Sünde?

Nein, ich habe keine Sünde geerbt. Der Kirchenvater Augustinus hat sich nach meiner Überzeugung vor 1600 Jahren geirrt.
Ich trage keinen Stempel, kein Tattoo, kein noch so crudes Zeichen auf meiner Haut. Es ist nur das kleine Kreuz, das 1948 der Pfarrer in Niefern auf meine Stirn gezeichnet hat, mit Wasser aus dem Taufbecken, und dies am Tag der „Währungsreform“ am 20. Juni 1948. 40,– DM war ich damals „wert“, – und meine Eltern, so erzählten sie, waren froh darüber.
Die „Erbsünde“ ist an mir abgeprallt wie ein scharf geschossener Ball an Beton. Meine Mutter hat mit 13 Brust-OPs alles bezahlt, was es zu bezahlen gibt für ein Nachkriegskind. Penicillin von der Besatzungsmacht im zerbombten Pforzheim für die Mutter. Ich war monatelang ohne Mutter in der Schneiderwerkstatt meines Vaters, behütet von meiner Tante.
Es muss ein armseliges „Erb-Sünden“ gewesen sein nach der Gefangenschaft des Vaters, nach den Versteckspielen vor „Fliegerangriffen“ in Gräben zwischen Elternort A und Elternort B der beiden Jungvermählten. Ein abgehungerter Mann aus – im Vergleich noch guter – englischer Gefangenschaft, quer durch Deutschland unterwegs von Nord nach Süd. Und sie, ein Mädchen, vor das sich der arbeitslose SPD-Vater noch schützend gestellt hatte angesichts alliierten Soldaten.
Sie erhielten zur Hochzeit „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Später habe ich dieses elende Buch an einen Nachbarn ausgeliehen – und nie wieder bekommen. Die Traubibel allerdings habe ich noch.

Mir scheint, dass diese persönlichen „Erinnerungen“ heute nur noch verstanden werden von Fliehenden aus dem Sudan etc. und von vor russischen Drohnen und Bomben Flüchtenden aus der Ukraine.
Das ist kein theoretisches Fabulieren über Sünde, gar Augustins sexualfeindliche „Erbsünde“. In den Höllen dieses Planeten haben „Schuldige“ wie „Unschuldige“ längst „bezahlt“; und das Leiden wird schlimmer werden.

Ich habe kein Verständnis dafür, dass getreu dem (nicht nur) amerikanischen Fundamentalismus vor allem Frauen leiden müssen. Lieben, schwanger werden, eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen – es sind meist Männer, die das als „Sünde“ bezeichnen. Mit dem vergleichbar – heuchlerischen – sexualfeindlichen Hintergrund.
Damit muss Schluss sein. Die Kirche sollte sich nicht hergeben für eine antiquierte, Menschen ins Elend stürzende „Erbsündelehre“. Aus seiner Zeit mag Augustinus mit viel gutem Willen noch verständlich sein. Wie auch die „Dreifaltigkeitslehre“ aus der Distanz als philosophisches Konstrukt verständlich sein mag.

Ich spreche als Seelsorger und „praktizierender“ Pfarrer:
Entsündigen wir die Sexualität!
Schätzen wir die Liebe!
Hüten wir die Schwachen!
Lieben wir die Fremden!
Schützen wir die Verängstigten!

Es muss klar sein – und gerne auch in Taufvorbereitungen wie in jeder Seelsorge betont werden: Wenn zwei Liebende miteinander schlafen, dann ist das keine Weitergabe der Erbsünde, sondern eine Freude mit- und aneinander.
Dies gilt allerdings mit der Einschränkung, dass dies in vollem gegenseitigem Einverständnis, in Freiheit und Respekt voreinander, ohne die Macht der Abhängigkeit und bei vollem Bewusstsein geschieht.

Was wäre allein schon damit gewonnen, wenn die sexuelle Liebe zueinander nicht mehr angst- und schuldbesetzt wäre. Nicht für die Kirche. Aber für die Liebe, die Redlichkeit, den freien Atem und den aufrechten Gang der Menschen.

Dass wir als Pfarrerinnen und Pfarrer nicht nur bei diesem Thema sehr unterschiedlicher Meinung sein können, zeigt die aktuelle Befragung von Autorinnen und Autoren der PASTORALBLÄTTER zum Thema „,Sünde‘ – Woran glaubst du ganz persönlich?“ (S. 987ff)

Ich wünsche Ihnen gesegnete Gottesdienste in der „dunklen“ Zeit des Novembers. Es wartet auf uns alle ein Licht. Trauen wir ihm über den Weg!

Gerhard Engelsberger

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