Privilegien

Das Visum nach Russland ist noch nicht gültig. Daher muss Christian Heidrich noch einen Tag länger in Elblag bleiben. Zeit, um über die Privilegien eines Wanderlebens nachzudenken.

Privilegien
© Christian Heidrich

Ich bleibe noch einen Tag in Elblag, denn bis zur polnisch-russischen Grenze sind es nur wenige Etappen. Mein russisches Visum ist aber erst ab dem 15. Oktober gültig. Dies entspricht zwar nicht meinem Drang, den Rucksack zu schultern, loszuziehen und in Königsberg anzukommen, doch ich will mich nicht beklagen: Der vorausgesagte Regen hat sich - einmal mehr! - in Wohlgefallen aufgelöst, und die Aussicht auf einen Tag mit Beobachtungen und Lektüre, vielleicht auch mit einem Kinobesuch, stimmt nicht gerade depressiv.

Überhaupt, und das Wort begleitet mich schon seit Beginn der Wanderung, in Polen noch mehr als in Deutschland, ist mein Wanderleben ein privilegiertes. Mit dem Rucksack ziehe ich von West nach Ost, schaue mir schöne Landschaften und Orte an, begegne interessanten Menschen, schreibe abends meine Blogeinträge, die ich zumeist im Laufe des Tages im Geiste vorformuliere, und die Rechnungen für Kost und Logis bereiten mir auch keine schlaflosen Nächte. Diese Vorzüge sind groß. Sie wiegen die Unannehmlichkeiten der schmerzenden Füße, der "Fahrradweg"-Frustration und mancher Einsamkeit locker auf.

In Polen nehme ich meine Privilegien noch intensiver wahr. Denn hier ist die Armut, das soziale Gefälle, das Graue hinter der Prachtstraße, die billige Suppenbar in der Nachbarschaft der luxuriösen Shopping malls noch offensichtlicher. Mir ist klar, dass mein "Status", meine Freiheiten, meine Möglichkeiten nur bei einer sehr oberflächlichen Betrachtung mein Verdienst sind. Es ist vielmehr eine unentwirrbare Mischung aus Gabe und Anstrengung, aus Erbe und Fügung.

"To jest cos z wyzszej pólki", sagte mir ein junger Verkäufer in Bydgoszcz, bei dem ich die Zeitschriften "Zeszyty Literackie" und "Tygodnik Powszechny" kaufe. Sinngemäß übersetzt: "Das ist Lektüre mit Niveau". - "Alles andere ist doch langweilig", antworte ich und ernte einen etwas ratlosen Blick. Doch ich sage nur, wovon ich überzeugt bin. Ich wüsste nicht, weshalb ich meine - eher schwachen - Augen mit Seichtem, Uninspiriertem beschäftigen sollte. Deshalb vermisse ich auch das Radiohören, ein Medium, das am meisten Distanz wahrt und den Sinnen gnädig ist.

Wie werden unsere Geschmäcker und Vorlieben ausgebildet? Warum begnügen wir uns so oft mit dem Oberflächlichen? Wann merken wir, dass das Leben eine Tiefe hat? Die Psychologen haben unzählige, gute Antworten - und treffen den Kern dann doch nicht. Alltagsmetaphysik.

Am Rande:
In der Bestsellerliste des Medienriesen "Empik" steht "Wschód" von Andrzej Stasiuk (Eintrag von 28. September) auf Rang 7. Ein erstaunliches Ergebnis, denn das Buch bestätigt niemanden, handelt vom dünnen Firnis der Zivilisation, ist mäandernd und grenzenlos. Mit einem Wort: inspirierend.
Den Film "Sluzby Specjalne" ("Spezialdienste") wähle ich nur deshalb aus, weil es das einzige polnische Werk in dem Kinocenter ist. Doch der Thriller aus der Welt der postsozialistischen Geheimdienste hat eine hintergründige Pointe. Egal wie raffiniert - und gewissenlos - die Künste und Strategien der Protagonisten sind: angesichts der Existentialien, angesichts von Krankheit, Liebe, der Frage nach Vergebung und Gott verblassen alle unsere Sicherheiten. "Wer hat denn die Blume und den Apfel angemalt?", fragt der Mönch einen zunächst sehr selbstsicheren Agenten. Welch banale, welch schöne Frage.

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