Christsein als Berufung

Immer wieder begegnet gegenwärtig der Begriff der «Berufung» – in spirituell-religiösen Kontexten, aber auch in Reflexionen zum Thema «Job, Beruf, Berufung» oder als Ausdruck zur Beschreibung eines erfüllten, gelingenden Lebens: Ein Mensch hat «seine Berufung gefunden», wenn Charakter, Stärken und Vorlieben mit dem alltäglich-konkreten Betätigungsfeld in stimmiger Weise resonieren. Der Berufungsbegriff zählt damit zu den vielen Begriffen, die nach einer zunächst primär religiösen Karriere eine säkulare Übernahme bzw. Adaptation erfuhren.

Es wäre aufschlussreich, der Begriffsgeschichte des Terminus «Berufung» einmal genauer nachzugehen. Seit biblischer Zeit changieren die damit verbundenen semantischen Gehalte zwischen politisch-gesellschaftlichen und religiösen Aspekten: Einerseits ist da die Bedeutungsdimension der Betrauung mit einem Amt, einer Verantwortung oder Verpflichtung; es kann auch der Aspekt der Übernahme einer Aufgabe gemeint sein. Der Vorgang einer «Berufung» hat also eine aktivische und eine passivische Dimension: Ein Mensch wird zu einem Amt oder einer Verantwortung berufen, er muss sie aber auch wählen und bejahen (womit sich bereits die inhaltliche Nähe zu dem sprachgeschichtlich verwandten Ausdruck «Beruf» abzeichnet). In diesem ersten Sinn hat der Berufungsbegriff in weltanschaulich neutral konzipierten öffentlich-staatlichen Kontexten inzwischen einen rein säkularen Charakter.

Zugleich ist dieser Begriff aber auch ein Zentralterminus der spirituellen Tradition. Dies rührt daher, dass nicht nur Menschen andere Menschen berufen – zu einem Amt etwa –, sondern dass auch Gott als derjenige erfahren werden kann, von dem ein Ruf, eine Beauftragung oder Indienstnahme ausgeht. Die großen alttestamentlichen Prophetenerzählungen sind frühe und herausragende narrative Versprachlichungen dieser Erfahrung, aber auch das Neue Testament kennt den Berufungsgedanken: Jesus selbst weiß sich in besonderer Weise von Gott berufen und gesandt, er selbst beruft aber ebenfalls Menschen in die Nachfolge. Dieser biblische Hintergrund prägt und trägt den Umgang mit dem Berufungskonzept in der christlichen Tradition bis heute: Im Blick ist dabei die dialogisch sich vollziehende Indienstnahme eines Menschen durch Gott für eine ihm spezifisch zugedachte Aufgabe, für deren Ausübung dem Menschen – wiederum als göttliche Gabe – die Voraussetzungen und Kräfte geschenkt werden.

Über lange Zeit hinweg sah man einen solchen Berufungsvorgang allerdings insbesondere dort als konkret realisiert an, wo ein Mensch den Schritt in einen geistlichen Stand, insbesondere in das Priestertum, oder in einen Orden vollzog. Der Berufungsbegriff bezeichnete somit nicht christliche Existenz allgemein, sondern war gewissermaßen ein terminus technicus für Priester- und Ordensberufungen. Diese terminologische Engführung ist in der jüngeren theologischen Reflexion des Berufungsbegriffs allerdings hinterfragt und aufgebrochen worden. Symptomatisch dafür ist ein Vergleich des Umgangs mit dem Berufungsbegriff in der zweiten und in der dritten Auflage des «Lexikon für Theologie und Kirche»: In der zwischen 1957 und 1968 erschienenen zweiten LThK-Auflage wird «Berufung» zunächst biblisch und dann nur noch spezifisch als «Berufung zum Priester- u. Ordensstand» erörtert, während die den Jahren 1993–2001 entstammende dritte Auflage «Berufung» systematisch-theologisch wie auch geistlich als eine prinzipiell für jedes Menschenleben applikable spirituelle Kategorie bewertet: Alle Menschen sind dieser Annahme zufolge von Gott gerufen und berufen – in eine Gottesbeziehung und zu einem bestimmten Lebensvollzug.

Diesem erweiterten Berufungskonzept ist das vorliegende communio-Heft gewidmet: Im Sinne eines Plädoyers für die Verabschiedung des immer noch anzutreffenden, auf Ordens- und Priesterberufungen verengten früheren Begriffsgebrauchs reflektiert es Berufung als Grundsignatur von Christsein überhaupt. Das Panorama des Heftes und die Breite des Themas eröffnet der Essay von Holger Zaborowski, der gegenwärtig gegenüber dem Berufungskonzept vorgebrachte Bedenken und Zweifel ebenso benennt wie die Fragen, denen sich eine theologische Auseinandersetzung damit zu stellen hat. Die Berufungsrealität scheint dann als eine in Freiheit vollzogene und das Leben verändernde Orientierung am Willen des liebenden Gottes auf, die sich als ganzpersonale Antwort auf einen Ruf Gottes verstehen lässt – ob sie sich in einem Menschenleben als Reaktion auf ein tiefes, unabweisbares Sich-Ergriffenwissen durch Gott oder in der Stille und Unscheinbarkeit des Alltags manifestiert. Ursula Schumacher entfaltet danach ein grundlegendes Verständnis des Berufungsbegriffs als geistliches Konzept, das in gewisser Hinsicht die Gesamtheit eines christlichen Existenzvollzugs bezeichnen kann, indem es eine individuelle Gestalt der Christusnachfolge bzw. die im jeweiligen Leben konkretisierte Gottesbeziehung eines Menschen ausdrückt. Der derart geweitete Berufungsbegriff beschreibt eine spannungsreich-vielfältige Realität, die sich in einer Reihe von Polaritäten fassen und eingehender reflektieren lässt.

Das Alte Testament bietet zwar in den Prophetenerzählungen die Zeugnisse herausragender Berufungserfahrungen. Es wäre aber, wie Georg Fischer herausarbeitet, grundlegend missverstanden, würde man das darin vertretene Berufungskonzept als verengt auf die Spitzenmomente der Geschichte Gottes mit den Menschen ansehen. Berufung ist in alttestamentlicher Sicht keineswegs nur die Sache einiger weniger religiöser Spezialisten. Vielmehr kennt das Alte Testament – ebenso wie das Neue – eine enorme Fülle dessen, was mit «Berufung» gemeint ist, und kann insofern für die begriffliche Öffnung des Berufungskonzepts durchaus als Beleg angeführt werden. Nach dem breit angelegten alttestamentlichen Panorama richtet der neutestamentliche Beitrag von Thomas Schumacher den Fokus ganz konkret auf einen Schlüsseltext paulinischer Berufungstheologie. Eine Textexegese von 1 Kor 7, die viele der hinsichtlich dieses Briefkapitels etablierten exegetischen Annahmen hinterfragt, kann aus dem paulinischen Text einige berufungstheologisch höchst relevante Aussagen erheben: Paulus priorisiert hier keineswegs einseitig eine ehelose Lebensweise, sondern betont vielmehr die Individualität eines göttlichen Rufes und gibt zudem wertvolle Hinweise für den konkreten lebenspraktischen Umgang mit der Erfahrung einer Berufung.

Auch die geistliche Tradition bietet eine Vielzahl von theologischen Reflexionen und Erfahrungszeugnissen, die für einen erweiterten Berufungsbegriff erhellend und weiterführend sind. Von zentraler Bedeutung für eine Spiritualität des Hörens auf Gottes Ruf ist dabei fraglos die Tradition des Jesuitenordens. Klaus Vechtel SJ skizziert in seinen Überlegungen den Beitrag, den die ignatianischen Exerzitien zu einer suchenden Auseinandersetzung mit einer Berufung leisten wollen und können. Insbesondere spielt dabei die Frage eine Rolle, wie sich das hinsichtlich des Berufungsbegriffs oft problematisierte Verhältnis zwischen dem göttlichen Willen und der menschlichen Freiheit ignatianisch einordnen und qualifizieren lässt. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz spürt dem Berufungsverständnis im Denken und in den Schriften der hl. Edith Stein nach. Die phänomenologisch geprägten Überlegungen Edith Steins eröffnen eine Perspektive auf das Berufungskonzept, wonach Berufung sich ereignet zwischen den Vorgegebenheiten der Natur und der Freiheit des Menschen, zwischen äußerer Welt und innerem Selbst, zwischen Suchen und Finden und zwischen Opfer und Erfüllung. Als lehramtliche Grundlage für einen gegenüber der früheren Engführung auf Priester- und Ordensberufungen erweiterten Berufungsbegriff kann schließlich die vom II. Vaticanum vorgelegte Theologie des Laienapostolats gelten, der Jan-Heiner Tücks Überlegungen gewidmet sind: Das Konzil bestimmt das Verhältnis zwischen Klerikern und Laien auf eine neue Weise, die – ohne Spezifika des Klerikerstandes zu negieren – den Laienstand in seiner durch die Taufe geschenkten Teilhabe am priesterlichen, prophetischen und königlichen Amt Jesu Christi als spezifische, aber gleichwertige Form christlichen Lebens betrachtet und damit eine Laienspiritualität fundiert, die Berufung als christliche Existenz und Zeugnisgabe im Alltag zu verstehen erlaubt. In den «Perspektiven» schließlich zeichnet Dorothee Bauer das Leben und Wirken des Pianisten Menahem Pressler nach, dem seit seiner Jugend im Dritten Reich und einer knapp geglückten Flucht nach Israel die Musik zur Berufung wurde. – Bleibt damit am Ende also doch eine begriffliche Entleerung des Berufungskonzepts? Wohl nicht, wenn es entlang der denkerischen Bahnen konzipiert wird, zu denen die verschiedenen Beiträge des Heftes anregen. Was allerdings bleibt, ist eine Weitung – und damit eine Bereicherung des Nachdenkens über Berufung.

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