Psalm 13 – Wie lange noch, HERR?Die Psalmen als Weg zur Kontemplation

Das Klagegebet ist im Alten Testament kein richtungsloses Jammern, sondern ein auf Gott hin ausgerichteter Sprechakt, ein Weg der vertrauensvollen Hingabe. Psalm 13 ist ein solcher typischer Klagepsalm, bestehend aus den drei Teilen Klage, Bitte und Vertrauensbekenntnis. Der Beter bleibt also nicht in der Klage stecken, sondern durchläuft einen Prozess, der ganz auf JHWH hin ausgerichtet ist.

Bibel
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Psalm 13 ist ein typischer Klagepsalm, bestehend aus den drei Teilen Klage (V. 2–3), Bitte (V. 4–5), Vertrauensbekenntnis (V. 6). In jeder der drei Strophen kommt der Gottesname JHWH je einmal vor. Genau in der Mitte des Psalms (V. 4a) wird er durch "mein Gott" zusätzlich betont: "Schau her, antworte mir, JHWH, mein Gott!" Der Psalm beschreibt eine Bewegung von der Klage über die Bitte zum Vertrauen. Die Wende vollzieht sich im Gebetsprozess selbst; sie wird nicht von außen herbeigeführt. Der Beter bleibt also nicht in der Klage stecken, sondern durchläuft einen Prozess. Alle drei Grundvollzüge Klagen, Bitten, Vertrauen sind auf JHWH hin ausgerichtet.

Von der Klage

Ein vierfaches "Bis wann? / Wie lange noch?" prägt die Klage in der ersten Strophe. Beklagt werden das Verhalten JHWHs (V. 2), das Ergehen des Beters (V. 3a.b) und die Gefahr durch einen Feind (V. 3c):

2a   Wie lange noch, JHWH, vergisst Du mich so ganz?
2b   Wie lange noch verbirgst Du Dein Angesicht vor mir?
3a   Wie lange noch muss ich mir Gedanken machen in meiner Seele,
3b   Kummer haben in meinem Herzen, sogar bei Tag?
3c   Wie lange noch darf sich erheben mein Feind gegen mich?

Die Not, die der Beter beklagt, hat mit Gott zu tun. Er hat sie verursacht oder zugelassen. Er kann sie auch beheben. Deshalb wendet sich der Beter direkt an JHWH. Dieser, so scheint es, kümmert sich nicht um den Beter, hat ihn vergessen und schaut nicht auf ihn. Im folgenden Vers 3 richtet der Beter den Blick auf sich selbst: Ein ständiges Kreisen der Gedanken zermalmt seine Seele, nicht nur bei Nacht – so darf man V. 3a wohl ergänzen –, sondern sogar bei Tag (V. 3b). Er bekommt den Kopf nicht mehr frei. Der Umgang mit Gedanken und Gefühlen ist eine der großen Herausforderungen auf dem kontemplativen Weg. Viele Zeitgenossen suchen einen Zugang zu Meditation und Stille, weil sie ständig von Gedanken gequält werden. Am Ende der Klage kommt auch noch ein Feind in den Blick (V. 3c). Doch dieser scheint nicht das Hauptproblem zu sein. Er greift den Beter nicht direkt an und muss von JHWH auch nicht bekämpft werden. Er scheint nur darauf zu warten, dass der Beter von seiner Not überwältigt wird.

Über die Bitte

Nach der Klage wendet sich der Beter in der zweiten Strophe (V. 4–5) mit einer doppelten Bitte an JHWH. Sie greift die in der Klage beklagten Probleme in gleicher Reihenfolge wieder auf:

4a   Schau her, antworte mir, JHWH, mein Gott!
4b   Lass aufleuchten meine Augen, damit ich nicht entschlafe zum Tode,
5a   damit mein Feind nicht sagen kann: "Ich habe ihn fertig gemacht!",
5b   meine Bedränger nicht jubeln können, wenn ich wanken sollte!

JHWH möge sich als der erweisen, der er für den Beter ist: als sein Gott. Er möge sich ihm zuwenden, ihn anschauen und ihm antworten. Dann wird sich der Zustand des Beters von Grund auf ändern. Durch das ständige sorgenvolle Grübeln sind seine Augen matt und trüb geworden, ein Vorbote des Todes! Seine Sorgen bringen ihn noch ins Grab! "Lass aufleuchten meine Augen, damit ich nicht entschlafe zum Tode!" Am Ende kommt erneut der Feind in den Blick; es scheinen mehrere zu sein, die kaum abwarten können, dass der Beter zu Fall kommt.

Zum Vertrauen

In der letzten Strophe (V. 6) schaut der Beter nur noch auf sich und auf JHWH. Feind und Bedränger aus der ersten und zweiten Strophe sind nicht mehr im Blick, sie sind verschwunden. Kam in der zweiten Strophe noch der Feind zu Wort, so zitiert der Beter in der dritten Strophe sich selbst; er stimmt das Danklied an, das er nach erfolgter Rettung JHWH singen will (V. 6c.d). War des Beters Herz in der ersten Strophe noch voll Kummer (V. 3b), so soll es jetzt voll des Jubels sein. Die Ursache des Stimmungsumschwungs ist des Beters Vertrauen auf JHWH. Mit dem betont an erster Position stehenden, adversativ eingeleitet "Ich aber" wird die neue Ausrichtung des Blicks hervorgehoben; von der Klage über die Bitte zum bewusst vollzogenen und nie ganz verloren gegangen Vertrauen auf JHWH:

6a   Ich aber vertraue auf Deine Güte,
6b   jubeln soll mein Herz über Deine Hilfe:
6c   "Singen will ich JHWH,
6d   denn er hat an mir gehandelt!"

Das mit "Güte" übersetzte hebräische Wort ḥäsäd besagt so viel wie Loyalität, wechselseitige Treue. Das hat nichts mit einem Tauschgeschäft zu tun, sondern ist Ausdruck einer personalen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehung. Dieses Vertrauen war auch der Grund für des Beters Klage und Bitte. Am Ende vertraut er sich erneut und bewusst der Güte JHWHs an. Er ist sich sicher, dass sein Vertrauen nicht enttäuscht werden wird. So kann er schon jetzt das Jubellied anstimmen, das er nach erfolgter Rettung singen will.

Der Weg des Beters

Das Klagegebet ist im Alten Testament kein richtungsloses Jammern, sondern ein auf Gott hin ausgerichteter Sprechakt, ein Weg der vertrauensvollen Hingabe. Wir begegnen erneut der Grundstruktur des kontemplativen Gebets. Am Anfang steht die Not. Sie wird nicht verdrängt, sondern wahrgenommen und ausgesprochen. Der Beter versetzt sich mit der von ihm wahrgenommenen Not, den ständig kreisenden Gedanken und Sorgen, in die Gegenwart Gottes. Er nimmt sie wahr und spricht sie aus, doch er fixiert sich nicht darauf; er verbarrikadiert sich nicht in der Opferrolle. Er geht weiter.

Dem Beter wird klar, dass er nicht Herr über seine Gedanken und Sorgen werden kann. Sie nur vor JHWH zu beklagen, führt am Ende nicht weiter. Er muss einen wesentlichen Schritt darüber hinaus gehen. Dies tut er in der sich der Klage anschließenden Bitte. Darin richtet er sich noch bewusster auf Gott hin aus; er bittet um seine Hilfe und Zuwendung. Mit der verstärkten Hinwendung zu Gott verändert sich das Handlungsfeld. Der Beter wechselt vom Modus des Tuns in den des Empfangens. Die Gedanken und Sorgen sind zwar noch da, doch sie treten mehr und mehr in den Hintergrund; sie verlieren ihre bedrängende Macht.

Den alles entscheidenden Schritt geht der Beter in der dritten Strophe: Seine Wahrnehmung richtet sich ausschließlich auf JHWH und das Tun, das er sich von ihm erhofft. Dieser Schritt wird bewusst vollzogen: "Ich aber, auf Deine Güte vertraue ich!" Der Feind und die quälenden Gedanken und Sorgen sind jetzt verschwunden. Dazu bedarf es keines äußeren Eingreifens. Schon jetzt kann der Beter voll Hoffnung und Zuversicht ein Dankgebet anstimmen: "Singen will ich JHWH, denn er hat an mir gehandelt!"

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