Deutschland: Wir können es nicht - Oder: Wenn Gott que(e)r kommt

Wir TV-Zuschauerinnen und -Zuschauer hatten es uns anders vorgestellt. Auch ich wollte im Gedenkmonat Oktober (Nationalfeiertag und Reformationstag) anders schreiben. Ich dachte an Johann Walters Lied „Wach auf, wach auf, du deutsches Land“ (EG 145) mit seiner eigentlich zweiten Strophe, inzwischen aus den Gesangbüchern verschwunden: „Gott hat dich, Deutschland, hoch geehrt“. Der Stadtkantor in Thorgau und Hofkapellmeister in Dresden, der (lt. EG) „Urkantor“ der lutherischen Kirche mag es eben „lutherisch“, nicht nationalistisch gemeint haben, aber das weiß man dann doch weder im 16. noch im 21. Jh. so genau, wenn man Lieder hört …
Und ich bin immer wieder selbst irritiert davon, dass ich – Jahrgang 1948 – beim Hören der deutschen Nationalhymne erst denke „Deutschland, Deutschland über alles …“, bevor ich mich zur dritten Strophe des Liedes von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben hindenke: „Einigkeit und Recht und Freiheit …“ Dabei wurde diese dritte Strophe schon 1952 verpflichtend, aber nicht unisono als Text der Nationalhymne festgelegt, später nach dem „Mauerfall“, im März 1990 stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass nur die dritte Strophe nach § 90 a Abs. 1 Nr. 2 StGB (Verunglimpfung der Hymne der Bundesrepublik Deutschland) strafrechtlich geschützt ist.
Aber da war ein Kirchentag, da waren Fußballspiele und da war der Krieg. Also schreibe ich anders.

Was die deutsche Fußball(national)mannschaft im Juni, als das Manuskript dieser Ausgabe der PASTORALBLÄTTER zur Abgabe stand, „abgeliefert“ hat, war peinlich. Hinten Löcher wir ein Schweizer Käse: „Gemäß Hochglanzmagazinen und Fernsehwerbung besteht Schweizer Käse aus mindestens 40 % Loch.“ lese ich im Internet. – In der Mitte ein Drehen und Winden um sich selbst, das meist mit einem Rückpass endet, der dann wieder über die dreigliedrige „Verteidigungs-Kette“ zum eigenen Tormann führt. –  Vorne – früher nannte man die, die vorne spielen „Stürmer“ –, also im „Sturm“ ein laues Lüftchen, das die 30-Grad-Juni-Hitze“ zum ermatteten Bleiben einlud. Mein Nachbar, etwas älter als ich, früher selbst Fußballer, schrieb an die regionale Zeitung einen Leserbrief – m.W. seinen ersten – mit dem Titel „Fußball ist ein Bewegungsspiel“.
Seit Jahren dümpelt das einstige Aushängeschild deutscher Kreativität, Härte und Arbeitskraft (Schönheit war in Deutschland noch nie einen Aushang wert, es sei denn am Kiosk), eben diese einst so erfolgreiche Fußballnationalmannschaft dümpelt, stottert und rumpelt nur noch vor sich hin, kommt nicht mehr über die Vorrunde einer Weltmeisterschaft hinaus, ob die Trainer nun Yogi oder Hansi heißen, ob die Spieler Jamal, Antonio, Leroy, Emre, Kevin oder Julian heißen, damit also zumindest internationalem Standard gewachsen sein müssten, oder ob die DFB-Vorsitzenden Niersbach, Zwanziger oder Neuendorf heißen, in Bestechungsvorwürfe verwickelt sind oder nicht. – Auf der DFB-Plattform lese ich über den ersten Präsidenten des DFB: „Professor Dr. Ferdinand Hueppe, in Neuwied geboren und in Prag als Dozent für Hygiene (sic!) tätig, wurde bei der Gründungsversammlung am 28. Januar 1900 im Leipziger ,Mariengarten‘ zunächst zum Vorsitzenden eines elfköpfigen Ausschusses berufen und neun Monate später beim 3. DFB-Bundestag in Frankfurt an die Spitze des Verbandes gewählt. Nur dreieinhalb Jahre später gab der integre (sic!!! G.E.) Vertreter einer der beiden Prager Großvereine seinen Führungsauftrag zurück, nachdem der DFB laut FIFA-Beschluss den beiden Prager Klubs nicht mehr offengestanden hatte.“
Fazit: Sie können es nicht.

Anfang Juni teilt die ARD in der Tagesschau mit: „Nur noch jeder Fünfte ist laut dem ARD-DeutschlandTrend mit der Arbeit der Regierung zufrieden – und auch die Heizungspläne sorgen für Verunsicherung. Die AfD klettert auf 18 Prozent.“
Nun also hatten wir – endlich – eine „Fortschritts-Regierung“, die sich der katastrophalen Veränderung des Klimas mit ihren Mitteln entgegenstellen und bei den nötigen Änderungen, sprich „Transformationen“, nun wirklich „keinen alleinlassen“ wollte. Das fortschrittliche, energische Dreigestirn wurde von Putin überrascht, der sich nicht um die Befindlichkeit deutscher Regierungen schert und die Ukraine mörderisch einkassieren oder vernichten will. Dass er über zigtausende Leichen geht, nimmt bei einem KGB-Professional nicht wunder. Dass er europäische Politiker längst gekauft hat, gehört zum Geschäft jedes Geheimdienstes. Dass er Demokratien destabilisieren will, ist eine (wie peinlich für unsere Ökumene) von der Russisch-Orthodoxen Kirche höchstoffiziell unterstützte heilige Pflicht. Stehen doch die Schwulen, Lesben, Woken, Grünen, Roten, Regenbogenfarbenen und Friedenslüsternen nicht nur in Russland einer „Wolke der Zeugen“ aus „Anständigen“ gegenüber.
Und Scholz, Habeck und Linder wissen nichts Besseres, als sich gegenseitig zu beißen, zu verschweigen oder klein und kleiner zu machen. Schaut doch jeder „auf seine Wählerinnen und Wähler“. Und Merz, das griesgrämige Merkel-Opfer aus der Opposition, wütet mit Wüst, der sich in NRW als Schattenkanzler aufbaut. Und noch stehen die Wahlen in Bayern aus.
Fazit: Sie können es nicht.

Und dann sind da noch wir. Wir feierten einen Kirchentag – in Nürnberg, bei bestem Wetter –, der sich gewaschen hatte. Alle waren da. Es gab beachtliche Veranstaltungen, tolle Gespräche, Streit, Zustimmung, Auseinander- und Zusammensetzung, neue Begegnungen, bleibende Eindrücke.
Und dann stellt sich – sonntags bei bester Sendezeit in der ARD, wo sonst um diese Zeit Sendungen wie „Immer wieder sonntags“ mit Stefan Mross und anderen laufen – ein gebürtiger südafrikanischer Pastor mit dem Namen Quinton Ceasar, Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Hiesfeld, beim Abschlussgottesdienst hin und predigt. Seine Gemeinde fasst zusammen das Übliche: „Reduzierung der Pfarrstellen, Verkauf zweier Gemeindezentren, eines Pfarrhauses, Umbau zweier Kirchen in ein Gemeindezentrum beziehungsweise einen Kindergarten“. Am 22. April 2018, wurde Quinton Ceasar als neuer Pfarrer in der evangelischen Gemeinde Hiesfeld eingeführt. Ceasar (38) stammt aus Südafrika und ist nun seit einem Jahr Pastor an der Friedenskirche im ostfriesischen Wiesmoor bei Aurich. Nun, am 11. Juni 2023 steht er mit wirrem, energiegeladenem Haar vor vier Mikrofonen und seinem eigenen Head-Set und sagt, Gott sei „queer“. Nein, er hat das nicht allein gesagt. Aber das reichte für einen shit-storm, für ein Durcheinander, für Überschriften und Diskussionen.
Der MDR vom 14. Juni 2023, 13:28 Uhr schrieb: „Die Rede des gebürtigen Südafrikaners Quinton Ceasar hatte es in sich. Der Pastor aus Wiesmoor in Niedersachsen forderte Veränderungen in der Evangelischen Kirche. Veränderungen im Umgang mit denen, die Diskriminierung erfahren. Immer wieder werde das aufgeschoben, sagte der dunkelhäutige (sic!!) Ceasar. ,Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir sind alle die Letzte Generation. Jetzt ist die Zeit zu sagen: Black lives always matter. Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer.‘“
Also, noch einmal für die, die nicht alles mitgehört haben. Der Kollege steht da und sagt – nicht in Worms oder in Rom, sondern in Albrecht Dürers Nürnberg:
„Die Zeit ist jetzt, zu sagen: Wir sind alle die Letzte Generation.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Black lives always matter.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Gott ist queer.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen: We leave no one to die.
Jetzt ist die Zeit, zu sagen: Wir schicken ein Schiff.
UND wir empfangen Menschen in sicheren Häfen.

Safer spaces for all. Gott ist immer auf der Seite derer, die am Rand stehen, die nicht gesehen oder nicht benannt werden. Und wenn Gott da ist, dann ist da auch unser Platz. Gott ist parteiisch.
,Check your privilege!‘ Wir haben alle Privilegien und können sie für mehr Gerechtigkeit einsetzen. Wir können füreinander Verbündete sein.
Wir sind hier. Wir sind viele. Wir sind nie wieder leise.
Ich weigere mich, euch heute anzulügen. Denn es ist auch die Zeit für das Ende der Geduld.
Jetzt ist die Zeit, um uns an die befreiende Liebe von Jesus zu kleben und nicht an Worte, an Institutionen, Traditionen und Macht, an Herkunft und Heteronormativität.
Klebe dich an die Liebe, die befreit. Klebe dich an die Liebe Gottes, die befreit.
,Liebe war noch nie eine Massenbewegung.‘
Aber ich bin Optimist.“
Und der Kollege wettert es nicht in seine Mikrofone. Er ist eher freundlich. Aber der Applaus reißt ihn fort. Er wird lauter, begeisterter. Erinnert an Martin Luther King. An den Bergprediger. Martin Luther hatte weniger Anhänger in Worms. Martin Luther King wurde nicht viel später erschossen. Der Bergprediger wurde gekreuzigt.

Ich bin begeistert, dass da einer von uns hinsteht und – vielleicht theologisch und homiletisch nicht an allen Stellen stringent – sagt, was zu sagen ist angesichts des Kirchentagsmottos „Jetzt ist die Zeit“.
„Wenn nicht jetzt, wann dann?“ schreibt Harald Lesch.
„Wann, wenn nicht jetzt?“ schrieb Primo Levi.
Ja, jetzt ist die Zeit, zu bekennen, zu handeln und für die Bekennenden und Handelnden zu beten und sich ihnen – so weit möglich – aktiv oder passiv anzuschließen. Whow!!
Mich hat ein dunkelhäutiger (dass das angesichts unserer „National“-Mannschaft noch geschrieben werden muss) Kollege begeistert.
Ich hätte vergleichbare Worte von unserer, von mir sehr geschätzten EKD-Ratsvorsitzenden Annette Kurschus erhofft.
Und ich hoffe, dass unser Kollege Quinton Ceasar beschützt bleibt. Ich bin sicher, er wusste gut, was er auslöst. Er steht und stand in einer langen, reformatorischen Tradition.
Nicht weil wir es besser wissen. Nicht weil wir Auserlesene wären. Nicht weil wir Mehrheiten hinter uns wissen. Sondern weil ich den Bergprediger hinter uns weiß, diesen „menschgewordenen Gott“, „der Mensch im Gott und Gott im Mensch“ – schreibt Anna Peters in ihrem Beitrag zum Reformationstag. Wir stehen nicht mit dem Rücken zur Wand, weder am Nationalfeiertag noch am Reformationstag, noch im Alltag. Wir stehen mit dem Rücken an Jesus Christus, der sagt: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium!“ (Markus 1,15)
Ich könnte auch sagen: „Es reicht! Die Zeichen schreien laut. Ändert die Wegweiser. Korrigiert die Richtungen. Traut dem Mann aus Nazareth!“
Fazit: Wir können das.

Gerhard Engelsberger

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