Predigt Sonntag Exaudi Epheser, 1.6.2025Die Vermessung der Liebe

Predigt Sonntag Exaudi: Epheser 3,14–21

Wie erfüllt von Gottes Liebe kann man sein? Sehr, lehrt uns der Epheserbrief. Ich bin überwältigt von der überschwänglichen Art und Weise, wie hier ein Christ für seine Gemeinde betet. Das ganze Füllhorn seiner Liebe soll Gott über seine Gemeinde ausgießen; eine Gemeinde, die bereits fest in Gottes Liebe verwurzelt ist, davon ist der Verfasser des Epheserbriefs überzeugt. Ich staune über seine Überschwänglichkeit!
Sie unterscheidet sich doch sehr von der Art und Weise, wie heutzutage oft von der Gemeinde Jesu Christi geredet wird. Denke ich zum Beispiel an meine Predigten, fällt mir auf, dass ich eher selten die Gemeinde oder die Kirche als Ganzes zum Thema mache. „Ist das nicht zu churchy?“, frage ich mich dann. „Interessiert das am Ende nicht bloß Menschen, die mit der Kirche oder ihrer Ortsgemeinde eng verbunden sind?“ Und wenn ich dann mal in einer Predigt über die Kirche nachdenke, verfalle ich oft ins Klagen. Da sind die Kirchenaustritte, die unsere Gemeinden kleiner werden lassen. Da sind die Missbrauchsfälle, die das Vertrauen erschüttern. Da ist das Grundgefühl, dass früher in der Kirche alles besser war, auch wenn die Missbrauchsfälle der Vergangenheit ja ein Beleg dafür sind, dass dem nicht so war. „Ach, es ist nicht leicht mit deiner Kirche, guter Gott!“, seufze ich dann manchmal vor mich hin und jammere Gott etwas vor.
Da fasziniert es mich, wie anders der Verfasser des Epheserbriefs von seinen Gemeinden spricht. Nicht seufzend, sondern jauchzend! Sich darüber freuend, dass Jesus Christus in seiner Kirche präsent ist. Mich fasziniert seine Freude, weil der Epheserbriefschreiber eigentlich auch Grund zum Seufzen gehabt hätte. Das wird deutlich, wenn man den ganzen Brief liest, in dem sich immer wieder die Mahnung zur Einheit der Christenheit findet.
Der Epheserbrief ist ein Rundschreiben an mehrere Gemeinden, die vermutlich im westlichen Kleinasien lagen. Diese sollen sich als eine Gemeinschaft verstehen, als eine Kirche begreifen. Irgendwie tröstlich, dass das mit der Einheit der Christenheit auch schon im Jahr 90 nach Christus schwierig war. Was auch noch schwierig war: Die Zeit der Glaubenspioniere war vorbei. Paulus war schon zwanzig Jahre tot, Jesus Christus noch nicht wiedergekommen. Die Zeit der Naherwartung war vorbei.
Das alles aber lässt den Verfasser des Epheserbriefs nicht an Gottes Liebe zweifeln. Im Gegenteil: Er spürt, wie Gottes Liebe schon jetzt in seiner Kirche wirkt. Er glaubt daran, dass Jesus nicht erst am Ende der Zeiten wiederkommt, sondern dass er schon jetzt in den Herzen der Gläubigen wohnt. Es gibt also keinen Grund, den alten Zeiten der großen Glaubensvorbilder nachzutrauern. Sei selbst ein Vorbild des Glaubens! In diesem Sinn ist es nur folgerichtig, wenn der unbekannte Verfasser des Epheserbriefs die Autorität eines alten Apostels in Anspruch nimmt und sich in seinem Brief als „Paulus“ bezeichnet, obwohl dieser schon vor vielen Jahren gestorben war.

Mit diesen Gedanken im Hinterkopf frage ich mich, wozu uns die Worte des Epheserbriefs an diesem Sonntag Exaudi anstiften wollen. An Exaudi geht es um Abschied und Trost. Abschied nehmen von Jesus müssen die Jünger am Himmelfahrtstag. Trösten dürfen sie sich mit dem Versprechen, dass Gott ihnen seinen heiligen Geist schenken wird. Dieser Heilige Geist weht auch heute noch durch die Kirche Jesu Christi. Er bewegt die Herzen der Menschen, die sich im Namen Gottes auch heutzutage für ihre Mitmenschen einsetzen. Ich denke an die beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitenden in seinen Gemeinden und kirchlichen Einrichtungen: an die, die Einsame besuchen und Trauernde trösten. An die, die Kindergottesdienste gestalten und Jugendnachmittage vorbereiten. An die, die Geflüchteten helfen und Obdachlose speisen. An die, die Musik zur Ehre Gottes erklingen lassen. Und ich denke auch an die, die an Schreibtischen und in Sitzungen dafür sorgen, dass diese Arbeit auch in Zukunft noch ihre organisatorischen Grundlagen hat.
Es gibt so viele Gründe, Gott für seine Gemeinde und ihre Menschen zu danken! Lasst uns Abschied nehmen von der Kirche des Klagens, in der wir viel zu oft nur auf das schauen, was früher vermeintlich besser war! Lasst uns lieber über das staunen und für das dankbar sein, was Gottes Geist auch heute in seinen Gemeinden wachsen lässt! Lasst uns lieber darüber nachdenken, auf welchen neuen Wegen wir Gottes Wort den Menschen heute nahebringen können!

Wie aber nimmt man Abschied von der nostalgischen Kirche des Klagens? Der Epheserbrief legt uns heute ans Herz, für Gottes Gemeinden zu beten. Lasst uns das tun und Gott um Kraft und Liebe für seine Gemeinden in diesen schwierigen Zeiten bitten. Um Kraft, damit wir Christinnen und Christen in Deutschland dem Drang widerstehen, uns die „gute, alte Volkskirche“ zurückzuwünschen. Gott gebe uns den Mut, die Realität anzuerkennen, dass wir als Kirchen in Deutschland nicht mehr die Mehrheit der Gesellschaft darstellen. Und er gebe uns die Klugheit, daraus die richtigen Schlüsse für die Zukunft der Kirche zu ziehen.
Vor allen Dingen aber schenke uns Gott ganz viel von seiner Liebe, damit wir die notwendigen Veränderungen nicht mit kühlem Kalkül „durchziehen“, sondern mit heißem Herzen gestalten. Dazu gehört, dass wir der Trauer um das Vergangene Raum geben. Da sind die Kirchen und Gemeindehäuser, von denen wir uns schon getrennt haben und von denen wir uns noch trennen werden. Da sind die Arbeitsbereiche, die ihre segensreiche Zeit gehabt haben und die nicht weitergeführt werden können. An all diesen Orten und in all diesen Bereichen sind Menschen im Namen Gottes getröstet, gestärkt und ermutigt worden. Es ist alles andere als leicht, sich davon zu trennen. Gebe Gott uns das Einfühlungsvermögen, in diesen Zeiten des Abschiednehmens als Kirche beieinander zu bleiben.
Damit wir aber nicht in der Trauer um Vergangenes stecken bleiben, erinnere uns Gott immer wieder an die Worte seines Sohnes Jesus Christus. In diesem Zusammenhang denke ich besonders an seinen Spruch aus dem Lukasevangelium: „Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ (Lukas 9,62; Luther 2017) Wer zu lange auf Vergangenes zurückblickt, zieht krumme Kurven, oder er erstarrt sogar wie die arme Frau von Lot.

Wie aber kann man um Vergangenes trauern und zugleich den Blick in die Zukunft richten? Wie finden wir dabei das richtige Maß? Im Epheserbrief gibt es einen etwas geheimnisvollen Vers, an den ich bei dieser Frage denken muss: „Und ihr seid in der Liebe eingewurzelt und gegründet, damit ihr mit allen Heiligen begreifen könnt, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist, auch die Liebe Christi erkennen könnt, die alle Erkenntnis übertrifft, damit ihr erfüllt werdet, bis ihr die ganze Fülle Gottes erlangt habt“ (Epheser 3,17–19; Luther 2017). Es ist nicht ganz eindeutig, welche Breite, Länge, Höhe und Tiefe hier gemeint ist. Sind es die Maße der Liebe Gottes, die man eines Tages erkennen wird? Oder beziehen sie sich auf Gott selbst? Fest steht, dass der Glaube an etwas Maß anlegt, das man mit normalen menschlichen Möglichkeiten nicht erfassen kann. Eine Kirche Jesu Christi, die im Namen dieser Liebe handelt, sollte ihre Zukunft und ihr Wirken deshalb auch nicht nur von den Zahlen abhängig machen, die man für gewöhnlich misst und sammelt. Natürlich darf und soll man die Anzahl der Mitglieder, der Gottesdienstbesucher und der Ehrenamtlichen erfassen und auswerten. Nur sollten wir uns darüber im Klaren sein, dass damit noch nichts über den wichtigsten Wert der Kirche gesagt ist: die Liebe Gottes. Sie lässt sich nicht planen und in Excel-Tabellen eintragen. Sie geschieht manchmal spontan im Kleinen, wo zwei oder drei in Jesu Namen beisammen sind. Eine Kirche, die sich nach dieser Liebe ausrichtet, wird auch in Zeiten des zahlenmäßig Wenigerwerdens weiter an Liebe wachsen. Eine Kirche, die dieser Liebe Raum gibt, wird auch in Zukunft viel Grund haben, Gott überschwänglich zu danken.

Gebet (im Anschluss an Psalm 27):
Gott, wo deine Güte ist,
da verschwindet die Angst.
Wie wunderbar wäre es, wenn uns die Angst abhandenkäme!
Die Angst in uns, zu kurz zu kommen.
Oft ist sie es, die uns davon abhält, mit anderen zu teilen.
Befreie uns von der Angst,
zu wenig zu haben oder zu wenig zu sein.
Erfülle uns mit deiner Güte,
auf dass wir unseren Mitmenschen gütig und liebevoll begegnen.

Psalmvorschlag: Psalm 27 (778)
Evangelium: Johannes 16,5–15
Predigttext: Epheser 3,14–21
Liedvorschläge:
EG 451,1–5 (Mein erst Gefühl …)
EG 121,1–4 (Wir danken dir, Herr Jesu Christ)
EG 394,1–5 (Nun aufwärts froh den Blick gewandt)
EG 401,1–4+7 (Liebe, die du mich zum Bilde …)

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