In seinem neuesten Buch nimmt Kardinal Reinhard Marx die grundlegende Frage nach der Rolle des Christentums in einer zunehmend säkularen, pluralen und oft auch zerrissenen Gesellschaft auf. Weder „Rückeroberung“ der Welt noch „Rückzug und Sekte“ seien „Optionen für die Zukunft des Glaubens und der Kirche“. Seine Argumentation geht vom Begriff „Kult“ aus, der auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper in gesellschaftlichen Debatten wirkt. Darunter versteht er nicht verstaubten Ritualismus, sondern das Fest der Begegnung mit Jesus von Nazareth, wodurch Gemeinschaft gestiftet wird. Der Kult ist für Marx keine Nebensache, sondern das Zentrum von Kirche. Aber: Dieser Gottesbezug darf nicht selbstbezogen bleiben. Genau hier liegt die entscheidende Pointe des Buches. Der wahre Kult ermögliche Neues, die Feier des offenen Himmels führe notwendig in die Welt und in das Engagement hinein.
In einer Zeit, in der Kirche häufig als moralisierende Instanz oder als spirituelle Nischenanbieterin wahrgenommen wird, plädiert Marx für eine Rückbesinnung auf diese doppelte Dimension. Der Kult bringe die „Notwendigkeit des Nutzlosen“ zum Ausdruck, stehe für „Unterbrechung“ der unbarmherzigen Ökonomisierung unserer Zeit im Schutz des Sonntags. So fordert das Buch eine Kirche, die aus dem Glauben heraus nicht in abstrakter Moral, sondern in gelebter Nächstenliebe und struktureller Verantwortung konkret wird.
„Kult“ lebt von Marx’ spürbarer Begeisterung für eine solche Kirche und für die Botschaft des Evangeliums sowie von den vielfältigen Bezügen, die der Kardinal herstellt. Das Buch gewinnt auch dadurch an Tiefe, dass Marx nicht kämpferisch, aber klar zu den vielfältigen anstehenden Herausforderungen für die Kirche Position bezieht: zur Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs, zum Umgang mit rückwärtsgewandten, populistischen Kräften, mit „sentimentalem Fundamentalismus“ und politischer Instrumentalisierung der Religionen, zugleich aber auch zu den Überlegungen zu einer synodalen Kirche ebenso wie zur Notwendigkeit, sich der Ämterfrage neu zu öffnen. „Kult“ ist ein starkes theologisches und höchst lesenswertes Plädoyer, Kirche auf der Höhe der Zeit präsent zu halten.