Stefan George huldigt Leo XIII.Zur lyrischen Vision eines «schön erfüllten daseins»

Der Dichter Stefan George erlebt 1898 Papst Leo XIII., wie er auf dem Petersplatz den apostolischen Segen erteilte. Ästhetische und moralische Weltordnungen scheinen in einem Augenblick zur Deckung zu kommen.

Leo XIII.
© gemeinfrei
Leo XIII.

Heut da sich schranzen auf den thronen brüsten
Mit wechslermienen und unedlem klirren:
Dreht unser Geist begierig nach verehrung
Und schauernd vor der wahren majestät
Zum ernsten väterlichen angesicht
Des Dreigekrönten wirklichen Gesalbten
Der hundertjährig von der ewigen burg
Hinabsieht: schatten schön erfüllten daseins.

Nach seinem Sorgenwerk für alle welten
Freut ihn sein rebengarten: freundlich greifen
In volle trauben seine weissen hände ·
Sein mahl ist brot und wein und leichte malve
Und seine schlummerlosen nächte füllt
Kein Wahn der ehrsucht · denn er sinnt auf hymnen
An die holdselige Frau · der schöpfung wonne ·
Und an ihr strahlendes allmächtiges kind.

›Komm heiliger Knabe! hilf der welt die birst
Dass sie nicht elend falle! einziger retter!
In deinem schutze blühe mildre zeit
Die rein aus diesen freveln sich erhebe . .
Es kehre lang erwünschter friede heim
Und brüderliche bande schlinge liebe!‹
So singt der dichter und der seher weiss:
Das neue heil kommt nur aus neuer liebe.

Wenn angetan mit allen würdezeichen
Getragen mit dem baldachin – ein vorbild
Erhabnen prunks und göttlicher verwaltung –
Er eingehüllt von weihrauch und von lichtern
Dem ganzen erdball seinen segen spendet:
So sinken wir als gläubige zu boden
Verschmolzen mit der tausendköpfigen menge
Die schön wird wenn das wunder sie ergreift. 

Am 12. Juli 2018 jährt sich zum 150. Mal der Geburtstag des Dichters Stefan George, geboren in Büdesheim bei Bingen. In vielen seiner Gedichte verarbeitete er, was die Mentalität seiner rheinischen Heimat prägte, die Gegenwart altrömischer wie auch katholischer Denkmäler und Erinnerungen. Wir blicken anlässlich des Jubiläums auf Georges Zyklus der «Zeitgedichte» (entstanden 1897 bis 1904), eingereiht in die Lyriksammlung Der siebente Ring (1907). In Gedichten unter anderem auf bekannte historische Personen, geschrieben in achtzeiligen reimlosen Strophen mit fünfhebigen, keinesfalls immer regelgerecht alternierenden Jamben wird hier mit zeitkritischen Reflexionen der Bogen von Dante über Goethe bis hin zu Nietzsche geschlagen. Direkt vor einem Gedicht auf die «Gräber in Speier» steht mit dem lapidaren Titel Leo XIII. das hier abgedruckte Versgebilde auf den altgewordenen Papst (1810–1903), den George 1898 auf dem Petersplatz bei der Erteilung des apostolischen Segens erlebte.1

Die letzte Strophe zeigt den Papst mit seinen Würdezeichen, den deutschen Dichter aber, wie er überwältigt zu Boden sinkt, inmitten einer Menge: «Die schön wird wenn das wunder sie ergreift.» Ästhetische und moralische Weltordnungen scheinen in einem Augenblick zur Deckung zu kommen. Anders die ersten Verse. George kontrastiert der väterlichen «majestät» Leos XIII. eine Gegenwart, «da sich schranzen auf den thronen brüsten / Mit Wechslermienen und ununedlem klirren», was gewiss auch auf Kaiser Wilhelm II. bezogen werden konnte, auf jeden Fall gegen die Mischung von Geldsackgesinnung und großspurigem Rittergehabe protestiert. Georges «Geist», so lesen wir, war «begierig nach verehrung», kannte in Leo den Kirchenfürsten in Personalunion mit dem fruchtbaren, allerdings lateinischen Dichter, der außer den von George benannten «hymnen / An die holdselige Frau», die Gottesmutter Maria, auch mancherlei zeitkritische Gedichte schrieb und angeblich seinen Vergil und Horaz im Kopf hatte. In der zweiten Strophe erscheint der Papst neben seinem «sorgenwerk für alle welten» als ein auch an die Mosel versetzbarer Hobbywinzer. George kombiniert die eucharistischen Substanzen von «brot und wein» mit der «leichten malve»: ein wörtliches Horazzitat nach dem Apollogedicht carm. 1,31,15f: «me pascunt olivae, me chichorea levesque malves».

Indem George auf Leos Horazverehrung anspielt, bereitet er die Tatsache vor, dass er in der dritten Strophe wörtlich in eigener Übersetzung aus einer vorweihnachtlichen Christuselegie Leos (In praeludio natalis Iesu Christi Domini nostri) einige Verse übernahm. George besaß ein in Italien erschienenes Bändchen (gekauft 1903) mit lateinischen Gedichten Leos und kannte gerade dieses späte Gedicht auch in einem Zeitungsausschnitt von 1901. So lesen wir bei George in seiner deutschen Version (V. 17-20, daktylisch aufgelockerte Jamben) Leos Verse V. 13-16, der hier ausdrücklich als poeta vates, als «dichter» und «seher» bezeichnet wird:

Adsis, sancte puer, saeclo succurre ruenti,
Ne pereat misere; tu Deus una salus.
Auspice te terris florescat mitior aetas,
Emersas e tantis integra flagitiis

Auch V. 22 («Und brüderliche bande schlinge liebe») stammt wörtlich aus Leos Schlussdistichon (V. 24): «Pectora fraterno foedere iungat amor.»

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen