"... bei mir erwächst die Theologie aus der Pastoral".Lucio Gera - ein "Lehrer in Theologie" von Papst Franziskus

Margit Eckholt, Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Universität Osnabrück, porträtiert den 2012 verstorbenen, einflussreichen argentinischen Theologen Lucio Gera, einen Lehrer und Freund von Jorge Mario Bergoglio SJ, dem nachmaligen Papst Franziskus, als einen Vertreter der "Theologie des Volkes".

Mit der Wahl von Papst Franziskus am 13. März 2013 sind Kirche und Theologie in Lateinamerika wieder neu in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die Wahl des Namens ist Programm. Zeichen und Gesten, die der neue Papst von Anfang an gesetzt hat, das gemeinschaftliche Leben im Gästehaus Santa Marta, seine Nähe zu und die vielen Begegnungen mit einfachen Menschen, die Feier des Gründonnerstags im Jugendgefängnis in Rom, der neue, das Evangelium auf klare Weise zum Klingen bringende Ton der Predigten und seiner Apostolischen Exhortation "Evangelii gaudium" sind ohne seinen lateinamerikanischen Hintergrund nicht zu verstehen.

Das Wieder-Entdecken der lateinamerikanischen Theologie - eine in der Pastoral inkarnierte Theologie

Nach dem Theologenpapst Benedikt XVI., der als Präfekt der Glaubenskongregation Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts die lateinamerikanische Theologie der Befreiung zu Fall gebracht hat und disziplinäre Maßnahmen gegen Theologen wie Leonardo Boff OFM, Jon Sobrino SJ und Gustavo Gutiérrez OP eingeleitet hat - nun ein Papst aus Lateinamerika, der die Theologie der Befreiung rehabilitiert? Gerade die ersten Reaktionen nach der Papstwahl von Theologen und Theologinnen, die Basisbewegungen und der Befreiungstheologie verbunden sind, sprachen von der Rückkehr des lange unterbrochenen Frühlings. Der peruanische Theologe Gustavo Gutiérrez hatte, vermittelt durch den Präfekten der Glaubenskongregation, Gerhard Ludwig Müller, einen Gesprächstermin mit dem Papst, der in einigen lateinamerikanischen Medien in diesem Sinne einer Rehabilitation der Theologie der Befreiung interpretiert worden ist1.

Mit der Wahl von Papst Franziskus wird bei einem näheren Blick gerade die Pluralität von Ansätzen in der Theologie der Befreiung deutlich. Es rückt die spezifische Ausprägung der argentinischen Theologie ins Blickfeld, die in der deutschsprachigen Öffentlichkeit von wenigen Ausnahmen abgesehen kaum rezipiert worden ist. Die argentinische Theologin Virginia R. Azcuy weist darauf hin, dass man häufig der Auffassung ist,

"die lateinamerikanische Theologie sei mit der 'Theologie der Befreiung' identisch […]. Doch die Strömungen der Befreiungstheologie umfassen - trotz ihrer Bedeutsamkeit und weiten Verbreitung - keineswegs die volle Pluralität und den Reichtum an Formen, die von einzelnen Autorinnen und Autoren, von unterschiedlichen kulturellen Kontexten ausgehend entwickelt wurden. Ebenso wenig werden so die verschiedenen Phasen lateinamerikanischer Theologie und die je eigenen Spezifika, die sich von den verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen herleiten, in den Blick genommen. Paradigmatisch ließe sich hier Argentinien als ein Land anführen, das eine gänzlich eigenständige Ausrichtung theologischen Denkens entwickelt hat."2

Das bedeutet nun jedoch nicht, dass die argentinische Theologie, dessen prominenter Vertreter der am 7. August 2012 verstorbene Priester Lucio Gera war, ein Lehrer der Theologie und Freund von Kardinal Jorge Mario Bergoglio SJ, mehrfach Dekan der theologischen Fakultät der Pontificia Universidad Santa María de los Buenos Aires, der (Nach-)Konzilsgeneration zugehörig wie Joseph Ratzinger, Karl Lehmann, Peter Hünermann und Walter Kasper, nicht zur Theologie der Befreiung zu zählen ist. Der Philosoph und Theologe Juan Carlos Scannone SJ, Weggefährte des Papstes und Kollege von Lucio Gera, oder Marcelo González, der Schülergeneration von Gera zugehörig, haben in ihren Studien zur jüngeren Geschichte der argentinischen Theologie auf den gemeinsamen Ursprung der lateinamerikanischen Theologien in der befreienden Dynamik des Zweiten Vatikanischen Konzils und der Zweiten Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Medellín (1968) aufmerksam gemacht und Lucio Gera zur ersten Generation der Befreiungstheologie gerechnet3.

Auf dem Hintergrund der kurz zu skizzierenden spezifisch argentinischen kulturellen, sozialen und politischen Situation hat sich dort die Befreiungstheologie als eine "teología del pueblo" ("Theologie des Volkes") ausgeprägt, die weniger auf Instrumente der Sozialanalyse - oftmals marxistischen Sozialtheorien nahe - zurückgegriffen hat, als auf Kulturanalysen, die Volksreligiosität, Literatur und Kunst verbunden waren. Wenn Papst Franziskus in seinem Interview für die Jesuitenzeitschrift "La Civiltà Cattolicà" das große argentinische Nationalepos "Martín Fierro" von José Hernández erwähnt, die Poesie von Nino Costa, "Il grande esodo" von Luigi Orsenigo, den großen Buenos-Aires-Roman "Adán Buenosayres" von Leopoldo Marechal, dann sind dies Quellen, die in diese Ausprägung einer lateinamerikanischen Philosophie und Theologie argentinischer Ausprägung eingeflossen sind4.

Lucio Gera ist der bedeutendste Vertreter dieser Gestalt der Befreiungstheologie - verkannt im nordatlantischen Raum, der das Augenmerk auf Theologen wie die Brüder Leonardo und Clodovis Boff, Gustavo Gutiérrez und Jon Sobrino richtete, aber die Theologie des La-Plata-Deltas vergessen hat. Mit dem neuen Papst kann darum ein Theologe erinnert werden, der von Kardinal Bergoglio hoch verehrt wurde, was in besonderer Weise dadurch zum Ausdruck kam, dass Gera in der Kathedrale von Buenos Aires, der Grablege der argentinischen Bischöfe, am 8. August 2012 bestattet worden ist. Bergoglio hat auf den Grabstein von Lucio Gera folgende Inschrift setzen lassen: "Maestro en teología". Erinnert wird so ein Theologe der Konzilsgeneration, der mit anderen jungen Kollegen in den 60er Jahren nach Rom reiste, um an einigen Generalversammlungen des Konzils teilnehmen zu können, der an den großen lateinamerikanischen Konferenzen von Medellín (1968) und Puebla (1979) beteiligt war und vor allem die theologisch höchst spannende Phase zwischen der Veröffentlichung der Enzyklika "Evangelii nuntiandi" von Papst Paul VI. (1975) und der Konferenz von Puebla maßgeblich mitgestaltet hat.

Der Impuls einer wahrhaften, die Wurzeln treffenden und von ihnen ausgehenden Evangelisierung der Kultur, den das neue Pontifikat von Franziskus durchweht, gründet in dieser Gestalt der Theologie, wie sie in der Schaffensblüte von Lucio Gera im argentinischen Kontext entfaltet worden ist. Der Pastor auf dem Stuhl Petri nach dem Professor in diesem Amt schöpft aus der Gestalt einer "Theologie des Volkes", in der sich Theologie und Pastoral, Doktrin und Praxis auf eine neue Weise begegnet sind. In einem unveröffentlichten Interview am 12. März 1999 hat Lucio Gera formuliert:

"Die Theologie beginnt, aus der Pastoral und der Predigt zu entspringen; die Frage ist: wie predigen, was predigen, wie sich bewegen, wie die pastoralen Herausforderungen auf die Tagesordnung setzen?"5

Das ist eine Problemanzeige, die heute nicht weniger brisant ist. Theologie und Pastoral sind nicht zwei divergierende Bereiche, doch hat sich gerade die systematische Theologie - vor allem, aber nicht nur in den Ländern des Nordens - noch viel zu wenig aus den Herausforderungen der Pastoral heraus weiter entwickelt. Lucio Geras Impulse können hier auch für die europäische Theologie wichtige Anstöße geben und das Vertrauen wachsen lassen in den stets reformierenden und bekehrenden Geist des Evangeliums, der aus jeglicher Selbstzentrierung befreit und zum je neuen Aufbruch stärkt, wie Franziskus in seiner Exhorte "Evangelii gaudium" (z. B. in EG 20/21) schreibt6.

Lucio Gera - ein Theologe des "barrio" Villa Devoto

Lucio Gera wurde am 16. Januar 1924 in Pasiano, in der italienischen Provinz Udine, geboren und wanderte 1927 mit den Eltern nach Buenos Aires aus. Er wurde im typischen Migrantenmilieu im Viertel La Paternal, dann in Villa Devoto groß - ein Umfeld, das von Armut, Arbeitslosigkeit und der Suche nach neuen Perspektiven geprägt war, ein Viertel, dem er sein Leben lang treu blieb. Ab 1936 konnte er im Seminario Conciliar Metropolitano de la Inmaculada Concepción die Schule besuchen und studieren; motiviert wurde er zum Theologiestudium vor allem durch die Literatur, die großen Romane Fedor Dostojewskijs7. Am 20. September 1947 wurde er zum Priester der Erzdiözese Buenos Aires geweiht. Nach einer pastoralen Tätigkeit von 1948 bis 1951 in drei verschiedenen Pfarreien von Buenos Aires absolviert er in Rom am Angelicum ein Lizentiat in Theologie, das er 1953 abschließt. An der Universität Bonn arbeitet er dann unter Leitung des Dogmatikers Johann Auer an seiner 1956 vorgelegten Doktorarbeit über "Die geschichtliche Entwicklung der Transsubstantiationslehre von Thomas von Aquin zu Johannes Duns Scotus", wobei er sich in dieser Zeit in Deutschland auch intensiv mit der Religionsphilosophie von Romano Guardini und Max Scheler und den neuen existenziellen und personalistischen Zugängen zum Glauben auseinandersetzt.

Zurück in Buenos Aires, nimmt er 1957 die Lehrtätigkeit am Seminar und an der theologischen Fakultät auf - bis zu seiner Emeritierung wird er dort Professor für Ekklesiologie, Sakramente und Eschatologie sein -, ist aber gleichzeitig in der Pastoral aktiv, an der Seite der Arbeiterjugend in Buenos Aires, für die er mehrfach - die Dynamik des Konzils vorausnehmend - Vorträge vorbereitet. In einem Beitrag für die "Notas de Pastoral Jocista" zum Thema Klerus und Laien formulierte er so bereits kurz nach seiner Rückkehr aus Rom:

"Was bedeutet es für die Kirche, in den verschiedenen gesellschaftlichen Milieus präsent oder abwesend zu sein? Die Kirche ist dann präsent, wenn sie durch ihre Prinzipien Mentalität und Verhalten der Menschen prägt, die einem spezifischen gesellschaftlichen Sektor zugehören. Die Kirche ist präsent in einer Gruppe von Menschen, wenn dort eine christlichkirchliche Inspiration präsent - und zwar aktiv präsent - ist."8

Das sind Formulierungen, die in den Predigten von Papst Franziskus anklingen. Es geht um ein wirkliches Präsent-Sein der Kirche, damit sie ihrem Auftrag der Evangelisierung gerecht werden kann:

"Wenn die Kirche in einem spezifischen Milieu präsent ist, bedeutet dies folglich, dass ihre pastoralen Instrumente der Evangelisierung dort präsent sind, dass ihre Mitarbeiter, ihre Institutionen, das Handeln dieser Mitarbeiter und Institutionen wirklich in einem bestimmten sozialen Milieu wirksam sind." (I, 105)

Dazu gehören dann auch kritische Rückfragen an die Kirche, ob wirklich alle gesellschaftlichen Schichten erreicht werden, und wer überhaupt am Leben der Kirche teilnimmt (I, 107).

Zur Zeit der Gründung der Katholischen Universität Santa María de los Buenos Aires im Jahr 1958 wird Lucio Gera Studienpräfekt und "Praeses" der an das Seminario Mayor der Erzdiözese Buenos Aires angegliederten Fakultät, die 1969 der Katholischen - bzw. nun Päpstlichen - Universität von Buenos Aires als Fakultät zugeordnet wird. Gera wird mehrfach zum Dekan der Fakultät ernannt, von 1965 bis 1969, von 1979 bis 1982 und nochmals von 1982 bis 1985 in den letzten Jahren der Militärdiktatur und den schwierigen Jahren des Übergangs zur demokratischen Regierung unter Raúl Alfonsín.

Die Fakultät in Villa Devoto, seinem "barrio", die Calle José Cubas, bildet seinen Ankerpunkt, von dem aus er seine theologischen Akzente entwickelt und seine pastorale Arbeit in der geistlichen Begleitung vieler Seminaristen und Laientheologen entfalten wird. Joaquín Alliende, chilenischer Theologe und Weggefährte von Lucio Gera in der Aufbruchszeit der 60er Jahre, nennt ihn so einen "barriero" - einen Menschen, der seinem Wohnviertel verbunden ist, seinen alltäglichen Lebensrhythmen, Freuden und Leiden9. Zentraler kirchlicher und theologischer Ankerpunkt für sein Wirken ist das Zweite Vatikanum. Im unveröffentlichten Interview vom 12. März 1999 sagt Gera:

"Ich glaube, dass das Konzil praktisch den Anstoß für Geburt und Entstehen der Theologie in ganz Lateinamerika bedeutet hat, nicht nur in Argentinien. Dennoch möchte ich sagen, dass die Bewegung wahrscheinlich früher begonnen hat, nach dem Krieg, in den 50er Jahren, mit dem Erscheinen der lateinamerikanischen Zeitschriften, die hier bereits neue Anfragen formuliert haben. Die Suchbewegung im Blick auf Theologie und Pastoral beginnt früher […]. So können wir heutzutage aus der zeitlichen Distanz einige der Dinge der Zeitschrift 'Notas de Pastoral Jocista' beurteilen. Das erste was ich selbst zu schreiben beginne, hat mit der Pastoral zu tun; bei mir erwächst die Theologie aus der Pastoral […]. Ich glaube, dass meine Generation ein großes Auseinanderdriften von Theologie, Pastoral und Spiritualität geerbt hat […]. Auf der einen Seite litt die Pastoral, weil sie als eine rein pragmatische Realität gesehen wurde, oder höchstens als eine Kunst oder Gesamtheit von Normen im Blick auf zu Wissendes und das Handeln ist, aber als nichts weiteres. Aber auf der anderen Seite litt die Theologie, weil sie nicht von der evangelisatorischen Mission genährt wurde. Dasselbe galt für die Spiritualität. Die Theologie litt, weil sie nicht von der Spiritualität genährt wurde; aber ebenso litt die Frömmigkeit, weil sie so verstanden werden konnte, ein bloßes pragmatisches Nachbeten zu sein […]. Darum haben wir angefangen, Teresa oder Johannes vom Kreuz zu lesen […]. Aber muss man nicht noch einen Schritt weiter gehen? Was stand hinter diesem Auseinanderdriften? Ich glaube, dass der große Bruch in der Tiefe, der uns vermittelt worden ist, der zwischen dem Religiösen und dem Säkularen, zwischen Gott und Welt ist."10

Gera hat hier sehr deutlich auf die Dissoziation zwischen Theologie und Pastoral, zwischen Frömmigkeit bzw. Spiritualität und Reflexion auf diesen Glaubensvollzug hingewiesen - ein Bruch, der für ihn Ausgangspunkt für seine Beiträge im Entstehungsprozess der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung und bei der Entfaltung des spezifisch argentinischen Fokus dieser neuen Theologie gewesen ist.

Bereits 1964 hat Gera an einem Treffen in Petrópolis/Brasilien mit Juan Luis Segundo SJ und Joseph Comblin teilgenommen. Weitere Treffen, die zu den Gründungsmomenten der Theologie der Befreiung gehören, folgten. Er ist, so die Bemerkung von Scannone, "der wichtigste Vertreter einer theologischen Richtung, die sich, zumindest in ihren Anfängen, rechtmäßig Theologie der Befreiung nennen konnte"11. Es ist eine Theologie, die in der konkreten, konfliktiven Realität Lateinamerikas verankert ist, deren "Zeichen der Zeit" erschließt, wie es in beeindruckender Weise das Dokument von Medellín (1968) vorgelegt hat, die immer wieder neu den Wegen der Inkarnation des Wortes Gottes nachspürt und in der vorrangigen "Option für die Armen", in deren vielen Gesichtern das Gesicht Jesu Christi entdeckt wird, ein Schlüsselmotiv der neuen Theologie aufzeigt.

Gera wird in seine eigene Gestalt von Theologie aus dem lebendigen Dialog mit den Herausforderungen einer "Pastoral Popular" und im "Über-Setzen" der neuen europäischen theologischen Impulse in seinen Arbeiten in Lehre und Forschung an der theologischen Fakultät in Buenos Aires finden. Viele Rezensionen, die er in den 70er Jahren veröffentlicht hat, gehen auf die Impulse Karl Rahners SJ für die Pastoraltheologie ein und stellen die ekklesiologischen Arbeiten Yves Congars OP der argentinischen Theologie vor. Theologie versteht Gera dabei als ein Zusammenspiel verschiedener Stimmen, als Arbeit in einer Equipe, in der er Lehrer, Seelsorger, Berater und Freund ist.

Er nimmt seit Ende der 60er Jahre an den von der argentinischen Gesellschaft für Theologie organisierten pastoraltheologischen Treffen teil, ist theologischer Berater der Bewegung der Priester für die Dritte Welt, die 1967 in Argentinien entstanden ist, Mitglied der theologisch-pastoralen Reflexionsgruppe des CELAM, von 1969 bis 1974 ist er in der Internationalen Theologenkommission in einer von Karl Rahner geleiteten Arbeitsgruppe zur Theologie der Hoffnung tätig, er ist Berater für die Bischofssynoden 1969 und 1971 und, von seinem Freund und Weggefährten, dem argentinischen Kardinal Eduardo Pironio berufen, seit 1986 Mitglied im Päpstlichen Rat für die Laien, 1986 bis 1993 ist er Mitglied der argentinischen Arbeitsgruppe des deutsch-lateinamerikanischen Projektes zur Soziallehre der Kirche in Lateinamerika - ein Forschungsprojekt an der Universität Tübingen unter Leitung von Peter Hünermann, das in den Zeiten des Konfliktes um die Theologie der Befreiung die ideologischen Konfliktlinien zwischen Soziallehre und Befreiungstheologie entschärfen sollte12.

In Argentinien begleitet Gera die Pastoralkommission COEPAL (Comisión Episcopal para la Pastoral, 1966 bis 1973), die das Projekt einer "Pastoral popular" verfolgte, das angesichts der massiven Spannungen in der argentinischen Kirche und zunehmender politischer und sozialer Gewalt auf der Ebene der Basisorganisationen vom argentinischen Episkopat unterbunden wurde. Gera wurde Mitglied der Bischöflichen Kommission für Glauben und Kultur, er erarbeitete die Vorlagen für zentrale kirchliche Dokumente wie die "Declaración de San Miguel" (1969), eine pastorale Positionierung der argentinischen Kirche in der Folge von Medellín, und dann in Zeiten der Diktatur die Vorlage für das Dokument "Iglesia y Comunidad Nacional" (1981) in Zusammenarbeit mit Carmelo Giaquinta, das die Gewalt der Militärdiktatur anprangerte und auf theologisch-pastoraler Ebene Wege einer nationalen Versöhnung skizzierte. Die Zeit zwischen Veröffentlichung der Enzyklika "Evangelii nuntiandi" und der Dritten Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Puebla (1979) war - so Beobachter der Theologie von Gera wie Scannone, Sebastián Politi und Carlos María Galli -, die Blüte der Entfaltung seiner Theologie, in der er die - auch Jorge Mario Bergoglio prägenden - Grundlagen der argentinischen "teología del pueblo" legte. Diese Überlegungen gingen auch in viele der späteren Texte Geras zu Fragen und Herausforderungen der "neuen Evangelisierung" ein; die "Lineas pastorales para la Nueva Evangelización" (1990) des argentinischen Episkopats wurden von ihm entscheidend vorbereitet.

Gerade durch diese Vernetzung und sein Verständnis von Theologie als Arbeit in einer Equipe, durch seine verlässliche und konstante Präsenz in der theologischen Fakultät in Buenos Aires, hat Gera einen entscheidenden Einfluss auf die Generation der argentinischen Theologen und Theologinnen der Gegenwart. Das wird deutlich in der 1997 von Ricardo Ferrara und Carlos María Galli vorgelegten Festschrift anläßlich der 50-Jahr-Feier seiner Priesterweihe und der 40-Jahr-Feier seiner Präsenz an der Fakultät in Buenos Aires13, vor allem in der beeindruckenden Sammlung seiner theologisch-pastoralen Schriften, die von seinen Schülern Virginia R. Azcuy, Carlos María Galli, Marcelo González und Carlos Caamaño in zwei Bänden (926 S. u. 1030 S.) herausgegeben, eingeleitet und kommentiert worden ist - ein wichtiges Werk zur in Deutschland eher unbekannten Geschichte der argentinischen Theologie, in dem in der Einführung in die verschiedenen Epochen auch zentrale Texte von Weggefährten und Freunden Lucio Geras aufgenommen worden sind, die "voces argentinas"14: vom Religionsphilosophen Héctor Mandrioni, dem langjährigen Weggefährten an der theologischen Fakultät und dann Kardinal Eduardo Pironio, dem in der "Pastoral popular" verankerten Priester und Theologen Rafael Tello, dem Kollegen an der Fakultät in den 70er Jahren und dann Erzbischof von Resistencia Carmelo Giaquinta und dem Jesuiten und Philosophen Juan Carlos Scannone, oder auch von Glaubenszeugen der argentinischen Kirche wie Bischof Enrique Angelelli, der in Zeiten der Diktatur am 4. August 1976 bei einem bis heute nicht aufgeklärten Verkehrsunfall umgekommen ist.

Kardinal Pironio hat anlässlich des 50-jährigen Priesterjubiläums von Gera 1997 von Rom aus, kurz vor seinem Tod, eine - am Ende von Band 2 aufgenommene - "Carta de amistad" (Freundschaftsbrief) für Gera verfasst, in der er ihn als "kontemplativen Theologen"15 beschrieben hat. In seinem Arbeitszimmer im Karmel in Buenos Aires, bereits von seiner Krankheit geprägt, hat Gera die Korrekturen an den gesammelten Schriften vorgenommen und blickt in einem Schlusswort auf seinen Weg zurück - ein Vermächtnis, das Ausdruck dieser kontemplativen Haltung ist, seiner Demut und Bescheidenheit, in dem er den Kreis seiner Schüler und Schülerinnen als seinen größten Schatz bezeichnet hat:

"Ich glaube, dass ich ein guter Theologieprofessor gewesen bin, ohne dass ich so weit gekommen bin, ein wirklich origineller Theologe zu sein. Was mit der Bezeichnung 'gesammelte Schriften' wohl gesagt werden soll, ist eher der von meiner Generation seit Mitte des letzten Jahrhunderts erfahrene Anspruch, Theologie und Pastoral nicht aufzuspalten, sondern die pastorale Aktion von einer theologischen Denkstruktur her zu orientieren und korrelativ dazu das theologische Denken in die konkreten geschichtlichen Kreuzungen hinein zu bringen. Genau von dieser inneren Notwendigkeit aus scheint in unserem Land und in Lateinamerika eine eigenständige theologische Reflexion ihren Ausgang genommen zu haben, ohne Zweifel sehr anfanghaft, aber es war ein wirklicher Beginn, wie ein kleines Samenkorn, das in kurzer Zeit vom Ereignis des Zweiten Vatikanischen Konzils befruchtet worden ist." 16

Und weiter heißt es:

"Aber ich sehe, dass ich auch etwas schuldig geblieben bin, nämlich nicht ein theologisches Werk von großer Bedeutung verfasst zu haben, wie es einem Professor entsprochen hätte, der über vierzig Jahre Theologie doziert hat. Ich habe dennoch die Genugtuung, dazu beigetragen zu haben, hinter mir eine Gruppe von jungen Theologen und Theologinnen zu lassen, die meine Schüler gewesen sind." (II, 1007)

Die letzten Lebensjahre hat Gera im Karmel verbracht, als Beichtvater und theologischer Begleiter der Kommunität, aber auch immer noch offen und ganz Ohr für seine Gäste. Er ist am 7. August 2012 gestorben und in der Kathedrale von Buenos Aires bestattet worden - die letzte Ehre, die ihm Kardinal Bergoglio, der spätere Papst Franziskus, erwiesen hat.

Die "teología del pueblo": Lucio Gera und die spezifisch argentinische Gestalt der Befreiungstheologie

In seinem in der "Civiltà Cattolicà" veröffentlichten Interview hat Papst Franziskus im Blick auf die Kirche das Bild des "Volkes Gottes" in das Zentrum gerückt:

"Das Bild der Kirche, das mir gefällt, ist das des heiligen Volkes Gottes. Die Definition, die ich oft verwende, ist die des Konzilsdokuments Lumen gentium in Nummer 12. Die Zugehörigkeit zu einem Volk hat einen großen theologischen Wert: Gott hat in der Heilsgeschichte ein Volk erlöst. Es gibt keine volle Identität ohne die Zugehörigkeit zu einem Volk. Niemand wird allein gerettet, als isoliertes Individuum. Gott zieht uns an sich und betrachtet dabei die komplexen Gebilde der zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich in der menschlichen Gesellschaft abspielen. Gott tritt in diese Volksdynamik ein. […] Das Volk ist das Subjekt. Und die Kirche ist das Volk Gottes auf dem Weg der Geschichte - mit seinen Freuden und Leiden. […] Die Kirche ist die Ganzheit des Volkes Gottes. Ich sehe die Heiligkeit im Volk Gottes, seine tägliche Heiligkeit."17

Ähnliche Überlegungen hat er in "Evangelii gaudium" angestellt. Wenn der Papst den Begriff des "Volkes" in den Vordergrund stellt, so klingen für ihn darin auch der spezifische Begriff des "pueblo" in der argentinischen Kirche mit und die theologischen und ekklesiologischen Impulse, wie sie die spezifisch argentinische Gestalt der Theologie der Befreiung ausgeprägt haben und die der Priester und Theologe Carlos María Galli als "argentinische Theologie des Volkes" ("teología del pueblo"18) bezeichnet.

Scannone versteht diese als eine Strömung mit eigenen Zügen innerhalb der Theologie der Befreiung19, die aus der pastoralen und ekklesiologischen Erneuerung des Zweiten Vatikanums und den neuen pastoralen Impulsen der argentinischen Kirche erwächst. Argentinische Theologen wie Jorge María Mejía und Eduardo Pironio waren theologische Berater beim Konzil; Lucio Gera, Carmelo Juan Giaquinta und andere Kollegen haben zusammen mit ihnen in Argentinien zur Vermittlung des Konzils beigetragen: dass es "Argentinien angepasst wird und vor allem, dass wir Argentinien an das Konzil anpassen"20, so Gera. Die theologische Umsetzung der Impulse des Konzils war in die neue pastorale Bewegung der "Pastoral Popular" eingebettet, die Teil des Programms einer neuen "Pastoral de conjunto" der argentinischen Bischöfe war, koordiniert von der COEPAL, deren Berater Gera bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1973 war.

Viele Priester und Ordensleute, Laien, Männer und Frauen sind aus definierten Grenzen kirchlicher Sozialformen ausgebrochen. Der Weg an die Peripherien, die "inserción" in die Welt der Armen, brachte neue Gestalten der Gemeindebildung, die Basisgemeinden und Hausgemeinschaften, und die Ausprägung eines neuen Priesterbildes - des "cura villero", des in den Armutsvierteln tätigen Priesters - mit sich. Hier verbanden sich tradierte Formen der Volksreligiosität und der Sozialpastoral auf eine neue Weise. Der 2002 in Luján verstorbene Priester und Theologe Rafael Tello21 ist in der argentinischen Kirche der große, hochgeschätzte Protagonist dieser neuen Wege - Gera war ihm zutiefst verbunden. Die Nähe zu einfachen Menschen, zum "Volk", und ihrer gelebten Religiosität, ihrer spezifischen Ausprägung einer "Kultur der Armut", in der Freude und Leid, Fest und Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit, Musik, Gesang und die Wallfahrten zur "Virgen de Luján" eine unverwechselbare Verbindung eingingen, sind der Nährboden für die Entfaltung der spezifisch argentinischen Gestalt der Befreiungstheologie, zu der Gera - und mit ihm seine Weggefährten in der Pastoral und Kollegen an der Fakultät - beitrugen.

Entscheidend war dabei nicht bloß die "Hinwendung" zu den Armen, zum Volk, sondern der Ausgangspunkt vom Volk, wie es das 1969 erschienene Dokument von San Miguel der argentinischen Bischöfe formuliert:

Das "Handeln der Kirche darf nicht nur zum Volk hin orientiert sein, sondern auch und ganz wesentlich vom Volk selbst her."22

Der Begriff des "Volkes" geht auf die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanums zurück, aber auch auf den Volksgedanken der argentinischen Kultur, wie ihn das große Volksepos Martín Fierro von José Hernández (1872/79) kultiviert hat und wie er in der Volksbewegung des Peronismus aufgegriffen worden ist. Von Entscheidung ist vor allem die Einsicht, dass Gott den Menschen nicht als einzelnen erlöst, sondern dass das Werk des Heils vor allem darin besteht, ein Volk zu gründen23.

Gemeinsam mit den anderen Entwicklungen der Befreiungstheologie in Lateinamerika ist die Analyse der Realität, die Orientierung am Dreischritt des Sehens, Urteilens, Handelns und die radikale, als Bekehrung zum Evangelium verstandene Option für die Armen. Die wirtschaftliche und soziale Realität der Armut wird analysiert. Sie wird darüber hinaus, wie Gutiérrez es in seinen wegweisenden Texten formuliert hat, als Solidarität und Protest verstanden, die ihre Grundlage in der Kenosis Jesu Christi besitzen, der mit uns solidarisch gewesen ist, uns mit seiner Armut reich gemacht hat (vgl. 2 Kor 8,9) 24:

"Nur wenn die Kirche die Armut als solche zurückweist und arm wird, um gegen sie zu protestieren, wird sie in der Lage sein, das zu predigen, was ihr eigen ist, 'geistige Armut' nämlich, d. h. die Offenheit von Mensch und Geschichte gegenüber der von Gott verheißenen Zukunft."25

Diese "historische Kraft der Armen", so der Titel eines der zentralen Werke von Gutiérrez, verbindet die verschiedenen Entfaltungen der Befreiungstheologie. Lucio Gera und mit ihm andere wie Rafael Tello, Fernando Boasso, Gerardo Farrell und Juan Carlos Scanonne werden jedoch Kritik an der Fokussierung der Sozialanalyse üben, die bei Gutiérrez oder den Brüdern Boff aus dem Dialog mit europäischen Sozialwissenschaften erwächst. Die soziale und wirtschaftliche Realität der Armut wird nicht ausgeblendet, aber um den Blick auf die kulturelle Realität der Armen erweitert. Wer arm ist, ist Glied eines Volkes, ist - auch und trotz aller Armut - eingebettet in Erfahrungen einer Kultur, einer Geschichte, einer Religion.

Bereits Anfang der 70er Jahre brach der Streit um den Rekurs auf die Volksreligiosität aus, die in der Entfaltung der argentinischen Gestalt der Befreiungstheologie von zentraler Bedeutung war, während sie in diesen Jahren in den anderen befreiungstheologischen Strömungen in Brasilien, Chile oder Peru ausgeblendet wurde. Volksreligiosität ist für Gera die Religiosität,

"die der einem Volk eigenen und charakteristischen Kultur entspricht. Die Religiosität ist eine typische Haltung der Armen, und die Armen bilden auf eine vorrangige Weise ein Volk. Die Armen bringen auf eine verdichtete und typische Weise die Religion eines Volkes zum Ausdruck."26

Hier prägt sich der typisch argentinische Begriff des Volkes aus. Zum Volk gehören, so Gera, heißt Mitglied einer "Gemeinschaft von Menschen (sein), die auf der Grundlage der Teilhabe an derselben Kultur vereint sind, die in geschichtlicher Perspektive ihre Kultur durch eine bestimmte politische Willensbildung bzw. Entscheidung konkretisieren" (I, 724):

"Die erste Bedingung zu einem Volk zu gehören, ist das Bewusstsein, anderer zu bedürfen, und das ist für den Armen eine lebendige und verwundete Erfahrung. Deshalb ist er eher fähig, solidarisch zu sein - indem er anderen gibt und umgekehrt von ihnen etwas erwartet -, er ist eher fähig, ein Volk zu bilden. Denn 'Volk' ist letztendlich eine ethische Realität, die ein tiefes moralisches Handeln erfordert. Deshalb nennen wir auf zweifellos vorrangige Weise die Menge der Armen Volk." (ebd.)

Die argentinischen Theologen Virginia R. Azcuy und Carlos María Galli sehen den zentralen Beitrag des Denkens von Gera gerade darin, die Armen als Volk zu denken, als "kollektives Subjekt der Geschichte", die ein spezifisches religiöses und kulturelles Ethos ausprägen27.

Von Bedeutung für die Entfaltung der argentinischen "Theologie des Volkes" war die wohl bedeutendste Enzyklika Pauls VI. "Evangelii nuntiandi" (1975). Befreiung, Entwicklung und Evangelisierung der Kultur sind aufeinander zu beziehen, Kritik von ungerechten Strukturen ist angesagt, aber eine Kritik, die in den befreienden Impulsen des Evangeliums und der Nachfolge Jesu Christi gründet. Es ist sicher bezeichnend, dass das Schreiben "Evangelii gaudium" sich immer wieder auf diese Enzyklika von Paul VI. bezieht; der Papst zieht damit Linien aus, die die lateinamerikanischen Bischöfe seit Mitte der 70er Jahre in ihren Wegweisungen aufgenommen haben und die dann die Konferenz von Puebla (1979), zu der Lucio Gera als theologischer Berater geladen wurde, prägen.

Der Konflikt im Vorfeld und auf der Konferenz von Puebla war vor allem um die Ausrichtung am Kulturbegriff entbrannt. Sozial- und Kulturanalyse in den neuen Entfaltungen der lateinamerikanischen Theologie wurden gegeneinander ausgespielt, und es ist sicher auch der klaren Verankerung Geras in den befreienden Traditionen der Konferenz von Medellín zu verdanken, dass das Dokument von Puebla den Befreiungsbegriff und die Option für die Armen weitergeführt hat. Die Zeit vor und nach der Konferenz von Puebla gehört sicher zur kreativsten Schaffensphase des Theologen Gera; die pastorale, kulturelle und weisheitliche Fokussierung seiner Theologie, aber auch ihre klare Verankerung in der Erneuerungsbewegung, die das Zweite Vatikanum für Lateinamerika bedeutet hat, wird hier weiter entfaltet. Von Bedeutung war für ihn die "Reinterpretation" des Konzils aus den jeweiligen kulturellen Kontexten der Kirche. Damit hat er bereits in den 70er Jahren Entwicklungen vorbereitet, die den Fokus auf die Bedeutung einer Verbindung von Sozialpastoral und Evangelisierung der Kultur legen, wie er auch das Dokument der letzten Generalversammlung des lateinamerikanischen Episkopats in Aparecida (2007) prägt, das ganz deutlich die Handschrift von Kardinal Bergoglio trägt, der Vorsitzender der Redaktionskonferenz war.

Die Ausgestaltung der spezifisch argentinischen Gestalt der Befreiungstheologie ging nicht ohne Konflikte vonstatten, aber es ist falsch, Sozial- und Kulturanalyse gegeneinander auszuspielen. Lucio Gera - und mit ihm die "teología del pueblo" - hat den Befreiungsgedanken niemals verabschiedet. In anderen - marxistisch orientierten - Ansätzen der Befreiungstheologie, die sehr stark europäische sozialwissenschaftliche Ansätze rezipieren, sieht Gera die Gefahr, eine theoretische Basis für den Klassenkampf und die Spaltung der Einheit des Volkes zu liefern. Die "teología del pueblo" setzt nicht bei Oppositionen an, sondern geht von der - sicher auch immer zu suchenden - Einheit des Volkes aus, aber sie ist in gleicher Weise wie die anderen neuen lateinamerikanischen theologischen Ansätze auf eine Praxis der Befreiung bezogen:

"Die Interpretation des Konzils geht notwendigerweise durch eine sozio-politisch-kulturelle Analyse, nicht nur des Kontinents, sondern jeden Landes, bis dahin, dass es entscheidend und drängend ist, eine historisch-nationale Lektüre des Konzils zu leisten und, in der Tiefe, des Evangeliums selbst. Das führt zu einem Engagement des Gläubigen, der ganzen Kirche, in der Politik der Befreiung und der deutlichen Absage an unterdrückerische Systeme, Strukturen und Gruppen."28

Der politische Hintergrund für die Entfaltung der "teología del pueblo" ist aus einer kirchlichen Perspektive noch weiter aufzuarbeiten. 1976 etablierte sich durch den Putsch gegen die peronistische Regierung von Isabel Martínez de Perón die Militärdiktatur, die erst 1983 durch die demokratische Regierung von Raúl Alfonsín abgelöst wurde. Zu den vielen Gefolterten, Verschwundenen oder Ermordeten gehörten auch Bischöfe wie Enrique Angelelli, Ordensleute wie die französische Ordensfrau Alice Domon. Aber es gab auch Militärgeistliche, die die Flugzeuge segneten, die die Leichen der Gefolterten und Ermordeten über dem Río de La Plata abwarfen.

Gera war in diesen Jahren Berater der argentinischen Bischöfe und hat als solcher in Zusammenarbeit mit Carmelo Giaquinta die Vorlage des Dokumentes "Iglesia y Comunidad Nacional" erarbeitet, das am 8. Mai 1981 veröffentlicht worden ist29. Die Bischöfe prangerten die Gewalt in jeder Hinsicht an, sie stellten angesichts der Zerrissenheit des Landes genau die Frage, wie die Einheit des Volkes wiederherzustellen ist, wie Aussöhnung möglich sein kann. Gerade unter dieser Perspektive des Versöhnungsgedankens ist die argentinische "Theologie des Volkes" sicher weiter zu beleuchten. In den 70er Jahren schien - gerade in europäischer Perspektive - die Versöhnungstheologie das konservative Gegengewicht zur Befreiungstheologie zu sein. Eine aufmerksame Lektüre der Schriften Geras wird deutlich machen, dass Befreiung und Versöhnung zusammengehören, gerade vom Ansatz der Einheit des Volkes aus, das niemals ein idealistisch zu sehendes "eines" Volk ist, sondern von unterschiedlichen Interessen und Konfliktlinien gezeichnet ist. Die Frage, wie Einheit möglich ist, ist gerade aus einer theologischen und ekklesiologischen Perspektive zu entfalten.

Als Volk Gottes auf dem Weg durch die Zeit, als Volk unter den Völkern, das, so die Visionen des Jesaja, die Nationen einen kann (vgl. Jes 60,1-62,12), kommt der Kirche eine entscheidende Aufgabe in den - auch nationalen - Versöhnungsprozessen zu. Befreiung bedeutet vor allem auch, die Tiefenschichten der Kultur freizulegen, aus denen Hoffnung erwachsen kann, und genau hier kommt dem Glauben, der Volksreligiosität Bedeutung zu, neu Kräfte zu mobilisieren, die aus Unterdrückung von menschenunwürdigen Strukturen befreien können. Darin hat die argentinische "teología del pueblo" Schule gemacht, auch wenn sich Lucio Gera in seiner für ihn typischen Bescheidenheit gegen den Begriff der Schule wehrt, wie in dem unveröffentlichten Interview vom 12. März 1999:

"Wir hatten niemals den Anspruch, eine Schule zu bilden. Mich überrascht es ein wenig, davon sprechen zu hören. Es war eine Gruppe, die dachte, niemals glaubten wir, dies sei eine Art theologische Schule oder dass dadurch eine Tradition begründet würde […]. Die Sorge um die theologische Tradition bestand […], aber niemals habe ich gedacht, dass wir eine solche begründen sollten […]. Sicher war diese Art von vager Sorge nicht gänzlich von uns ausgeschlossen, als Auftrag für die Zukunft; langsam würde dies eine Tradition dann begründen. Deshalb meine ich, dass das doch ein bisschen zu groß für uns ist, hier von einer theologischen Schule zu sprechen […]. Ja, ich bin mir bewusst, dass Argentinien etwas Eigenes zum lateinamerikanischen theologischen Denken beigetragen hat […]. Etwas, was sich von dem unterscheidet, was die Theologien der anderen Regionen entwickelt haben: Themen wie Kultur und Volksreligiosität zum Beispiel. Deshalb glaube ich, dass es Elemente gab, die das Denken in ein bestimmtes Flussbett gebracht haben. Ich meinerseits glaube, dass ich etwas beitragen wollte, was nicht auseinanderdriften lässt, sondern verbindet: Kirche und Welt, Pastoral und Theologie, Spiritualität und Theologie. Ich glaube, dass dies mein besonderer Beitrag gewesen ist. Ich würde sagen, dass wir die Absicht hatten, bestimmte Reflexionslinien zu markieren, aber das ist keine vollendete theologische Schule."30

Die Dissoziation von Theologie, Pastoral und Spiritualität überwinden

Schülerinnen und Schüler haben beobachtet, dass Lucio Gera bereits in den 80er Jahren, nach der Diktatur, begonnen hat, den Stab an die jüngere Theologengeneration weiterzugeben31. Es scheint, als ob die Diktatur auch hier einiges gebrochen habe; sicher, Gera wird die Linien der "teología del pueblo" weiterverfolgen, er veröffentlicht viel zu Fragen der Evangelisierung der Kultur, zur Spiritualität, er ist präsent an der Fakultät in Villa Devoto, er ist beratend tätig für viele Bischöfe, Pironio, Karlic, Castagna, Rodríguez-Melgarejo und später auch Bergoglio.

Aber es scheint, als ob die Diktatur auch hier etwas zugedeckt hat und nicht hat weiter wachsen lassen, wie Gera in einem Rückblick auf diese bleiernen Jahre formuliert hat32.

"Wie nehme ich den Faden wieder auf, wenn die Periode des Schweigens vorbei ist? Wie überhaupt den Faden wieder aufnehmen? Ich persönlich greife wenig auf. Es beginnt bereits der Abschnitt, in dem mir meine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung macht",

so Lucio Gera im Interview von 199933. Sicher ist der Rückgriff auf spirituelle und weisheitliche Traditionen von Anfang an in seinem Denken präsent. Aber es fällt auf, dass der zweite Band seiner theologisch-pastoralen Schriften vor allem diese Ausrichtung hat. Gera ist seit 1994 Beichtvater im Karmel "Lisieux Argentino" in Buenos Aires, ebenso auch bei den Benediktinerinnen der Heiligen Scholastika in Victoria, und die letzten Lebensjahre wird er im Karmel von Buenos Aires verbringen - an einem Ort, in dem in der Tiefe des Gebets die Gebrochenheiten der Welt erinnert und in das befreiende und versöhnende Kreuzesleiden Jesu Christi gehalten werden. Das ist seine Weise, die "Aufgabe der Unterscheidung der Vergangenheit" auch im Blick auf die Diktatur zu leisten, eine Aufgabe, die er gerade auch der jungen Generation ins Herz schreibt34. Es ging ihm darum, die "Option für die Befreiung und für die Armen immer mehr im Kern des Glaubens zu verankern", im "evangelisierenden Kern"35.

Gera hat aus diesem Impuls heraus entscheidende Impulse für eine Verankerung der Theologie in den lebendigen Quellen des Glaubens und in den konkreten Anforderungen der Pastoral gegeben, er hat darum - so erinnert sich die Verfasserin auch an ein letztes Gespräch mit Gera im Karmel in Buenos Aires, an einem kalten Winternachmittag Ende Juli 2011 - auf die gegenwärtige Gefahr einer Dissoziation von Theologie und Pastoral hingewiesen. Theologische Reflexion, pastorale Praxis und Spiritualität müssen unter Beachtung der jeweiligen "Zeichen der Zeit" immer wieder neu aufeinander bezogen werden, und das heißt für Gera dann auch, dass Theologie eine geistliche Praxis im weiten Sinne ist, im Dienst der Humanisierung und einer politischen Praxis im Sinne der Option für die Armen36.

Papst Franziskus schöpft aus diesen Impulsen - wünschen wir ihm die theologische Begleitung in den Spuren von Lucio Gera, die der Trennung von Lehre und Pastoral wehrt und der Lehre durch eine in der Tiefe des Evangeliums verankerten Theologie neue Horizonte eröffnet, die der Freude und Hoffnung, Trauer und Angst des "Volkes" entspricht.

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