Fremdprophetie dieser Güte ist immer willkommen. Religiöse Praxis und damit das Phänomen Religion werde nicht verschwinden, umso wichtiger sei die zugehörige Reflexionstheorie heute. Davon zeigte sich der Münchener Soziologe Armin Nassehi auf der Vollversammlung des Katholisch-Theologischen Fakultätentags Ende Januar in Würzburg überzeugt.
Der Fakultätentag widmete sich in seinem Studienteil der gesellschaftlichen Relevanz der Theologie, die derzeit vor allem mit dem Rückgang der Studierendenzahlen zu kämpfen hat. Der jüngsten Statistik zufolge ist die Summe der Studienanfänger zum Wintersemester 2023/2024 im Vergleich zum Vorjahr zwar von 1417 auf 1438 gestiegen. Sie lag aber im Herbst 2018, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der MHG-Studie, noch bei 2204 Studienanfängern; das entspricht der höchsten Anzahl im vergangenen Jahrzehnt. Die Gesamtzahl der Studierenden ist in diesem Zeitraum von 18.251 auf zuletzt 12.740 gefallen. Der Höhepunkt in den vergangenen beiden Jahrzehnten findet sich im Wintersemester 2012/2013 mit 22.821 Studierenden.
Die Bedeutung des Fachs für die Kirche, nicht zuletzt zur Ausbildung des Personals, bleibt unstrittig, wenngleich sowohl die Kontrollmechanismen (Stichwort: Nihil Obstat) als auch die Frage nach dem Status der Fakultäten weiterhin für Unruhe sorgen. Dies sieht man nicht zuletzt an der Diskussion um die Kölner Hochschule für Katholische Theologie. Für die Rolle im Konzert der Wissenschaften an staatlichen Universitäten ist aber von größerer Bedeutung, inwiefern die Theologie auch gesellschaftlich auf Resonanz stößt.
Die deutschen Bischöfe hatten im vergangenen Jahr gleich zwei Papiere zur Stärkung der Rolle der Theologie an der Universität veröffentlicht: Im Juni legte die Glaubenskommission der Deutschen Bischofskonferenz ein Papier vor, auf der Herbstvollversammlung wurde zudem ein Text der Kommission für Wissenschaft und Kultur verabschiedet (vgl. zuletzt HK, November 2024, 51).
Konstitutive Distanznahme
Die Bischöfe hoben die Eigenständigkeit der Theologie in Bezug auf die kirchliche Praxis hervor. Auch Nassehi betonte in seinem Vortrag die Notwendigkeit einer „kritischen Distanznahme“ für alle Reflexionstheorien gesellschaftlich wichtiger Teilbereiche, die sich in spätmodernen Gesellschaften ausgebildet haben. Viele Missverständnisse über die Theologie als eine der ältesten Wissenschaften beruhten auf der für sie notwendigen konstitutiven Distanz. Religionsausübung komme ohne Reflexion aus, die akademische Form wiederum sei selbst nicht zwingend ein Akt religiöser Praxis.
Der Clou in einer pluralistischen Gesellschaft bestehe nicht zuletzt darin, dass es keine feste oder auch nur zentrale „Position für richtiges Beobachten“ mehr gebe und die Perspektivendifferenz verschiedener Wirklichkeitsbereiche konstitutiv sei – auch wenn die Theologie mehr anziele. „Die kritische Distanznahme zum Eigenen ist die einzige Möglichkeit, die fehlende Gesamtrationalität einer komplexen Gesellschaft produktiv zu kompensieren“, so Nassehi. Das Paradox: Nur sie ermögliche „vernetzte Beobachtungen, die anerkennen, dass die moderne Gesellschaft sich Einheitsbeschreibungen und kollektiver Handlungsfähigkeit entzieht“.
Das erzeuge logischerweise eine Metareflexion der eigenen Beobachtung und führe zum spezifischen Mix aus Affirmation und Distanzierung: eine Loyalität dem Eigenen gegenüber auch bei interner Kritik. In diesem Sinne sei die Theologie mit ihrer methodisch kontrollierten Distanznahme wie andere Wissenschaften ein „Autonomiegenerator“ und erlaube eine „Distanzierung von den Zugzwängen einer Praxis, die sich in ihren Pfadabhängigkeiten verliert“.
Die Göttinger Politikwissenschaftlerin Tine Stein stieß in dasselbe Horn: Auch wenn der kulturelle Resonanzboden wegen mancher Traditionsabbrüche und der allgemeinen Säkularisierung schwächer werde, heiße das nicht, dass die Gesellschaft heute nicht für religiöse Überzeugungen empfänglich sei. Die Weisheit biblischer Texte erschließe sich auch religiös Unmusikalischen.
So sei interessant, wie stark sich beispielsweise Politiker ungebrochen auf die Bibel und ihre Botschaft beziehen und dabei teilweise sogar einen überparteilichen Konsens erzielten. Das betreffe die Rede von der Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens, der Rekurs auf die Nächstenliebe mit Blick auf die Sorge um Kranke oder Flüchtlinge bis hin zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen – so sei etwa selbst in der sächsischen Landesverfassung ausdrücklich von „Schöpfung“ die Rede. Die auch gesellschaftlich unverzichtbare Rolle der Theologie sei es da, Fragen nach Gerechtigkeit und Güte zu stellen.
Gerade angesichts der im Kulturbereich rege aufgegriffenen apokalyptischen Motive der Bibel und ihrer Umwelt angesichts multipler Krisen, so Stein, müsse man aus religiöser Perspektive doch auf die eigentliche Pointe der Apokalyptik aufmerksam machen. Es gehe eben nicht um das Weltende, sondern um die Wende einer gesteigert krisenhaften Situation: Angezielt werde das Andere der Gegenwart. In diesem Sinne sei es ein Akt der Aufklärung, das Hoffnungsmoment präsent zu halten, das mit der biblischen Apokalyptik verbunden sei. Die Politikwissenschaftlerin ausdrücklich: Eines der größten gesellschaftlichen Probleme sei aktuell der Verlust von Zukunftserwartungen, weil man das Kommende nicht mehr als offen, sondern in einem negativen Sinne als determiniert ansehe. Und genau an diesem Punkt müsse die Theologie Einspruch erheben.
Die engen Grenzen des Kirchlichen sprengen
In ihrem Insistieren auf dem Auftrag zur Weltgestaltung und dem Öffentlichkeitsanspruch von Glauben, Kirche und theologischer Wissenschaft traf sich Stein mit dem Anliegen des Bochumer Theologen Bernhard Grümme. Er plädierte für eine Theologie, die einen zu engen Rahmen des nur Kirchlichen sprengt.
Grümme kritisierte die Positionsbestimmung der Glaubenskommission der deutschen Bischöfe aus dem vergangenen Jahr, die zu sehr die Differenz zwischen Fakultäten an kirchlichen Hochschulen und staatlichen Universitäten herausstelle. Man bleibe damit letztlich zu sehr dem Binnendiskurs verhaftet. Immerhin greife dann das Papier aus dem Herbst die Formulierung von Papst Franziskus auf, Theologie sei ein „kulturelles Laboratorium“, und hebe ihre gesellschaftliche Bedeutung hervor. Auch der Vorsitzende des Katholisch-Theologischen Fakultätentags, Dirk Ansorge, betonte, welchen Rückenwind das Papier der Bischöfe für die Theologie bedeute.
Der Drang der Wissenschaft zur Öffentlichkeit ebenso wie die enormen Erwartungen an wissenschaftliche Expertisen durch die Gesellschaft müssten, so Grümme, für die Theologie zentral sein. Theologie müsse sich mitten im Ringen der Politik verorten, ohne darin aufzugehen. Zudem müsse die Theologie vor einer „überambitionierten Wissenschaft“ auf der Hut sein. Angesichts der Krisenphänomene stelle Aktivismus eine Versuchung dar. Grümme warnte vor einem moralischen Impetus in der Wissenschaft, als ob es in erster Linie darum gehe, die Welt zu einem besseren Ort zu machen – so nachvollziehbar das Bestreben sei. Hier gehe man mit Blick auf emanzipatorische Prozesse weit über den gebotenen verantwortungsethischen Rahmen hinaus.
Anzustreben sei vielmehr ein mittlerer Weg in der Wissenschaftskommunikation ohne jede „moralisierende Übernormativierung“. Vielmehr müsse es darum gehen, die Möglichkeit einer positiven Beschaffenheit der Welt aufzuzeigen. Das betreffe zum einen die wachsende Anzahl interdisziplinärer Studiengänge und anderer Zusammenarbeit wie bei Graduiertenkollegs, die es weiter auszubauen gelte. Konkret solle man Kooperationen nicht nur an der Universität, sondern auch in Museen und Konzerthallen, auf Instagram und in Youtube-Formaten anstreben.
An dieser Stelle waren sich freilich alle Referenten einig. Ganz im Sinne des Papiers des Wissenschaftsrates „Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen“ aus dem Jahr 2010 sei die Theologie nicht zuletzt für die Prävention gegen Fundamentalismus wichtig. Nassehi betonte, dass Theologie als Reflexionstheorie auf Indifferenz beim Publikum reagieren und andererseits jedem Radikalismus und Fundamentalismus begegnen könne. Letztlich sei eine herausragende Aufgabe der Theologie die „Zivilisierung von Konflikten und Abweichungsverstärkungen“, weil das Religiöse an sich eine „sehr wilde Praxis“ sei.
Stein knüpfte an Ernst-Wolfgang Böckenfördes Diskussion des Begriffs „politischer Theologie“ an. Sie hob freilich auch hervor, dass die Glaubwürdigkeit der Kritik an rechtsautoritären Tendenzen in der deutschen Gesellschaft durch Theologie und Kirche davon abhänge, die eigenen kirchlichen Strukturen nicht auszunehmen. Man müsse die „Dunkelkammern“ ausleuchten.
Religiöses Handeln funktioniert ohne religiöse Erklärung
Umgekehrt unterstrich Nassehi als Stärke christlichen Engagements, dass beispielsweise Seelsorger nichts dezidiert „Religiöses“ sagen müssten, um – indirekt – religiös relevant zu handeln. Diese Mittelbarkeit sei nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil mit der steigenden Anzahl derer, die sich nicht konfessionell verorten, die Theologie stärker gefragt werde. Grümme knüpfte an die Diskussion über die Thesen von Jan Loffeld an (vgl. HK, November 2024, 29-32), dass man sich noch viel stärker mit Menschen beschäftigen müsse, die mit Religion nichts Sinnvolles mehr verbinden. Die Theologie müsse sich intensiver mit den „Nones“ auseinandersetzen, die vielerorts die Mehrheit stellen. Der Austausch müsse wie in der Ökumene oder im interreligiösen Dialog auch noch stärker institutionalisiert geschehen.
Angesichts der eigenen Krise tut die Theologie gut daran, sich umfassend für ihre gesellschaftliche Relevanz zu engagieren (vgl. auch Theologie. Warum das Fach Zukunft hat, Herder Korrespondenz Spezial, Nr. 1/2024). Unterstützung aus Rom lässt dabei auf sich warten: Ein Akkommodationsdekret zur Apostolischen Konstitution „Veritatis Gaudium“ von Papst Franziskus, in dem dieser das „kulturelle Laboratorium“ als Maxime ausgegeben hatte, gibt es noch nicht. Das päpstliche Schreiben stammt aus dem Jahr 2017; Anwendungsbestimmungen für Deutschland sind noch nicht formuliert. Das römische Bildungsdikasterium sehe weiterhin Gesprächsbedarf, obwohl man sich in mehreren Gesprächsrunden schon weitgehend geeinigt habe, hieß es auf dem Fakultätentag.