Evangelischer KirchentagRisiken einer politisierten Religion

Ein Prediger beim Evangelischen Kirchentag in Nürnberg vereinnahmt die Gläubigen für die "Letzte Generation". Beim Eröffnungsgottesdienst wird die Ewigkeit im Hier und Jetzt beschworen und von zu viel Gebet abgeraten. Die Kirche will nicht mehr aufs Jenseits vertrösten. Das ist nicht ohne Gefahren.

Benjamin Leven, Redakteur der Herder Korrespondenz
Benjamin Leven, ehemaliger Redakteur der Herder Korrespondenz

Ausschnitte aus der Predigt beim Abschlussgottesdienst des Deutschen Evangelischen Kirchentages in Nürnberg machten in den letzten Tagen in den Sozialen Medien die Runde und sorgten für Spott und Kritik. Die Verantwortlichen beklagen inzwischen den „Hass“ und die „persönlichen Angriffe“ gegen den Prediger, den evangelischen Pfarrer Quinton Ceasar, der sich selbst als „Aktivist“ bezeichnet. Sie betonen aber auch, „Austausch und selbst produktiver Streit“ über die Predigt sei durchaus erwünscht. „Gott ist queer“ und „Wir sind alle die 'Letzte Generation“ hatte der Geistliche den Kirchentagsbesuchern unter anderem zugerufen.„Welt"-Chefredakteur Ulf Poschardt nahm das zum Anlass für die Feststellung, in der Predigt sei Gott „für jede Pointe einer grün-roten Subkultur“ instrumentalisiert worden. Die EKD sei „längst nicht mehr bunt“, sondern „grün“, nicht „divers“, sondern „entlang der Vorgaben eines Zehn-Prozent-Milieus gecastet“.

Ob die Zehntausende in der Nürnberger Altstadt alle mit den Zielen und vor allem den Methoden der Klima-Bewegung „Letzte Generation“ übereinstimmen? Der Applaus für Ceasars Worte war jedenfalls enorm. Andere haben sich über die Vereinnahmung geärgert. Kann man bezüglich des Klimawandels und des richtigen Umgangs damit als evangelischer Christ auch anderer Ansicht sein – oder ist die Identifikation von Protestantismus und grünen Anliegen inzwischen zwingend?

Es gab Zeiten, da war der Protestantismus in Deutschland stramm nationalistisch. „Du stehst am Amboss, Lutherheld, / umkeucht von Wutgebelfer, / und wir, Alldeutschland, dir gesellt, / sind deine Schmiedehelfer“, dichtete man zum Reformationsjubiläum 1917. Mit diesem Zeitgeist von Gestern will heute zurecht niemand mehr etwas zu tun haben. „Sei da, sag nein und steh nicht rum. Und bet dir nicht den Buckel krumm. Die Ewigkeit ist jetzt und hier. Spiel nicht auf Zeit, das rat ich Dir“, sang der Chor zu Beginn des Eröffnungsgottesdienstes. Wenn die „Ewigkeit jetzt und hier“ ist, dann muss sich die Religion zwangläufig ins Tagespolitische transponieren. Als Reaktion auf den marxistischen Vorwurf der Jenseitsvertröstung predigen Kirchenleute seit vielen Jahrzehnten gerne über das Diesseits – und laufen dabei Gefahr, überhaupt nichts spezifisch Christliches mehr zu sagen. Anstatt der Welt den Glauben zu erklären, erklären sie den Gläubigen die Welt.

Die Tendenz zur präsentischen Eschatologie, die auch im Motto des Kirchentages „Jetzt ist die Zeit“ zum Ausdruck kommt, birgt das Risiko einer Politisierung der Verkündigung. In einer politisch pluralen Gesellschaft ist das Resultat zwangläufig partikulär: Man ordnet sich einem bestimmten politischen Milieu zu. Die theologische Vorstellung, dass die Ewigkeit, das Reich Gottes, im Hier und Jetzt Wirklichkeit werden muss, ist in hohem Maße missbrauchsanfällig. Entweder, weil religiöse Botschaften politisiert und damit banalisiert werden. Oder, weil Leute die Sache wirklich ernst nehmen – und sich daran machen, den Himmel auf Erden zu schaffen. Das ist bisher nie gut ausgegangen, wie die Geschichte von sozialutopischen Experimenten, aber auch von Sekten und Sondergemeinschafen wie der „Integrierten Gemeinde“ zeigt.

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