballa: Jeder hier ist so gefangen in der alltäglichen Mühsal, dass es sehr wenig Aufmerksamkeit für andere wichtige Themen gibt – und das ist sicherlich falsch. Der Konflikt absorbiert alle Energien und lässt kaum mentale Kapazitäten übrig für die langfristigen Angelegenheiten. Wenn es große Krisen gibt, dann engagieren wir uns natürlich, wie gerade bei dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien. Aber nach ein paar Tagen lassen uns die alltäglichen Auseinandersetzungen wieder zurück in unsere „Normalität“ kehren.

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