Aufwärtsbewegung im steilen WinkelLeopold Ziegler umreißt den Zustand des Bewusstseins im Gebet

Das Werk des Religionsphilosophen Leopold Ziegler enthält inspirierende Denkanstöße. Auch mit dem Gebet und seinen Auswirkungen hat er sich beschäftigt. Für ihn vermag es den Aufstieg zu einer anderen Ebene des Bewusstseins zu eröffnen.

Leopold Ziegler
© Siegfried Lauterwasser

I.

Wo sind wir eigentlich, wenn wir beten? Dumme Frage: Dort, wo unser Körper sich gerade befindet. So weit, so klar. Doch geistig? Genauer: Was vermag währenddessen mit und in unserem Bewusstsein zu geschehen? Antwort Leopold Ziegler: Es durchläuft "eine echte Umwandlung".

II.

Leopold wer? ZIEGLER! Geboren 1881, gestorben 1958. Einst hochgeachtet, Träger des Frankfurter Goethepreises nach Albert Schweitzer und vor Sigmund Freud, heute wohl der unbekannteste unter den großen deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Was freilich weniger gegen ihn selbst als unsere Erinnerungskultur spricht. Diesen spannenden Denker (der auf seinem intellektuellen Weg auch manche Schleife zurückgelegt hat) neu in die Diskurse einzubürgern, wäre lohnend. Denn er hat unvermindert etwas zu sagen.

III.

Ohne Einschränkungen gilt dies jedenfalls für seine drei umfangreichen Hauptwerke. Gestaltwandel der Götter lautet der Titel des ersten, der des zweiten Überlieferung. Das dritte, in dem auf eminente Weise über das Gebet gehandelt wird, ist Menschwerdung überschrieben. Einer Interpretation des Vaterunsers auf mehr als 750 Seiten lagern sich hier weitreichende Themen an. Entstanden während des Zweiten Weltkriegs, wurde es erst zweieinhalb Jahre danach veröffentlicht.

Zieglers großes Thema ist das des "Ewigen Menschen". Als inneres Bild liege es der gattungsspezifischen Gerichtetheit zugrunde. Indizien dafür sammelt er aus den ältesten Dokumenten aller ihm bekannter Religionen – und das sind zahlreiche. Eine große Ökumene formiert sich im Zeichen dieses "Urwissens". Mit der Inkarnation des göttlichen Worts lässt er sie gipfeln.

Dem Umschlagdeckel seiner beiden Bände Menschwerdung (1948) ließ Leopold Ziegler dieses Symbol einprägen. "Ein uraltes Zeichen, das in gotischen Kirchen oft zu sehen ist: am Schnittpunkt des Kreuzes zwei Herzen, eines mit der Spitze nach oben und so den gefallenen Adam darstellend, das zweite mit der Spitze nach unten, der 'Eschatos Adam'. Die hierdurch entstehenden Vierecke und Halbkreise fordern zu unabsehbaren Deutungen auf …"

Dem Umschlagdeckel seiner beiden Bände Menschwerdung (1948) ließ Leopold Ziegler dieses Symbol einprägen. "Ein uraltes Zeichen, das in gotischen Kirchen oft zu sehen ist: am Schnittpunkt des Kreuzes zwei Herzen, eines mit der Spitze nach oben und so den gefallenen Adam darstellend, das zweite mit der Spitze nach unten, der 'Eschatos Adam'. Die hierdurch entstehenden Vierecke und Halbkreise fordern zu unabsehbaren Deutungen auf …"

Ja, und wo sind wir nun eigentlich, wenn wir beten, und warum? Von einer "Graduation des Bewusstseins" spricht Ziegler, im Jetztzeit-Deutsch einem upgrade, der Umstufung auf eine höhere Kategorie, wie wir das optional von Reisen, Unterkünften oder Tickets kennen (dort gegen Aufpreis). Anders gewendet: "Bewusst-im-Sein" befinde sich der echte Beter. Von heute aus mag sich das eher nach irgendeiner Psycho-Technik anhören, innenzentrierter Selbstbetrachtung oder -berührung, dem Tantra, bestimmten Coachings oder Massagen verwandt. Ziegler aber meint davon Grundverschiedenes.

V.

Aufpreise sind beim Bezug dieser neuen Behausung in einem oberen Stock zwar nicht zu entrichten, doch einen Automatismus dorthin gibt es ebenso wenig. Die "eigentümliche Schwierigkeit des Gebets", führt er aus, besteht darin, "dass es gekonnt sein will, und darum gelernt, und darum geübt". Raumfahrer zum Kern des Seins sind wir nicht umstandslos.

"Auf eine Wirklichkeit streng eigener Art" sei es ausgerichtet, die kraft seiner selbst sich auftue. Projektion also, wie wir sofort einzuwenden geneigt sind? Nein, kontert der Philosoph: "ein Übersprung" vielmehr aus der "Ebenerdigkeit" des "enttieften Allerweltsbewusstseins". Beträchtlich hinausflügelnd über das, was ihm gemeinhin als Realität gilt, wie über sie beschreibende und erklärende Wissenschaft, auf die es in der Moderne "gedrillt" sei. Also versucht Ziegler sich gegen diese zu immunisieren? Das Gebet, macht er geltend, intensiviere das Bewusstsein und verleihe ihm spezifische Energie, die ein Gefälle zum Gewöhnlichen auslöse und qualitative Selbstüberschreitung geradezu erzwinge.

VI.

Dem "lediglich reflektierenden Bewusstsein" steht hier ein vernehmendes gegenüber, das mit dem Sein gleichsam verwachse. Der Zustand der im Gebet sozusagen Aufwärtsbewegung im steilen Winkel verzichtet auf jegliches Begreifen- und Durchdringen-Wollen, "den höchsten Stolz des Menschengeistes". Entleert ist er gleichsam, ge-lassen. Manches von dem, was man in Traditionen der Mystik findet, dem von ihm mehrfach erwähnten Miguel de Molinos beispielsweise, untermauert Ziegler philosophisch.

VII.

Dass dem Bewusstsein ein Bestreben nach Transformation "tief inne wohne", war dem östlichen Denken von jeher unzweifelhaft. Dem "in sich gesammelten, ja sich selbst überwandelnden Beter" nun vermöge ein "etwas habendes Bewusstsein von" – die diskursive Erkenntnis mit ihrer bloßen Welt-Ausschnitthaftigkeit –, das der Westen verabsolutiere, sich zum "Bewusst-Sein im" aufzuschwingen. Dieses sei der Beziehung auf Ganzheit fähig, vor welcher das andere scheitere, "eines Geheimen, Verborgenen".

"Gebetsförmlich unterbreitete Bitten" um endliche Gaben und Güter sind aus dieser Perspektive übrigens "noch lange kein Gebet". Das ist eine wichtige Unterscheidung. "Die wahre Gebetsabsicht" gipfle vielmehr im "Gebetsereignis" und sprenge als solches bestehende Ordnungsmuster, in denen wir uns einrichten. Sprachlich korrekt abgeleitet, ist es "Er-Äugnis". Hier heideggert es bei Ziegler ein bisschen, womöglich unabhängig von dem Kollegen, der zur gleichen Zeit begann, das Sein vom Ereignis her neu zu denken. Wie auch immer, fällt für den Religionsdeuter dieses "Er-Äugnis letztlich mit dem antiken 'Mysterion Epoptikón' zusammen, der Beschauung."

VIII.

"Wer Gott beweisen, wer ihn bewiesen haben will, der mag getrost gott-los bleiben", schreibt Ziegler: "Wer indes beten lernte und wirklich beten kann, dem erübrigen sich eh und je sämtliche Beweise." Es zeichne das Gebet von den anderen Akten des Bewusstseins ja hauptsächlich aus, dass es, paradoxerweise, Gottes Unmittelbarkeit im Vollzug vermittle.

IX.

Auf Vorschlag des Papstes soll das laufende Jahr eines des Gebets sein. Unter Sinnsuchern als spirituelles Kraftwerk sondergleichen ruchbar, ist von der katholischen Kirche in Deutschland hier viel zu erwarten.

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