(Irr-)Wege zu einem langen LebenAnnäherungen an ein uraltes Thema

Der Wunsch, dem Alter ein Schnippchen zu schlagen, zieht sich durch die Jahrhunderte. Wie sich heutige Longevity-Programme in eine lange Traditionslinie einschreiben, zeigt dieser kulturhistorische Streifzug.

"Der Jungbrunnen", Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren, 1545© Lucas Cranach the Elder, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

I.

Das Altern aufhalten, es gar langfristig überwinden – das ist das erklärte Ziel von Tech-Millionär Bryan Johnson, der im Jahr 2021 das Anti-Aging-Projekt Blueprint mit dazugehörigem Startup ins Leben rief. "Unsere Spezies akzeptiert Altern, Verfall und Tod als unausweichlich", sagt der 48-jährige US-Amerikaner. "Ich finde, das Gegenteil sollte der Fall sein!" Um seinem Traum vom ewigen Leben näherzukommen, schluckt Johnson täglich 54 Pillen, lässt sich mit Infrarotlicht bestrahlen und versucht – stets begleitet von seinem Ärzteteam – vielversprechende Therapien aus. In Honduras unterzog er sich etwa einer experimentellen Gentherapie; zeitweise ließ er sich das Blut seines Sohnes injizieren. "Ich versuche, für die Wissenschaft bis zum Äußersten zu gehen."

Grundlegend ist für ihn das Monitoring seines Körpers. Kontinuierlich werden Johnsons Körperfunktionen überwacht, gemessen und ausgewertet. Die aus den gesammelten Daten abgeleiteten Algorithmen legen fest, was er essen, wie er schlafen und wie er trainieren soll. Den menschlichen Geist hält Johnson, der in der Vergangenheit mit chronischer Depression und einer Binge-Eating-Störung zu kämpfen hatte, für unzuverlässig. Menschen, so seine Überzeugung, hätten erhebliche Schwierigkeiten, im eigenen Interesse zu handeln, Algorithmen könnten das besser. Deshalb befürwortet er den Schulterschluss mit Künstlicher Intelligenz, vor allem mit einer zukünftigen KI-Superintelligenz:

"Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, die Zügel an andere Kontrollsysteme zu übergeben, die unsere langfristigen Interessen besser verwalten können als wir selbst."

Im Frühjahr verkündete er, mit seinem "Don’t die!"-Programm eine religiöse Bewegung ins Leben rufen zu wollen. Nun inszeniert sich Johnson also auch als Religionsstifter.

II.

So weit geht Peter Attia nicht, obschon auch er zu den Stars der Longevity-Branche gehört. Vor zwei Jahren veröffentlichte der Arzt, der für einen exklusiven Kundenkreis ein Diagnostikzentrum in Austin betreibt, das Buch Outlive: The Science and Art of Longevity, mit dem er die Bestsellerliste der New York Times eroberte. Auch in Deutschland wurde Attias Ratgeber ein Erfolg. Den Spiegel-Bestseller bewirbt der Ullstein-Verlag als "die Bibel für ein langes und gesundes Leben". Auf über 500 Seiten legt Attia dar, wie man – durch gezielte Prävention chronischer Alterskrankheiten und durch entsprechende Ernährung, Bewegung, Schlaf und Mental Health – sein Leben wesentlich verlängern und die Lebensqualität im Alter verbessern könne. Dabei gibt Attia zugleich Einblick in seine persönliche Geschichte, berichtet auch von Kindheitstraumata und seelischen Problemen.

"Ich tat alles dafür, um länger zu leben – nur mein Seelenleben war komplett aus den Fugen geraten", schreibt der Familienvater im letzten Kapitel seines Buches.

"Etwa 2017 war ich körperlich so fit wie eh und je, aber was hatte ich davon? Mit mir ging es steil bergab – sowohl emotional als auch beziehungsmäßig."

Erst durch Psychotherapie gelingt es Attia, sein seelisches Gleichgewicht zu finden. Im Epilog von Outlive übt er Selbstkritik an seinem vormaligen Biohacking- und Optimierungswahn, den er auf seine Angst vor dem Sterben zurückführt. "All die Jahre war ich von Langlebigkeit aus dem falschen Grund besessen gewesen." Das Wichtigste, resümiert der heute 52-Jährige, sei daher das Warum: "Warum wollen wir länger leben? Für was? Für wen?" Ein langes Leben lohne sich nur dann, wenn es sinnhaft und erfüllt sei. Hierzu gehört für Attia offenbar auch wirtschaftlicher Erfolg: Gerade bereitet er den Launch seiner Longevity-App Early vor.

III.

Der Wunsch nach Langlebigkeit und Verjüngung ist keine Erfindung des digitalen Zeitalters, sondern eine kulturgeschichtliche Konstante. Von der Rebellion des Menschen gegen Vergänglichkeit und Tod erzählen bereits antike Mythen und mittelalterliche Legenden. Und immer schon wurden diese Erzählungen von konkreten Maßnahmen vermeintlicher Lebensverlängerung begleitet: Aus frühen Hochkulturen sind heilkundliche Anleitungen, Regeln des Lebenswandels, der Hygiene und der Ernährung überliefert, die – ebenso wie Elixiere, magische Formeln und Rituale – ein langes und gesundes Leben versprachen.

Auch die Bibel prägte den Diskurs um Langlebigkeit. So ist bis heute sprichwörtlich vom "biblischen Alter" die Rede. Die im Buch Genesis verzeichneten Lebensalter der vorsintflutlichen Menschen – an ihrer Spitze Methusalem mit 969 Jahren – entwerfen das Bild einer ursprünglich weit über das natürliche Maß hinausreichenden menschlichen Lebensdauer. Ein paradiesischer Zustand, der durch die Sünde korrumpiert wurde? Denn im sechsten Kapitel der Genesis heißt es auch: "Da sprach der Herr: Mein Geist soll nicht für immer im Menschen bleiben, weil er auch Fleisch ist; daher soll seine Lebenszeit hundertzwanzig Jahre betragen." (Gen 6,3) Tatsächlich ist diese alttestamentliche Setzung bis heute kaum überschritten: Den Rekord hält die Französin Jeanne Calment (1875-1997), die nachweislich ein Alter von 122 Jahren erreichte.

IV.

In den Praktikos des Wüstenvaters Evagrius Ponticus (345–399) lesen wir:

"Der Mönch soll sich stets so bereithalten, als ob er morgen sterben müsste, und sich andererseits so seines Leibes bedienen, als ob er noch viele Jahre mit ihm zusammenleben müsse."

Das eine unterbinde Gedanken der Trägheit und mache den Mönch eifriger, das andere erhalte seinen Körper gesund und seine Enthaltsamkeit gleichmäßig.

V.

Besonders die gesellschaftlichen Eliten der italienischen Renaissance begeisterten sich für Fragen der Gesundheit, Diätetik und Lebenskunst. Aus ihrem Streben nach körperlichem Wohlbefinden erwuchs bald auch ein wissenschaftliches Interesse am Thema der Langlebigkeit. Der Arzt und Universalgelehrte Tommaso Rangone (1493–1577), eine der einflussreichsten Persönlichkeiten Venedigs, veröffentlichte im Jahr 1550 das Papst Julius III. gewidmete Traktat De vita hominis ultra CXX anno protrahenda, in dem er spekulativ eine Lebensverlängerung über die Grenze von 120 Jahren hinaus erörterte.

Weitaus größere Bekanntheit erlangten die Discorsi intorno alla vita sobria (dt. Vorstellung von dem Nutzen eines nüchtern und mäßigen Lebens, 1755) des Humanisten und Schriftstellers Alvise Cornaro (1484-1566). Die erstmals 1558 in Padua erschienene volkssprachliche Schrift wurde – und das über Jahrhunderte – vielfach aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt. Cornaro, über 80-jährig, verfasste sie als autobiografisches Zeugnis. Mithin zeichnen seine Discorsi eine Ähnlichkeit zur modernen Ratgeberliteratur aus, die auf eine persönliche und authentische Erzählweise setzt. Zu Beginn seiner Abhandlung beschwert sich Cornaro darüber, dass sich "drei böse Gewohnheiten" in Italien eingeschlichen hätten, die es zu bekämpfen gelte:

"Die erste ist die Schmeichelei samt dem Zeremoniell. Die zweite ist das Leben nach der Lehre Luthers, das bei einigen zu Unrecht mehr und mehr zur Gewohnheit wird. Die dritte ist die Schwelgerei. Diese drei Laster – ja, grausame Ungeheuer des menschlichen Lebens – haben in unserer Zeit die Aufrichtigkeit des bürgerlichen Lebens, die Frömmigkeit der Seele und die Gesundheit des Körpers zutiefst untergraben."

Gegen das Laster der Schwelgerei (crapula) setzt Cornaro das Ideal der Mäßigkeit. Dabei richtet er besonderes Augenmerk auf die gesundheitliche Wirkung der Ernährung und formuliert, gestützt auf eigene Erfahrungen, Empfehlungen, darunter auch fastenähnliche Speisebeschränkungen.

Dieses Plädoyer für eine maßvolle Lebensführung imponierte nicht zuletzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836). Goethes Leibarzt und Begründer der Makrobiotik legte im Jahr 1797 sein Hauptwerk mit dem programmatischen Titel Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern vor. Darin würdigt er Cornaro als wichtiges Exempel: "Cornaro der Italiener war’s, der durch die einfachste und strengste Diät und durch eine beispiellose Beharrlichkeit in derselben, sich ein glückliches und hohes Alter verschaffte". Selbst Peter Attia versäumt nicht, auf Cornaro Bezug zu nehmen und festzustellen, dass es sich bei seiner Schrift wohl um "den ersten Diät-Bestseller der Geschichte" handle.

VI.

"Mäßigkeit, immer wieder die Mäßigkeit" – auf diese Kardinaltugend schwört auch der französische Arzt Alexandre Guéniot (1832–1935), vormals Präsident der Académie nationale de médecine, der 1931 den erfolgreichen Ratgeber Pour vivre cent ans ou l’art de prolonger ses jours (dt. Die Kunst, 100 Jahre alt zu werden, 1933) veröffentlichte. Bei Fertigstellung seines Buches war er 99 Jahre alt:

"Da ich mich, Gott sei Dank, einer guten Gesundheit erfreue, habe ich mein Werk auch ungehindert zu Ende führen können – und es geschieht nicht ohne eine gewisse Ergriffenheit, daß ich heute dieses Vorwort unterzeichne."

Guéniots Credo: Altwerden müsse gelernt sein. Das bedeute, "auf diese oder jene Gewohnheit zu verzichten und andere dafür aufzunehmen". So rät Guéniot etwa zu Friktionsmassagen, regelmäßigen Atem- und Körperübungen, ausreichend Ruhe und Schlaf sowie zur Mäßigkeit im Essen und Trinken. Die hierzu erforderliche Selbstbeherrschung, davon ist der gläubige Katholik überzeugt, sei jedoch erst auf der Grundlage eines tugendhaften Lebens möglich. Im achten Kapitel wendet er sich in einer fiktiven Ansprache an seinen jungen Freund Theophil:

"Um nicht der Versuchung zu erliegen, musst du Dich getreulich an die Weisungen des Evangeliums halten, in dessen Vorschrift nach dem Ausspruch eines Weisen 'der ganze Ehrenkodex enthalten ist'. Mit dem Bewußtsein, den rechten Weg zu wandeln, wirst Du zugleich den inneren Frieden und Deine natürliche Heiterkeit bewahren."

VII.

So ist also noch Guéniots Longevity-Programm in eine christliche Tradition eingebettet, in der Heillehre immer auch Heilslehre bedeutet. In der säkularen, post-christlichen Gesellschaft findet das Ringen um Lebenszeitverlängerung hingegen in transzendentaler Obdachlosigkeit statt. Peter Attia stürzte das in eine Sinnkrise, die er ganz im Diesseits zu lösen versucht. Der Sinn eines (langen) Lebens bleibt für im Hier und Jetzt verankert: in emotionaler Ausgeglichenheit, gelingenden Beziehungen und beruflicher Erfüllung. Bryan Johnson wiederum überantwortet seine Existenz einem übergeordneten, algorithmischen Kontrollsystem, das für ihn die Stelle eines Glaubensprinzips einnimmt.

Am Ende steht vielleicht die Erkenntnis, die schon Philon von Alexandria formuliert hat, nämlich in seiner Abhandlung Der Erbe des Göttlichen, entstanden im 1. Jahrhundert n. Chr. Darin stellt der wohl bedeutendste Denker des hellenistischen Judentums fest, dass Langlebigkeit nicht mit einem biologischen, sondern einem geistigen Maßstab zu bemessen sei. Gemäß Mose, erklärt Philon, könne allein "der Weise" sich eines schönen Greisenalters und eines langen Lebens erfreuen, wohingegen "der Schlechte" sich – unabhängig von seiner Lebensdauer – fortwährend im Sterben übe oder "vielmehr dem tugendhaften Leben bereits abgestorben" sei.

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