Mehr als ein Dutzend Sprachen finden im pfingstlichen Stimmengewirr zusammen. Neben Spanisch und Katalanisch singt Rosalía etwa auch Englisch, Arabisch, Latein, Ukrainisch und Deutsch. Begleitet wird sie vom London Symphony Orchestra. „Lux“ ist das vierte Studioalbum der aus Spanien stammenden Sängerin, auf dem sie nicht nur die Grenzen zwischen Pop, Flamenco und Klassik überschreitet, sondern immer wieder auch auf der Grenze transzendenter Suchbewegungen tanzt. Und die Kritiken überschlagen sich.
In „Reliquia“ besingt Rosalía das umtriebige Leben einer Frau, das, was diese auf ihrer Reise verloren hat – die Augen in Rom, die Sprache in Paris, die High Heels in Mailand und das Lächeln in London – „Aber mein Herz gehörte nie mir / Ich gebe es immer weiter / Nimm ein Stück von mir / Behalte es, wenn ich nicht mehr da bin“. Zwar singt sie auch davon, keine Heilige zu sein – und zugleich erinnert das Zurücklassen ihrer Körperteile an verschiedenen Orten eben doch an den Reliquienkult um Heilige. Im nachfolgenden Song „Divinize“ symbolisiert der rote, verbotene Apfel den Sündenfall, und sogleich spielt Rosalía mit diesem Motiv: „Ich weiß, dass ich zur Vergöttlichung geschaffen wurde“, bekennt sie singend, und weiter: „Bete auf meiner Wirbelsäule, sie ist ein Rosenkranz / Durch meinen Körper kannst du das Licht sehen“. Da changiert sie zwischen Verletzlichkeit und Stärke, lotet Grenzen aus und schreckt nicht davor zurück, provozierend mit der Körperlichkeit zu spielen, um eben diese im selben Atemzug spirituell zu verorten.
An „Mio Cristo Piange Diamante“, der groß angelegten Arie im Opernstil, die eines der musikalisch herausragendsten Lieder markiert – auch wenn sich dieser Superlativ angesichts der auf je eigene Art eindringlichen und eigenständigen Songs eigentlich verbietet –, hat Rosalía ein Jahr lang gearbeitet. Inspiriert von Luciano Pavarotti, dessen Aufnahmen sie als Kind regelmäßig im Haus der Großmutter, einer bekennenden Katholikin, hörte, singt sie über die Beziehung von Franz und Klara von Assisi.
Überhaupt, die Heiligen haben es der 33 Jahre alten Künstlerin angetan: Zu „Berghain“, auch Name des berühmten Berliner Clubs, der zu den meistdiskutierten Songs auf „Lux“ gehört, inspirierte sie Hildegard von Bingen. Angesichts des ganz und gar nicht heiligen Lebens der Heiligen Olga von Kiew fragt Rosalía in „La Madrugá“ nach dem Konzept von Heiligkeit. Im Wirken der Heiligen und Mystikerinnen – fast ausschließlich beschäftigt sie sich mit Frauenfiguren – findet sie Anregungen, um heutige Spiritualität weiterzudenken, anzufragen, aufzubrechen.
Rosalía zeigt eine bemerkenswerte Kenntnis kirchlicher Tradition und erweist sich zugleich als Frau des 21. Jahrhunderts. Da wird Gott auch mal zum Stalker, der den Menschen überallhin verfolgt, dessen steter Schatten er ist – und mag alles auch aus innigster Liebe geschehen, einen Moment des Zweifels, ob man so wirklich glauben, leben will, regt Rosalía doch damit an.
„Wie schön wäre es“, so setzt sie zu Beginn von „Lux“ an, „zwischen beiden Welten zu leben?“ Damit meinte sie den Himmel und die Erde, die sie gerne beide durchwandern würde, so durchlässig, wie es auch der Klangteppich ist, der sich im Hintergrund aufbaut und sich mit ihrer gläsern wirkenden, leicht getupften Stimme verwebt.
Ihr von religiöser Thematik durchdrungenes Album, auf dessen Cover die Sängerin in einem weißen Ordensgewand, das zugleich an eine Zwangsjacke erinnert, abgebildet ist, löst auch im Vatikan Begeisterung aus. Kardinal José Tolentino de Mendonça, Präfekt des Dikasteriums für Kultur und Bildung, lobt Rosalías spirituellen Zugang. Der für Rosalías Heimatstadt zuständige Bischof Xabier Gómez García merkt an, dass ihre Songs durchaus provokativ seien, die Sängerin aber auch mit absoluter Freiheit darüber spreche, was sie unter Gott verstehe. „Endlich ein Popstar, der den Katholizismus versteht“, titelte das „America Magazine“. Und in der Tat, man will sich wieder und wieder in dieses Album versenken und von der Musik durchfluten lassen.
Man wünschte sich glatt, manche Theologen würden ihre sonntäglichen Predigten von Rosalías Platte inspirieren lassen – von ihrer Wortgewalt, von der emotionalen Auseinandersetzung und dem Ringen um Glauben, Verortung in der Welt, existenziellem Zweifel und Ausstrecken nach Transzendenz, und das ganz ohne religiöse Phrasendrescherei. Denn letztlich ist „Lux“, dieses Album einer Künstlerin, die, wäre sie musikalisch nicht erfolgreich gewesen, nach eigener Aussage Theologie oder Philosophie studiert hätte, vor allem eins: eine kleine Offenbarung. Annika Schmitz