Kennen Sie das Spiel „Was wäre, wenn...?“? Ich liebe es, in solcherlei hypothetische Gedankenexperimente einzutauchen. Seit einigen Jahren pflege ich zu Weihnachten immer eine besondere Variante dieses Spiels. Gegen Ende des Advents nehme ich mir Zeit, um bewusst die Weihnachtsgeschichten der Bibel zu lesen, sie auf mich wirken zu lassen und mir – mit Blick auf die aktuelle Weltlage – die Frage zu stellen: Was wäre, wenn Jesus nicht vor 2000 Jahren, sondern heute zur Welt kommen würde? Wo und unter welchen Umständen geschähe das?
Während ich in diesen Tagen die biblischen Geschichten über die so wundersame wie prekäre Geburt Jesu (man denke an die armselige Unterkunft, die Bedrohung durch Herodes oder die anschließende Flucht der Heiligen Familie) lese, muss ich unwillkürlich an die USA denken. Hier durchkämmen seit dem Amtsantritt Donald Trumps tausende verdeckte Agenten die Städte, um illegale Einwanderer aufzuspüren. Überall verbreiten die vermummten Männer Angst und Schrecken. Wer ihnen in die Hände fällt, wird entweder in eines der völlig überfüllten Detention Centers gebracht oder direkt abgeschoben. Da Trump 1200 bis 1500 Verhaftungen pro Tag befohlen hat, gehen die Agenten immer gnadenloser vor und machen teilweise nicht einmal mehr vor Schulen, Krankenhäusern oder Kirchen Halt. Vielleicht wäre der Jesus der Jetztzeit der Sohn illegaler Einwanderer in den USA? Man stelle sich vor: Maria und Josef müssten untertauchen und nun traut sich die werdende Mutter nicht zur Entbindung in ein Krankenhaus, denn dort könnte sie ja aufgegriffen werden. So kommt es, dass Maria ihren Sohn schließlich in einer abgelegenen dunklen Hinterhofgarage irgendwo am Rande einer amerikanischen Großstadt zur Welt bringen und ihr Neugeborenes in eine Krippe aus ausrangierten Autoreifen und alten Decken betten muss.
Natürlich ist die Geburt Jesu, die Menschwerdung Gottes damals in Bethlehem, ein unübertreffliches, aber zugleich kein abgeschlossenes Ereignis. Nein! Sie setzt sich vielmehr fort als incarnatio continua, die immer wieder aufs Neue aufstrahlt – zum Beispiel in der gottesebenbildlichen Würde eines jeden Menschen. Und leider gibt es auch bis heute überall Situationen, in denen die menschliche Würde – gerade von Minderheiten – mit Füßen getreten wird. Wenn wir also Weihnachten als Fest der Geburt des Lichts der Welt feiern, dann dürfen wir uns natürlich einerseits von diesem Hoffnungsschein bestärken lassen. Andererseits sollte es uns aber auch daran erinnern, das Leid auf der Welt nicht auszublenden, sondern im Zweifelsfall Widerstand zu leisten.
Im Kontext der Verhaftungen sind auch die Sterndeuter von besonderer Relevanz: Sie sind von einem autoritären Herrscher beauftragt, das „gefährliche Subjekt“ im Stall ausfindig zu machen. Aber dank ihrer Überwältigung beim Anblick des neugeborenen Gottessohnes und einer Traumbotschaft widersetzen sie sich dem Befehl des Herodes, erstatten ihm keinen Bericht, sondern kehren direkt in ihr Land zurück. So ist es auch ein ermutigendes Zeichen, dass amerikanische Kirchen und die katholische Bischofskonferenz der USA gegen die harsche Immigrationspolitik Trumps protestieren. Was wäre also, wenn wir uns zu Weihnachten die erlösende wie gefährdete Geburt Jesu im wahrsten Sinne des Wortes vergegenwärtigen und uns so daran erinnern lassen, dass Menschwerdung und Menschenwürde immer und überall untrennbar miteinander verbunden sind?