Der Hymnus Veni creator Spiritus hat die Memorialkultur der Kirche wie wenige Gebete sonst geprägt. Er kommt in der Tagzeitenliturgie vor und wird bei Bischofs- und Priesterweihen, aber auch bei der Eröffnung von Synoden und Konzilien angestimmt. Luther, Angelus Silesius und Goethe haben ihn übertragen und Komponisten wie Palestrina, Bach und Mahler vertont. Das lateinische Original stammt aus dem 9. Jahrhundert und wird dem Fuldaer Abt Hrabanus Maurus zugeschrieben.

I.

Veni creator spiritus Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein,
mentes tuorum visita, besuch das Herz der Kinder dein.
imple superna gratia
Die deine Macht erschaffen hat:
quae tu creasti pectora.
Erfülle nun mit deiner Gnade.

Der Hymnus, der sechs Strophen umfasst und hier in der Übertragung von Friedrich Dürr geboten wird, setzt ein mit einem sehnsüchtigen Drängen: Veni – visita – imple. Drei Imperative: "Komm – such uns auf – erfülle uns!" Die Anrufung zielt nicht auf ein numinoses Etwas oder eine spirituelle Energie, sie wendet sich mit dem "Schöpfergeist" an jemanden, der mit "du" angesprochen wird. Sein Kommen kann nicht kalkuliert, wohl aber erwünscht und erbeten werden. Wo der Heilige Geist erwartet und als Gast willkommen geheißen wird, da kann er sich einstellen. "Unsere leeren Herzen" (Thomas Hettche) sollen nicht leer bleiben, sie können sich bereiten und durch die himmlische Gabe erfüllt und verwandelt werden.

Erstaunlich ist, dass der Hymnus den Geist als "Schöpfer" (creator) bezeichnet. Im Apostolischen Credo ist das Attribut, "Schöpfer des Himmels und der Erde" zu sein, "Gott, dem allmächtigen Vater" vorbehalten. Statt dem Hymnus hier theologische Inkonsistenz vorzuhalten, kann die Bezeichnung creator spiritus als poetischer Fingerzeig auf die trinitarische Gleichordnung von Vater und Geist gelesen werden. Durch die Rede vom Schöpfergeist, die Goethe begeistert hat, da sie "geist- und kraftreiche Menschen gewaltig anspricht", wird zugleich ein Kontrapunkt gegen die Pneumatomachen gesetzt, die den Geist zu einer geschöpflichen Energie herabgestuft haben. "Wir können nicht bezweifeln, dass jener Geist Schöpfer (creator) ist, von dem wir wissen, dass er der Urheber der Inkarnation des Herrn ist", hat Ambrosius von Mailand betont. In der Tat kann das heilsgeschichtliche Datum, dass Maria, die virgo israelitica, "durch die Kraft des Höchsten überschattet" wurde (Lk 1,35), für die schöpferische Potenz des Geistes angeführt werden.

Der Geist aber soll im Inneren des Menschen wirken. Der Hymnus spielt auf die tiefen Abgründe und weiten Räume unserer selbst an, wenn er vom menschlichen Geist (mens) und Herzen (pectus) als dem Sitz unserer Gedanken und Gefühle spricht. Goethe wählt in seiner Übertragung den heute oft verpönten Begriff "Seele", um die lebendige Mitte des Menschen zu fassen, als stünde im lateinischen Original anima. Wie aber Christus, der "Immanuel" (Jes 7,14; Mt 1,23), mit uns gelebt hat, so kann die Schöpferkraft in uns Wohnung nehmen. Mit dem Entzug der körperlichen Präsenz, darauf hat Thomas von Aquin hingewiesen, ist der Vorzug verbunden, dass der erhöhte Christus durch seinen Geist innerlich nahekommen kann.

Dass der Körper durch die Einwohnung des Geistes selbst zum "Tempel Gottes" (1 Kor 3,16) werden kann, spart der Hymnus an dieser Stelle aus, erst später wird er auch die körperliche Konstitution des Menschen mit dem Geist in Verbindung bringen. Stattdessen spricht er von der "Gnade von oben" (gratia superna), die nicht berechnet oder verdient werden kann, sondern "umsonst gegeben" (gratis data) wird, um den ontologischen Abgrund zwischen dem unendlichen Mysterium Gottes und dem endlichen Mysterium des Menschen zu überbrücken. Die Gnade kann aufrichten, wenn gnadenlose Verhältnisse niederdrücken, sie kann unser Dasein mit freudigem Glanz durchdringen. Im Griechischen hängen 'Gnade' (charis) und 'Freude' (chara) eng zusammen.

II.

Qui diceris Paraclitus, Der du der Tröster wirst genannt,
donum Dei altissimi, vom höchsten Gott ein Gnadenpfand,
fons vivus, ignis, caritas du Lebensbrunn, Licht, Lieb und Glut,
et spiritalis unctio. der Seele Salbung, höchstes Gut.

Nach der Anrufung des Geistes (Epiklese) folgt eine hymnische Häufung von Namen und Bezeichnungen (Eulogie). Es scheint, als würde die überwältigende Erfahrung des Geistes eine hyperbolische Sprachbewegung freisetzen, die das Geistgeheimnis durch eine Fülle von biblischen Bezeichnungen umspielt. "Das Veni creator spiritus ist wie ein weitmaschiges Netz, das ins offene Meer der Schriften ausgeworfen ist und nur die größten Fische oder Perlen einsammelt. Der Autor tut nichts anderes, als die Perlen nach einem genauen theologischen Plan durch den bescheidenen Faden der Metrik miteinander zu verbinden und sie der Kirche anzubieten als leuchtende Kette", schreibt Raniero Cantalamessa.

"Paraklet" lautet die erste Bezeichnung aus dem Johannes-Evangelium (Joh 14,16.26; 15,26; 16,7). Sie wird gewöhnlich mit "Tröster" übersetzt, was Anklänge im Alten Testament aufweist (Jes 51,12; 66,13), aber den Sinn vielleicht nicht ganz trifft, der im Griechischen eher eine forensische Note hat und "Anwalt" oder "Beistand" meint. In den Abschiedsreden des Johannes-Evangeliums kreist alles darum, dass Jesus geht und zum Vater heimkehrt – der "andere Paraklet" aber kommt. Er wird als Gabe des Vaters angekündigt, die an alles erinnert und in die Wahrheit einführt. "Donum Dei altissimi – Gabe des höchsten Gottes", so lautet die zweite Bezeichnung (Lk 1,32.35; 24,49).

Das unzugängliche Geheimnis – der Superlativ altissimus verweist auf die göttliche Erhabenheit – macht sich zugänglich in der Gabe des Geistes, die sogleich als Gabe der Liebe (caritas) bestimmt wird. Paulus schreibt: "Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist" (Röm 5,5). Weitere Bilder, die aus dem Meer der Schriften herausgeholt werden, sind die "lebendige Quelle", die auf ein Wort Jesu anspielt, der die "Ströme lebendigen Wassers" mit dem Geist zusammenbringt (Joh 7,37-39). Das "Feuer" (ignis) erinnert an den Schmelztiegel, der die Schlacken wegbrennt, die reinigende Kraft von Reue und Umkehr, verweist aber auch auf die Flammenzungen, die beim Pfingstwunder auf die Apostel herabkommen (Apg 2,3-4). Die "geistliche Salbung" (spiritalis unctio) spielt an auf die Salbungen von Königen, Propheten und Priestern. "Der Geist des Herrn ruht auf mir, denn er hat mich gesalbt" (Jes 61,1). Bei seiner Antrittspredigt in Nazareth bezieht Jesus dieses Wort auf sich und weist sich damit als Messias und Gesalbten aus (Lk 4,18). Durch die Sakramente der Taufe, der Firmung, der Ordination und der Krankensalbung wird der Geist Jesu Christi weitergegeben, so dass die Kirche weniger als "Christus prolongatus", also als Fortsetzung der Inkarnation, denn als Gemeinschaft der Gesalbten in den Blick rückt.

III.

Tu septiformis munere, O Schatz, der siebenfältig ziert,
Dextrae Dei tu digitus, o Finger Gottes, der uns führt,
Tu rite promissum Patris Geschenk, vom Vater zugesagt
Sermone ditans guttura. du, der die Zungen reden macht.

Emphatisch wird die Schöpferkraft hier gepriesen, dreimal mit "du" angerufen. Die eine Gabe (donum) fächert sich in eine Vielfalt von Gaben (dona) und Charismen auf (1 Kor 12,4-11). Im kulturellen Gedächtnis der Kirche ist von den sieben Gaben des hl. Geistes die Rede: "die Gabe der Weisheit und des Verstandes, des Rates und der Stärke, der Wissenschaft und der Frömmigkeit und die Gabe der Furcht des Herrn" (in Erweiterung von Jes 11,1-2). Diese Gaben werden bei Jesaja dem kommenden Messias-König zugeschrieben. Jesus ist Träger dieser messianischen Gaben und gibt sie durch den Geist an die Seinen weiter. Neben dem siebenfältigen Gabenschatz ist vom Finger der rechten Hand Gottes die Rede, klangschön durch die Alliteration dextrae Dei digitus: "Wenn ich mit dem Finger Dämonen austreibe, ist das Reich Gottes zu euch gekommen" (Lk 11,20). Dieses Wort ist bei Matthäus auf den Geist bezogen (Mt 12,28). Die Wendungen von der "Verheißung des Vaters" (Lk 24,49) und der Zungenrede spielen auf das Sprachenwunder an Pfingsten an, das die babylonische Sprachverwirrung zurücknimmt und die Vision des Propheten Joel anklingen lässt (Joel 2,28-31).

IV.

Accende lumen sensibus, Zünd an in uns des Lichtes Schein,
Infunde amorem cordibus, gieß Liebe in die Herzen ein,
Infirma nostri corporis stärk unseres Leibs Gebrechlichkeit,
Virtute firmans perpeti. mit deiner Kraft zu jeder Zeit.

Die vierte Strophe nimmt die dringlichen Bitten der ersten wieder auf: Accende – Infunde – firmans. Wieder eine Trias von Verben, zwei Imperative, ein Partizip: "Entzünde in uns – gieße Liebe ein – stärke!" Die sieben Sinne sollen durch Licht erhellt, die Herzen durch Liebe erfüllt werden. Über das Innere hinaus geht die Bitte um Stärkung des Körpers – kunstvoll zum Ausdruck gebracht durch die poetische Verzahnung von infirma und firmans. Ob hier eine Anspielung auf das Gethsemane-Geschehen vorliegt, wie Alex Stock mutmaßt: "Der Geist ist willig, das Fleisch aber ist schwach (infirma)" (Mt 26,41)? Vielleicht, die müden Apostel als Sinnbild der Kirche, die eigentlich wachen und beten sollte, von der Schwerkraft der Natur aber heruntergezogen wird; aber es könnte auch sein, dass einfach der schwache und hinfällige Körper gemeint ist. Im Sakrament der Krankensalbung werden Stirn und Hände des Kranken mit heiligem Öl gesalbt. Dabei spricht der Priester: "Durch diese heilige Salbung helfe dir der Herr in seinem reichen Erbarmen; er stehe dir bei in der Kraft des Heiligen Geistes."

V.

Hostem repellas longius, Trib weit von uns des Feinds Gewalt,
pacemque dones protinus, in deinem Frieden uns erhalt,
ductore sic te praevio dass wir geführt von deinem Licht,
vitemus omne noxium. in Sünd und Elend fallen nicht.

Die fünfte Strophe nimmt auf den agonalen Charakter der christlichen Existenz Bezug. Die Welt ist der Schauplatz, auf dem sich der Glaube des Homo viator gegen die Mächte des Unglaubens bewähren muss. Statt das Böse unter einer Wolke von Andeutungen zu vernebeln oder ganz zu verschweigen, wird "der Feind" ausdrücklich genannt. Die personale Rede vom Bösen scheint uns heute unangenehm, da wir der Realität des Dämonischen lieber ausweichen oder aufklärungsstolz für den "Abschied vom Teufel" (Herbert Haag) votieren, als ließen sich die barbarischen Exzesse des Bösen in Geschichte und Gegenwart leicht auch rational erklären.

Der Hymnus geht davon aus, dass die Macht des Bösen auch im Alltag wirken und den Glauben gefährden kann. Gegen "den Feind", der in Mahlers Vertonung mit fanfarenartigen Posaunenstößen zurückgedrängt wird, bietet der Hymnus den Geist auf, dass er die Gabe des Friedens bringe. In politischen Systemen, die die Freiheit des Glaubens einschränken, kann das öffentliche Bekenntnis gefährlich sein: "Die Märtyrer legen ihr Zeugnis dank der Kraft des Heiligen Geistes ab", schreibt im 5. Jahrhundert Cyrill von Jerusalem. In der Rede vom Geist als wahren "Anführer" (ductor) kann eine versteckte politisch-theologische Lektion liegen, die alle Autokraten in die Schranken weist. Der Geist kann der Navigator sein, der in den unübersichtlichen Lebenswelten von heute die richtige Spur zu halten anleitet.

VI.

Per te sciamus da Patrem, Gib, dass durch dich den Vater wir,
Noscamus atque Filium, und auch den Sohn erkennen hier,
te utriusque Spiritum und dass als Geist von beiden dich,
credamus omni tempore. wir allzeit glauben festiglich.

Hier geht es um eine der sieben Gaben des Geistes, die Gabe der Erkenntnis, die durch die Verben scire und noscere angezeigt wird. Sie ist das Medium, das das Mysterium des Vaters und des Sohnes zu erkennen gibt und so dem von Zweifeln angefochtenen und von "Nihilismusanfällen" (Paul Ingendaay) unterspülten Glauben aufhilft: sciamus, noscamus, credamus. Ist der Glaube an Gott, den Vater, nicht eine Projektion, das Bekenntnis zum Sohn nicht eine spirituelle Überhöhung des galiläischen Wanderrabbis, die Anrufung des Geistes nicht Ausdruck einer infantilen Regression? Dagegen stehen Zeugen, die den alles umkrempelnden Einbruch Gottes, Christi oder des Geistes in ihrem Leben erfahren haben. Der Unbekannte ist nicht unbekannt geblieben, er hat sich bekannt gemacht. "Incomprehensibilis voluit comprehendi – der Unbegreifliche wollte sich begreiflich machen", sagt Leo der Große (DH 294).

Der Geist, der auch heute durch eine Wolke von Zeugen spricht, kann unserer Begriffsstutzigkeit aufhelfen, nicht so, dass wir uns am Unbegreiflichen durch begriffliche Operationen vergreifen, aber doch so, dass wir die Gabe der Offenbarung auch heute erkennen, dankbar annehmen und glaubend bezeugen können. Die Rede vom spiritus utriusque, dass also der Geist von beiden, von Vater und Sohn, ausgehe, ist von Heinrich Lausberg als poetischer Kommentar zur "filioque"-Kontroverse interpretiert worden. Wenn der Geist von "beiden", also vom Vater "und dem Sohn" (filioque) ausgeht, könnte der Hymnus als dogmenpolemische Stellungnahme im Nachgang zur Synode in Aachen 809 gedeutet werden, die sich gegen Byzanz gerichtet und für den Einschub des filioque ins Credo ausgesprochen hatte. Aber vielleicht soll auch einfach zum Ausdruck gebracht werden, dass der Heilige Geist das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn ist und Gott keine einsame Monade, sondern Wirklichkeit in Beziehung ist.

VII.

Der Hymnus Veni creator spiritus wird seit über einem Jahrtausend nicht nur still gebetet, sondern auch laut gesprochen und gesungen. Menschen kommen zusammen, mit Atem und Stimme geben sie dem Hymnus eine Klanggestalt. Die Metrik strukturiert die gemeinsame Zeit, literarische Assonanzen und ihre vokale Realisierung erfüllen den Raum. Wer den gregorianischen Choral einmal in einer Schola gesungen hat, wird durch die nüchterne Trunkenheit dieser Musik vielleicht selbst eine Erfahrung des Geistes gemacht haben. Solange jedenfalls der Hymnus in Kirchen und Kathedralen gesungen wird und dabei "sinnliche, affektive und intellektuelle Momente" (Paul Zumthor) angerührt werden, kann es mit der viel beklagten Geistvergessenheit des lateinischen Westens nicht ganz so schlimm sein.

In den kulturellen Raum der späten Moderne und die dünne Luft des verbreiteten Salon-Agnostizismus aber wirkt Gustav Mahler, der in seiner 8. Symphonie den Hymnus Veni creator spiritus geradezu pfingstlich vertont hat, als wolle er für den lebensspenden Atem und die schöpferische Potenz des Geistes einen musikalischen Gottesbeweis antreten, der auch außerhalb der Kirche Resonanz findet.

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