Trost in der WüsteWenn die Gegenwart ratlos macht

Das ewige Wort kam nicht als Platon, unfehlbares Lehramt, Professor oder Pfarrer, gar Benediktiner oder Jesuit auf die Welt, sondern als unmündiges Kind.

Elmar Salmann
© Simon Stubbs

"Zu Hitler fällt mir nichts ein" soll Karl Kraus gesagt haben. War das ein unverzeihlicher Ausfall – oder der einzige abgründig kongeniale Einfall dem unfasslich Dämonischen dieser Gestalt gegenüber? Intellektuellen fällt meist zu viel ein; sie deckeln das Unwirkliche der sogenannten Wirklichkeit mit tausend überklugen oder auch dummen Ideen und Theorien zu. Das muss es auch geben – und gibt sich dann meist auch wieder. Aber wer wäre dem Leben gewachsen, könnte das Namenlose und Widersprüchliche, das Gemischte der Gefühle, Maßnahmen, Optionen auch nur von fern begreifen?

Mir fällt nichts ein zu den Grundaporien der Lage. Ich weiß nicht, was schlimmer oder besser oder verschlimmbessernder ist: die ständige Aufblähung des Sozialstaates und der damit immer neu angefachten Verheißungen und Erwartungen oder seine Eindämmung, die Einstimmung in den Mangel, der wahrscheinlich auf uns wartet; das Anheizen der apokalyptischen Phantasien in Sachen Klima oder die tausend halbglückenden Maßnahmen zur Eindämmung, immer neu zurückgenommen und gesteigert – von den Aporien zwischen beiden Optionen gar nicht zu reden; die Unterstützung der Ukraine und damit die wahrscheinliche Verlängerung ihrer Agonie – oder ein Arrangement mit Russland – aber wie? Das Pathos der Menschrechtsdemokratie, die um 1990 das siegreiche Modell der Neuen Geschichte zu sein schien und/oder die Einsicht, dass offenbar viele Kulturen dafür nicht oder kaum gemacht sind; das Pathos der Minderheiten und ihrer Rechte und/oder der Zerfall aller Mehrheitsmilieus; der Kleinterror der Gewerkschaft der Lokomotivführer und/oder die Boni der Manager; der Zerfall der institutionellen Religion und/oder das freie Fluten der agnostisch-spirituellen Stimmungen; die alte Intransigenz der Kirche in Sachen Moral und/oder das neue Lavieren, falsch ausschließend das erste, falsch verlegen und für alle demütigend das zweite; der strenge Sinn für das Mysterium Gottes, Christi, der Sakramente und/oder deren human-humanistische Ein- oder Auflösung?

Ich weiß nicht weiter, bin ratlos. Früher konnte ich diese Ratlosigkeit dialektisch und polar fassen, hin- und her wenden. Nun entschwinden die Horizonte, lösen sich Konturen auf, bekommen die Dinge kein Gesicht mehr. Als ob ich in einer endlosen Wüste wanderte.

Da fällt mir ein, dass die Religion in Höhlen und Wüsten, in äußerster Gefährdung geboren wurde, der schweifende Zeltgott die Urgestalt des Göttlichen war, der Gott der Wandlung von Gewalt und Opfer in Lebbarkeit. Und dass der Ewige Logos nicht als Platon, unfehlbares Lehramt, Professor oder Pfarrer, gar Benediktiner oder Jesuit auf die Welt kam, sondern als infans, unmündiges Kind; und dass wir von ihm aus dreißig Jahren nur ein einziges, wenn auch das alles wendende Wort des Adoleszenten haben: Wusstet ihr nicht…? Und dass dann zwei Jahre Wanderschaft folgten, ortlos, utopisch, in entzogener Mit-gegen-wart zu den Menschen, immer neu anders präsent, heilend, prophetisch, entlegen.

Wäre das die Zukunft der Religion, wäre es Trost oder Verweisung auf eine andere Sicht der Welt? Vielleicht ist der schwierige Segen, der uns heute zugemutet wird, ein con-forto, wie das italienische Wort heißt, ein Mit-Trost, in dem wir miteinander stark würden.

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