Haltungen, die verbindenMaß und Mäßigung

Unsere Zeit ist von Maßlosigkeit geprägt: Wir werden mit Informationen überflutet. Essen und Trinken verführen viele Menschen zum übermäßigen Konsum. Und auch die Ansprüche vieler Menschen kennen oft keine Grenzen. Aber wir spüren, dass uns diese Maßlosigkeit nicht gut tut. Daher wäre das neue Jahr eine gute Einladung, das eigene rechte Maß zu entdecken und es dann auch zu leben. Das rechte Maß ist jedoch nicht einfach nur Verzicht, etwa auf Essen oder Konsum, sondern es ist eine innere Haltung.

Vier Hände umfassen gemeinsam eine Tasse.
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Mutter aller Tugenden

Der hl. Benedikt hat für das von ihm gegründete Kloster eine Regel verfasst, an die sich die Benediktinermönche noch heute halten. Die Regel kann aber auch im weltlichen Leben Orientierung geben und helfen, das rechte Maß zu finden. Für den hl. Benedikt ist die weise Mäßigung die Mutter aller Tugenden. Seine Regel befolgt in allen ihren Anordnungen das rechte Maß. Dem Abt schärft er ein: „Bei geistlichen wie bei weltlichen Aufträgen unterscheide er genau und halte Maß. Er denke an die maßvolle Unterscheidung des heiligen Jakob, der sprach: ‚Wenn ich meine Herden unterwegs überanstrenge, werden alle an einem Tage zugrunde gehen.‘ Diese und andere Zeugnisse maßvoller Unterscheidung, der Mutter aller Tugenden, beherzige er. So halte er in allem Maß, damit die Starken finden, wonach sie verlangen, und die Schwachen nicht davonlaufen.“ (RB 64,17-19) Das rechte Maß ist nicht eine für alle gleich geltende Mittelmäßigkeit, sondern es berücksichtigt das je verschiedene Maß. Die Starken brauchen Herausforderung, dass sie daran wachsen. Und die Schwachen brauchen die Mäßigung des Hirten, damit sie sich nicht überfordert fühlen.

Meine Grenzen erfahren

Natürlich gibt es Menschen, die ihr Maß zu klein machen, die sich nichts zutrauen. Jedoch: Was mein Maß ist, das erkenne ich erst, wenn ich einmal über mein Maß hinausgegangen bin. Dann spüre ich, wo für mich die Grenze liegt. Wer vor lauter Angst nie über die eigene Grenze geht, der wird in seinem Leben auch nichts erreichen. Er wird immer in einem Mittelmaß bleiben, das gar nicht sein eigenes Maß ist.

Gefährlicher Perfektionismus

Das rechte Maß gilt in allen Bereichen. Es gilt für die Arbeit. Da braucht es das richtige Maß für die Menge der Arbeit. Wenn meine Aufgaben über lange Zeit zu viel sind und mich überfordern, wird der Leib mit Burn-out reagieren.
Das rechte Maß gilt auch für das Bild, das wir von uns selbst haben. Auch wir selbst haben bestimmte Erwartungen an uns, eine Vorstellung davon, wie wir zu sein haben und was wir tun sollten. Daniel Hell, ein Schweizer Psychiater und Therapeut, meint, die Depression sei oft ein Hilfeschrei der Seele gegen maßlose Selbstbilder. Wenn ich immer perfekt sein muss, immer erfolgreich, immer cool, immer alles im Griff haben muss, dann rebelliert meine Seele dagegen durch die Depression. Wir sollen dankbar sein für die Reaktion unserer Seele. Es mag zunächst absurd klingen, dankbar zu sein für die Depression. Gemeint ist, dass wir die Perspektive wechseln: Die Reaktion unserer Seele kann uns zeigen, dass wir uns überfordern. Sie kann uns deshalb helfen, unser Selbstbild zu verändern.

Spirituelle Bedeutung

Der hl. Benedikt kennt drei Worte für Maß: mensura, temperare, discretio.
Mensura ist das Maß, mit dem wir messen. Es bezieht sich zum einen auf die Menge der Arbeit. Aber es bezieht sich auch auf das spirituelle Leben. Die Wüstenväter sagen: „Alles Übermaß ist von den Dämonen.“ Wer also übermäßig fastet, wer überhaupt nicht mehr aufhört mit dem Beten, der übertreibt. Und das führt dann nicht zu Gott. Es ist vielmehr Ausdruck des eigenen Ehrgeizes. Man will sich und Gott beweisen, dass man ein spiritueller Mensch ist. Wenn ich hier das richtige Maß finde, werde ich demütig. Ich stelle mich dann nicht über die anderen.

Das rechte Zeitmaß

Temperare kommt von „tempus = Zeit“. Es geht also um das richtige Zeitmaß: dass ich meine Zeit gut strukturiere, dass ich einen Rhythmus für meinen Tag finde, der mir gut tut, der genügend Raum für die Arbeit, aber auch für Gespräche und für die Meditation lässt. Eine Hilfe, die Zeit gut zu strukturieren, sind die Rituale. Trotz aller Tätigkeit kann ich mir mit Ritualen einen Freiraum schaffen, eine heilige Zeit, die mir gehört, in der ich selber lebe statt gelebt zu werden. Die frühen Mönche haben sogar als Einsiedler ihren Tag strukturiert. Benedikt hat mit seiner Regel dem Tag eine feste Struktur gegeben. Dabei vermeidet er alle Übertreibungen und bezieht sich auf das rechte Maß für die Mönche, das sie nicht überfordert und nicht in Traurigkeit stürzt.

Unterscheiden lernen

Discretio meint die Gabe der Unterscheidung. Das war für die Mönche in der Wüste eine wichtige Haltung, die vom geistlichen Vater gefordert wird. Ein Altvater kann nur dann andere begleiten, wenn er die Geister unterscheiden kann. Die Griechen nennen das „diakrisis“. Die Voraussetzung für diese Gabe ist die ehrliche Selbsterkenntnis. Wer sich selbst mit all den Abgründen seiner Seele kennt, der hat auch ein Gespür, was der Mensch braucht, den er begleitet. Discretio meint, dass ich nicht alle Menschen über den gleichen Kamm schere. Die Gerechtigkeit wird durch das Gespür für die Bedürfnisse des einzelnen relativiert. Der geistliche Vater spürt, was dem einzelnen gut tut, wie er wachsen kann und welche Herausforderungen ihn weiter bringen.
Im alltäglichen Zusammenleben kann das bedeuten: Dass wir unsere Mitmenschen nicht überfordern, indem wir an alle die gleichen Maßstäbe ansetzen, von allen gleich viel erwarten. Es gilt vielmehr, ein Gespür dafür zu entwickeln, welchen „Geist“ mein Gegenüber hat und was er deshalb braucht. Dann kann wirkliche Begegnung entstehen.

Was Spiritualität ist

Manchmal nehmen Menschen irrtümlicherweise an, dass Spiritualität ein ausgegrenzter Aspekt des Lebens sei, die schöne Terrassenwohnung der Existenz. Aber richtig verstanden, ist Spiritualität ein lebendiges Bewusstsein, das alle Bereiche unseres Lebens durchdringt. Menschen, die dem Leben vertrauen, sind wie Schwimmer, die sich einem fließenden Fluss anvertrauen. Sie verlieren sich nicht im Strom und widerstehen ihm auch nicht. Im Gegenteil, sie passen sich in jeder Bewegung dem Fluss des Wassers an, benutzen es mit Freude und Geschick – und genießen das Abenteuer.

Bruder David Steindl-Rast OSB

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