Der 7. Oktober, der jüdisch-christliche Dialog und die KirchenEine Theologie des Landes und der Diaspora

Der 7. Oktober 2023 bedeutet eine Zäsur: Die Massaker der Hamas rekontextualisieren die Beziehungen zwischen Judentum und Christentum. Dem müssen sich Christen auch theologisch stellen. Im jüdisch-christlichen Dialog kann eine Theologie des sozialen Raumes weiterhelfen, der sowohl die Palästinenser als auch Gottes Bundeshandeln berücksichtigt.

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Auch eine Binsenwahrheit muss zuweilen wiederholt werden: Die Bedeutung einer Sache wird durch ihren Kontext bestimmt. So kann das Wort „Preis“ entweder eine Auszeichnung bedeuten oder aber die Kosten für eine Sache. Auch die Bedeutung der jüdisch-christlichen Beziehung ist nicht in sich gegeben. Vielmehr wird sie durch den gesellschaftlichen Kontext konstituiert. Dieser Kontext ist einem starkem Wandel unterworfen. Das Massaker der Hamas und seine Folgen haben dies offensichtlich werden lassen und wirken als Katalysator. Wie muss der jüdisch-christliche Dialog rekontextualisiert werden?

Der jüdisch-christliche Dialog hat sich bekanntlich in den Siebziger- und Achtzigerjahren breiter entfaltet. Aufgerüttelt durch den Holocaust, stellten sich Gesellschaft und Kirche langsam ihrer Mitverantwortung. Aufarbeitung begann, eine Erinnerungskultur entwickelte sich, und über die Unvergleichbarkeit der Shoa wurde gestritten. Was sich in Europa über Jahrhunderte hinweg feindlich gegenüberstand, wurde mit einem Bindestrich verbunden: jüdisch-christlich. Die Rede vom Judentum als Wurzel des Christentums, das ohne das Judentum nicht leben könne, verbreitete sich. Der junge und idealisierte Staat Israel galt als Widergutmachung und Neuanfang.

Mit dem Ende des Kalten Krieges veränderte sich der gesellschaftliche Kontext. Die westliche liberale Gesellschaftsvorstellung eroberte die Welt. Es wurde vom clash of civilisations gesprochen. Der islamistische Terror im Westen verdeutlichte rasch, dass in einer postsäkularen Welt mit dem Islam als gesellschaftspolitischer Macht zu rechnen ist. Neue Konfliktlinien brachen auf. Der Nahe Osten wurde für Europa zur geografischen Schnittstelle gegenüber der globalen Welt. Der Krieg in Syrien, die „Flüchtlingswelle“ von 2015 sowie der Wandel der Türkei unter der Regierung Recep Tayyip Erdoğans sind sprechende Beispiele dafür. So befindet sich der Staat Israel dort, wo sich soziale, kulturelle und religiöse Konfliktlinien der globalisierten Welt kreuzen.

Zwei säkulare Narrative zu europäischer Schuld

Nun entstand auch ein neues postkoloniales Narrativ: Israel als europäische Invasion im Vorderen Orient. Die völkerrechtswidrige Besetzung der palästinensischen Gebiete gilt als aktueller Tatbeweis. Dass der Staat Israel zum Schutz vor Antisemitismus und zur jüdisch-politischen Selbstbestimmung errichtet wurde, tritt in den Hintergrund oder wird ganz verdrängt.

Aktuell kreuzen sich zwei Erinnerungskulturen, die die Schuld der europäischen Geschichte wiedergutmachen wollen, jene gegenüber den Juden und jene gegenüber fremden Kulturen. Sie liegen im Widerstreit. Beide säkularen Narrative können das jüdische Volk im Land der Bibel nur als Zufallsprodukt der Geschichte oder als Fremdkörper wahrnehmen.

Demgegenüber haben die Kirchen auf umsichtige und theologisch reflektierte Weise ihre Tradition in die Deutung des Nahostkonflikts einzubringen. Sie sind dem „Nie wieder“ des Antisemitismus verpflichtet. Das „Nie wieder“ nur stereotyp zu wiederholen, reicht angesichts der gewandelten Situation jedoch nicht aus. Zur Aufarbeitung der Shoa gesellt sich der neue Fokus, sich für Gerechtigkeit im Land der Bibel einzusetzen, in dem ein politisch erstarktes Judentum agiert. In einer Zeit, in der sich Christen mit ihrer Kolonialgeschichte auseinandersetzen müssen, ist es unumgänglich, dass sich der jüdisch-christliche Dialog auch mit den Palästinensern befasst. Dies umso mehr, als der säkulare Zionismus seit der Besetzung der palästinensischen Gebiete 1967 national-religiös unterfüttert worden ist.

Darüber hinaus gilt es, die Errungenschaften des jüdisch-christlichen Dialogs in den Globalen Süden zu vermitteln. Aus Afrika kommt postkoloniale Kritik. Dorthin verlagert sich zugleich der weltkirchliche Schwerpunkt. Die Bedeutung einer positiven Verbindung von Judentum und Christentum in Afrika, aber auch in Indien, Asien und im muslimisch geprägten Orient zu vermitteln, ist äußerst schwierig, da vor Ort kaum ein Kontakt mit einem lebendigen Judentum gegeben ist. Diese Schwierigkeit zeigt sich gegenwärtig auch in Bezug auf Papst Franziskus. Bei aller Äquidistanz, die er zu den Konfliktparteien in Nahost einnimmt, zeigt sich, dass er dem postkolonialen Narrativ nähersteht als der Erinnerungskultur der Post-Shoa. Er stammt aus dem Globalen Süden.

Angesichts des erneut virulenten Antisemitismus in Ost und West stellt sich weiter die Frage, ob die „jüdische Frage“ der europäischen Moderne auf globaler Ebene zurück ist. Ist Israel heute „der Jude“ unter den Staaten? Michal Govrin formulierte als säkulare Israelin: „Früher haben wir einen gelben Stern getragen, heute einen blauen.“ Sie spielte damit auf die israelische Flagge an. Die Nationalsozialisten strebten nicht nur die Endlösung der Judenfrage an. Sie versprachen auch, damit die „soziale Frage“ zu lösen, denn die Juden waren in ihren Augen an allem schuld. Geistert neu die Vorstellung herum, der Weltfriede sei leichter zu erreichen, wenn nur der Nahostkonflikt gelöst ist? Ist Antizionismus wie einst Antisemitismus zu einem „kulturellen Code“ (Shulamit Volken) geworden, der zu einer linksliberalen und postkolonialen Weltkultur einfach dazugehört?

Christlicher Antijudaismus ist in den Großkirchen weitgehend überwunden. Doch diese Kirchen müssen sich den tieferen Gründen von Judenhass stellen. Sie wissen um das Böse, das – aalglatt, verstellt und gebrochen – kaum zu fassen ist. Stellen Verschwörungstheorien über jüdische Weltherrschaft säkulare Zerrformen eines früheren Gottesglaubens dar? Mutiert die Frustration über eine zu komplexe, unerlöste Welt in Judenhass, weil das Judentum das messianische Bewusstsein und damit auch das Wissen um die Unerlöstheit geweckt hat?

Anthropologische und theologische Gründe gilt es neu zu ertasten. Unterscheidungen wie religiöser, ethnischer, linker, rechter Antisemitismus sind zu unterlaufen. Die Beziehung zum Judentum ist nicht ein Nebenthema, sondern betrifft alle Aspekte des Christseins. Befasst sich die Kirche nicht aktiv damit, droht auch sie wieder in Antijudaismus abzugleiten. Die „jüdische Frage“ ist durch den jüdisch-christlichen Dialog zu ersetzen.

Neben die Antisemitismusbekämpfung tritt die Auseinandersetzung mit dem Land der Bibel. Das Zweite Vatikanische Konzil klammerte Land und Staat Israel bewusst aus. Die Erklärung „Nostra aetate“ von 1965 handelt vom Judentum als Religion, nicht vom jüdischen Volk. Bei jüdisch-katholischen Gesprächen, insbesondere bei den Dialogtreffen des „International Liaison Committee“ 1971 bis 1973, wurden jüdisches Volk und Staat Israel jedoch thematisiert. Schließlich wurde jede theologische Deutung des zionistischen Projekts vonseiten der römisch-katholischen Kirche zurückgewiesen. 1985 unterstreichen die „Hinweise zur richtigen Darstellung von Juden in Katechese und Predigt“, dass der Staat Israel nur säkular-historisch und völkerrechtlich beschrieben werden solle. Die Rückkehr der Juden ins Land sei freilich ein Zeichen, das man theologisch deuten müsse.

Faktisch folgte eine strikte Trennung von Religion und Politik, die auch heute das Handeln des Vatikans prägt. Sie ermöglichte 1993, dass der Heilige Stuhl mit dem Staat Israel diplomatische Beziehungen aufnehmen konnte. Als 2015 das vatikanische Dokument „Denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt (Röm 11,29)“ zu 50 Jahre „Nostra aetate“ jedoch zu Land und Staat Israel schwieg, wurde dies von jüdischer Seite als schmerzhafte Lücke moniert. 2018 griff Papst emeritus Benedikt XVI. in die Debatte ein und schrieb, die Zeit der Geschichte sei für Juden die Zeit der Diaspora. Viele Juden fühlten sich vor den Kopf gestoßen (vgl. HK, August 2018, 13–16; Mai 2019, 49–51).

Angesichts eines national-religiösen, messianischen Denkens aufseiten der jüdischen Siedler und eines eschatologisch-apokalyptischen Denkens radikaler Islamisten wie der Hamas sind Vertreter des jüdisch-christlichen Dialogs gefordert, ein Narrativ jenseits palästinensischer Befreiungstheologie oder christlichem Zionismus zu entwickeln. Eine Bundestheologie, die am unwiderrufenen Bund Gottes mit Israel festhält, hat den Rahmen zu bieten. Das Land kann als privilegierter Ort des jüdischen Volkes verstanden werden, um gemäß der Tora zu leben. Dies kann mit einem demokratischen Rechtsstaat verbunden werden.

Es ist schließlich zu bedenken, dass Gott die Israeliten in ein Land führte, in dem bereits eine Bevölkerung lebte. Zudem muss christliche Theologie die Botschaft des Neuen Bundes ins Spiel bringen, die gerade auch Nicht-Juden im Land einen Platz zuweist.

Es braucht also eine Theologie des sozialen Raumes, der Gottes Bundeshandeln ebenso berücksichtigt wie auch die Tatsache, dass das verheißene Land und die Diaspora aufeinander bezogen sind. Keine Theologie des Landes ohne eine Theologie der Diaspora. Dazu gehört die Berücksichtigung der Funktion von heiligen Stätten und ihren Traditionen. Sie helfen, das Land als Heimstätte zu verstehen, das religiöse Bedeutung hat und dem Leben in der Diaspora zugeordnet ist. Mit ihrer Soziallehre, Sozialethik und politischen Theologie können die Kirchen zudem eine reiche, ausdifferenzierte und intellektuelle Tradition einbringen. Humanitäre Hilfe und allgemeine ethische Appelle genügen nicht.

Das westliche Säkularisierungsparadigma ist infrage gestellt

Die jüdisch-christliche Beziehung stellt in einer globalisierten Welt definitiv ein Phänomen dar, das nur wenige unmittelbar betrifft. Gesellschaftlich steht die Auseinandersetzung mit dem Islam im Vordergrund.

Auch dies spiegelt sich im Pontifikat von Papst Franziskus. Er brachte Rabbiner Abraham Skorka aus Buenos Aires in den Vatikan mit. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit setzte er mit seinem Besuch im Heiligen Land ein Zeichen. In seinem Bemühen um Weltfrieden und soziale Gerechtigkeit appelliert er seither jedoch vor allem an den Islam. Man denke an die Enzyklika „Fratelli tutti“ oder an die Erklärung von Abu Dhabi (vgl. HK, Februar 2024, 32–35). Die jüdisch-christliche Beziehung kann heute in der Tat nur im Kontext der trilateralen Verhältnisse von Juden, Christen und Muslimen gepflegt werden. Dieser Dialog ringt im Westen wie in Nahost um eine neue Zuordnung von Religion und Politik. Das westliche Säkularisierungsparadigma ist infrage gestellt.

Davon zeugt auch die Auseinandersetzung vor dem 7. Oktober um Gesetzesreformen in Israel. Davon zeugt die islamistische Republik Iran mit ihren Verbündeten, die Israel als Inbegriff des Westens angreift. Weder die Hamas noch die militanten Siedler befürworten eine Zweistaatenlösung, wie sie der Westen initiierte.

Identitäre gegen liberaldemokratische Kräfte

Im gegenwärtigen Krieg kämpfen nur bedingt Palästinenser gegen Israelis. Wie aber verlaufen dann die Frontlinien? Sind es nicht religiös motivierte Bewegungen, die die Trennung von Religion und Politik, wie sie die westliche Moderne etablierte, infrage stellen? Identitäre politische Kräfte gegen offen liberaldemokratische? Israel scheint zu einem Schauplatz geworden zu sein, in dem in verdichteter Form um das Verhältnis von Religion, Gesellschaft und Politik gekämpft wird, das die gesamte Welt herausfordert.

Der jüdisch-christliche Dialog wiederum hat seinen „Sitz im Leben“ in der Zivilgesellschaft, die sich zwischen der politischen und der familiären Ebene in westlichen Gesellschaften herausgebildet hat. Hier verorten sich Religionen gemäß moderner Vorstellung gesellschaftlich. Wird ihnen dieser Ort genommen, amalgamieren sie mit der Politik oder stiften den Kitt für völkische Zugehörigkeit. Juden und Christen, die umeinander wissen, kämpfen um den Erhalt zivilgesellschaftlicher Strukturen, deren Teil sie selbst sind, um der Freiheit und der Gerechtigkeit willen. Sie wissen sich der Bildung verpflichtet, die Menschen über ihre Herkunft hinaus Sinn stiftend in einem Rechtsstaat verbindet.

Viele Juden haben nach dem Massaker der Hamas und den antisemitischen Ausschreitungen eine größere Anteilnahme von Christen erwartet. Sie haben sich gefragt, was Dialog und Freundschaft der letzten Jahre in der aktuellen Situation wert sind. Das laute Schweigen von christlicher Seite hat sie verletzt. Analog dazu haben sich auch die palästinensischen Christen geäußert. Was bedeutet es den Kirchen im Westen, dass sie Glaubensgeschwister sind? Auch sie fühlten sich verletzt, wenn die christliche Präsenz im Heiligen Land dem Westen gleichgültig ist (vgl. HK, Oktober 2024, 24–27). Diese doppelte Anfrage führt Juden wie Christen auf die tiefere Motivation für den Dialog zurück. Worin gründet der Dialog? Worin die Verpflichtung füreinander?

Judentum und Christentum sind aufeinander verwiesen

Die mitmenschliche Verantwortung angesichts von vergangenem und gegenwärtigem Leid und Unrecht muss immer motivieren. Jenseits der Verfolgungsgeschichte der letzten Jahrhunderte hat die Forschung herausgearbeitet, wie Judentum und Christentum historisch und theologisch miteinander verbunden sind. Das rabbinische Judentum und patristische Christentum haben sich in gegenseitiger Beeinflussung in der nachbiblischen Zeit herausgebildet. Das Christusereignis wie auch die Tempelzerstörung haben das Judentum wie auch die messianische Bewegung, die sich mit Paulus unter den Proselyten um das jüdische Volk geschart hatte, gezwungen, sich neu zu vergewissern und kanonisch ihre Identität zu begründen. Unter dem Stichwort „Das Auseinandergehen der Wege“ wird dieser Prozess der Ausdifferenzierung beschrieben. Judentum und Christentum sind in diesem Sinne nicht nur gleichzeitig entstanden, sondern wissen sich beide von Gott gesetzt und verpflichtet. Schon in ihrer Konstituierung sind sie aufeinander verwiesen. In ihrem Zwischenraum wird in der Spätantike der Islam geboren.

Für den Gläubigen stellt sich die Frage, was diese Verwiesenheit auf den „Anderen“ bedeutet. Alle großen Theologen der Tradition von Augustinus über Thomas von Aquin bis hin zu den Theologen des 20. Jahrhunderts habe sich mit dieser Frage auseinandergesetzt. Daran hat die Theologie heute in mutiger Neusetzung anzuknüpfen. Wir stehen damit erst am Beginn des jüdisch-christlichen Dialogs.

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