Psalm 5 – "Leite mich in deiner Gerechtigkeit"Die Psalmen als Weg zur Kontemplation

In Psalm 5 geht es um die grundsätzliche Frage, ob JHWH ein Gott der Gerechtigkeit ist, das heißt, ein Gott, der auf der Seite des Rechts steht, auf der Seite derer, deren Recht bedroht oder verletzt wird. Wird sich das Recht des Stärkeren durchsetzen oder die Stärke des Rechts?

Bibel
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Lesen wir aufgrund der Überschrift zu Psalm 3 die Abfolge der Psalmen 3 bis 7 vor dem Hintergrund des Abschalom-Aufstandes (2 Sam 15–18), so ergibt sich folgende zeitliche Zuordnung: Nach dem Morgengebet Psalm 3 (Vers 6: "Als ich mich hinlegte, fand ich Schlaf. Ich wachte auf, denn JHWH stützt mich") folgt an demselben Tag das Abendgebet Psalm 4 (Vers 9: "In Frieden werde ich mich niederlegen und einschlafen, denn Du, Herr, so einsam ich auch bin, lässt mich ruhen in Sicherheit"). Nach dem Abendgebet schaut der Beter mit Psalm 5 bereits auf den folgenden Tag voraus und kündigt in der ersten Strophe (Vers 2–3) sein Gebet für den kommenden Morgen an: "HERR, am Morgen wirst Du meine Stimme hören, am Morgen will ich mich bereit machen für dich und Ausschau halten" (Vers 4).

Gott als Richter

Das hebräische Verbum arak "bereitmachen, ausbreiten, zurüsten" wird in Ijob 13,18 mit dem Objekt "Rechtsfall" verbunden: "Siehe, ich breite den (meinen) Rechtsfall aus; ich weiß, ich bin im Recht." Dieses Verständnis dürfte auch in Psalm 5,4 vorliegen. Der Beter kündigt an, seinen Rechtsfall beim morgendlichen Opfer unter Begleitung eines Gebetes vorzulegen. Auffallend ist die Anrede "mein König und mein Gott" (Vers 3), die sich in dieser Form nur noch in Psalm 84,4 findet.

Für die Rechtsprechung und die Durchsetzung des Rechts ist in Israel wie im Alten Orient der König zuständig (vgl. 1 Kön 3). "Spricht ein König den Geringen zuverlässig Recht, hat sein Thron für immer Bestand", heißt es im Buch der Sprichwörter (29,14). Hinter dem König als Richter steht Gott als die königliche Letztinstanz, die für die Wahrung und Durchsetzung des Rechts die Verantwortung trägt. Im Alten Orient ist dies der Sonnengott. Recht gesprochen wurde am frühen Morgen, wenn die "Sonne der Gerechtigkeit" (Mal 3,20) aufgeht und alles ans Licht bringt. "Haus David! – spricht der Herr: Haltet jeden Morgen gerechtes Gericht!" (Jer 21,12; vgl. Mt 27,1; Joh 18,28). Deshalb schaut unser Beter hoffnungsvoll auf den kommenden Morgen; dann will er sein Anliegen vorbringen; er ist zuversichtlich, dass der HERR auf seine Stimme hören wird (Vers 4).

Des Beters Zuversicht

In der zweiten Strophe (Vers 4–8) begründet der Beter seine Zuversicht. Sie gründet in dem Wissen, dass JHWH ein Gott der Gerechtigkeit ist: "Denn Du bist kein Gott, dem das Unrecht gefällt, ein Böser kann nicht bei Dir wohnen. Nicht werden sich hinstellen Schwätzer vor Deinen Augen, verhasst sind Dir alle Übeltäter. Du wirst zugrunde gehen lassen Lügenredner, einen Mann von Bluttat und Betrug wird JHWH verabscheuen" (V. 5–7). Damit dürften die Prozessgegner gemeint sein. Von ihnen grenzt sich der Beter ab: "Ich aber in der Fülle Deiner Güte darf betreten Dein Haus, mich niederwerfen zum Palast Deines Heiligtums in Ehrfurcht vor Dir" (Vers 8).

Auf der Flucht hatte der König die Hoffnung geäußert, nach Niederschlagung des Aufstandes nach Jerusalem zurückkehren und die heilige Stätte wieder betreten zu dürfen. Deshalb hatte er dem Priester Zadok, der ihn zunächst mit der Lade Gottes auf der Flucht begleitet hatte, befohlen, nach Jerusalem zurückzukehren: "Der König sagte zu Zadok: Bring die Lade Gottes in die Stadt zurück! Wenn ich vor den Augen des HERRN Gnade finde, dann wird er mich zurückführen und mich die Lade und ihre Stätte wiedersehen lassen" (2 Sam 15,26). Diese Hoffnung beseelt den flüchtigen König im Blick auf den kommenden Morgen.

Damit sie in Erfüllung gehen kann, müssen seine Gegner bezwungen werden. Darum bittet er in der dritten Strophe (Vers 9–11) Gott, gegen falsche Ankläger vorzugehen und sie schuldig zu sprechen: "HERR, leite mich in deiner Gerechtigkeit, meinen Gegnern zum Trotz, ebne vor mir Deinen Weg! Denn aus ihrem Mund kommt kein wahres Wort, ihr Inneres ist voller Verderben. Ein offenes Grab ist ihre Kehle, mit ihrer Zunge werden sie aalglatt reden. Sprich sie schuldig, Gott! Fallen sollen sie aus ihren Plänen! In der Fülle ihrer Rebellionen weise sie ab, denn sie meuterten gegen Dich."

Der Psalm schließt in der vierten Strophe (Vers 12–13) mit einem Lobversprechen. Der Beter antizipiert die Folgen, mit denen zu rechnen ist, wenn das Gerichtsverfahren in seinem Sinne ausgehen und sich JHWH als ein Gott der Gerechtigkeit erweisen wird. Dann "werden sich alle freuen, die ihre Zuflucht suchen bei Dir, sie werden jubeln in Ewigkeit." Denn sie werden sehen, dass JHWH einen Unterschied macht zwischen denen, die sich gegen ihn auflehnen (Vers 11), und denen, die seinen Namen lieben (Vers 12). "Das heißt im Umkehrschluss: Wenn sich im gegenwärtigen Fall zeigt, es hat keinen Sinn, auf Gott zu hoffen, dann wird eine ganze Reihe von Leuten, die das bisher getan hat, aufhören 'deinen Namen zu lieben'" (Böhler, Psalmen 1–50, HThK AT, Freiburg i. Br. 2021, 130).

Gott meiner Gerechtigkeit

Wer sich gegen den Beter auflehnt, lehnt sich gegen Gott auf, so können wir Psalm 5 zusammenfassen. Wir dürfen diese Sicht nicht als Ausdruck einer verwerflichen Selbstgerechtigkeit verstehen, denn der Beter ist nicht irgendwer, sondern – wie die Verbindungen zu den vorangehenden Psalmen zeigen – der von Gott auf Zion rechtmäßig eingesetzte ideale König (Psalm 2). Seine Gegner sind diejenigen, die das nicht anerkennen wollen; sie haben einen Aufstand angezettelt, so dass der König unter dramatischen Umständen des Nachts ins ostjordanische Bergland fliehen musste. Die Gegner des Beters (Vers 9: "meine Gegner") sind also zugleich die Gegner des HERRN (Vers 11: "Sie meuterten gegen Dich"). Es liegt genau jene Konstellation vor, die Psalm 2 als Teil des Proömiums des Psalters entworfen hat: Aufständische haben sich verbündet "gegen den HERRN und seinen Gesalbten" (Psalm 2,2).

Handelte es sich in Psalm 2 um eine internationale Rebellion, so in Psalm 3–7 um eine regionale, um einen Aufstand im Hause Davids. Beide stehen jedoch nicht beziehungslos nebeneinander, da mit der Einsetzung des Königs auf Zion ein universaler Herrschaftsanspruch verbunden ist (Psalm 2,8: "Enden der Erde"). Der Aufstand gegen den König richtet sich somit letztlich gegen Gott selbst und gegen die von ihm intendierten Weltordnung. Die Alternative zur Rebellion wird in beiden Psalmen mit ähnlichen Worten ausgedrückt: "Selig alle, die sich flüchten zu Ihm" (Psalm 2,12) – "Freuen werden sich alle, die sich flüchten zu Dir" (Psalm 5,12)

Recht und Gewalt

In Psalm 5 geht es um die grundsätzliche Frage, ob JHWH ein Gott der Gerechtigkeit ist, das heißt, ein Gott, der auf der Seite des Rechts steht, auf der Seite derer, deren Recht bedroht oder verletzt wird. Wird sich das Recht des Stärkeren durchsetzen oder die Stärke des Rechts? Wenn David JHWH, als "meinen König und meinen Gott" anruft (Vers 3), dann appelliert er an den "Gott meiner Gerechtigkeit" (Psalm 4,2). Die Überwindung der Gewalt durch das Recht ist eines der großen Themen des Alten Testaments. Allerdings muss das Recht auch mit Gewalt ausgestattet werden, sonst bleibt es, um mit Immanuel Kant zu sprechen, "leere Anpreisung".

Erinnern wir uns an die ersten beiden Psalmen: Nur demjenigen (idealen) König auf Zion gibt JHWH die Zusage, die gegen ihn rebellierenden Könige und Völker niederzuwerfen (Psalm 2), der selbst "bei Tag und Nacht" die Tora ("das Gesetz") meditiert, das heißt: sich selbst an das Recht hält. Bei den Bildern der Gewalt in Psalm 2,9 geht es nicht um willkürliche Gewalt, sondern um rechtmäßige Gewalt, das heißt um jene Gewalt, die notwendig ist, um dem Recht Anerkennung zu verschaffen. Auf diesen Gott der Gerechtigkeit (Psalm 4,2), "dem Mörder und Betrüger ein Gräuel sind" (Psalm 5,7), der "Lügenredner zugrunde gehen lässt" (Psalm 5,7), der seinen König auf Zion, seinem heiligen Berg, eingesetzt hat (Psalm 2,6), damit er sein Volk in Gerechtigkeit regiere (Psalm 72,2), hofft David in seiner Bedrängnis, wenn er betet: "Herr, leite mich in Deiner Gerechtigkeit, meinen Feinden zum Trotz, ebne Deinen Weg vor mir!" (Psalm 5,9).

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