Dankbares StaunenÜber Peter Handkes "Schnee von gestern, Schnee von morgen"

Mit seinem neuen Band "Schnee von gestern, Schnee von morgen" setzt Peter Handke seine Suche nach Spuren einer leisen Transzendenz im Alltäglichen, Kleinen fort. Eine poetische Schule der Verlangsamung und absichtslosen Wahrnehmung, die am Ende offen lässt, ob die Sehnsucht nach jenem Frieden, den kein Mensch geben kann, Erfüllung finden wird.

Person am Meer
© Foto von Thomas Oxford auf Unsplash

I.

Das accelerando der modernen Lebenswelten – alles muss immer schneller und reibungsloser funktionieren – wehe, wenn nicht! Dem setzt Peter Handke auch in seinem jüngsten schmalen Bändchen Schnee von gestern, Schnee von morgen eine provozierende Verlangsamung des Tempos entgegen. Die mitunter etwas fahrig wirkende, dann aber wieder sehr gesammelte Denkbewegung eines Kreuz-und-Quer-Gehenden kommt unbeschwert daher, sie sucht dem Augenblick unterwegs abzulauschen, was er bringt – oder auch nicht. Schnee kommt, wann er will, Schnee geht, wann er will. Die vom Himmel herabrieselnden Flocken aber legen eine weiße Decke über die Welt, als wollten sie das bunte Treiben für eine Zeit lang beruhigen. Chill down.

II.

Schon in seinem Journal Gestern unterwegs und in anderen Büchern hat Peter Handke einen Kontrapunkt gegen das "velizoferische" (Goethe), immer mehr Fahrt aufnehmende Zeitalter und die damit einhergehende "Besinnlosigkeit" gesetzt. Das Gehen ist die dem Menschen gemäße Weise der Weltwahrnehmung. Schritt für Schritt auf Wiesen und Wegen, auf Straßen und Plätzen zu gehen, den Wind im Gesicht, die Sonne auf der Haut zu spüren und die Dinge, die sich dem Blick darbieten, wahrzunehmen, ja zu 'realisieren', was da ist. Ein abgebissener Apfel am Rand, zwei Raben zu Füßen, ein paar Pilze hinter einem Baum. Für das Realisieren der Präsenz der Dinge ist schon das Fahrrad zu schnell, erst recht das Auto- oder Zugfahren. Hier rauschen die Landschaften hinter der Scheibe nur flüchtig vorbei, während doch jeder Baum, jeder Strauch, jeder Stein, jeder Vogel als jubilierendes Mitgeschöpf Aufmerksamkeit verlangt. "Aufmerksamkeit – dieses natürliche Gebet der Seele", wie es in Celans Büchnerpreisrede Der Meridian (1960) mit Verweis auf Malebranche heißt.

III.

Man hat für das Endstadium der immer schneller laufenden Moderne die Metapher des "rasenden Stillstands" (Paul Virilio) geprägt. Alles rotiert immer rasanter, bis nichts mehr vorangeht. Auf rastlose Verausgabung folgt tiefe Erschöpfung. Burnout, Tinnitus, Herzrhythmusstörungen sind dafür körperliche Vorboten. Innehalten, zur Ruhe kommen, sich sammeln, sind gern gegebene Empfehlungen der postmodernen Lebenskunst. Für den rasenden Stillstand findet Handke en passent in Schnee von gestern, Schnee von morgen ein einprägsames Bild: "der Fliegenschwarm, der auf der Stelle fliegt, Augenblick um Augenblick – und jetzt gerade, augenblicks, ist er uns entwischt."

IV.

Das "absichtslose Aufsammeln oder Auflesen von gleichwas" weist immer wieder ein in ein dankbares Staunen über die Welt, führt in eine Weise der unwillkürlichen Beteiligung, die die müde Gleichgültigkeit hinter sich lässt, ja mündet ein in die poetische Preisung, ja "eine Litanei der guten Dinge, Schuhbänder, die halten, Schere, die schneidet, Tau am Morgen, Hosentasche ohne Loch, Streichholz, das du brennst, Bleistiftmine, die du nicht jetzt im falschen und gefährlichsten Moment der Dinge …" Da kann es auch vorkommen, dass der Kreuz-und-Quer-Gehende von Freude überrumpelt wird: "Freude, wo ist dein Stachel? – Stachel? – Will sagen: Anstachel. Das Gloria im Laufe der Jahrhunderte …"

V.

Der einsame Wanderer ist auf seinen Wegen nicht allein, sondern macht eine – von Theologischem ganz unbelastete – ‚synodale‘ Erfahrung, die aus der Mitwahrnehmung anderer erwächst, die ebenfalls unterwegs sind: "Nein, ich bin mitnichten allein, denn sowie ich, Schritt hier für Schritt, andere Alleinige mitgehen spüre, bin ich, statt der Alleingehende, dessen Antipode, nein Synpode."

VI.

Auch das Transzendenzbegehren schleicht sich in die Selbstverständigung des Kreuz-und-Quer-Gehenden ein, wenn es ihn überkommt, auszubrechen "nach anderwohin", mit einem Boten der anderen Welt:

"In der Epoche 'es war einmal', als das Wünschen noch geholfen hat, kam es vor, daß, sooft ich mich nicht am Platz, oder überhaupt ohne Platz fand, ich mir einen Leib-und-Seelen-Engel wünschte, mich hinten am Schopf zu packen, und weg mit mir, mit uns beiden, anderswohin – irgendwohin – jenseits der Grenzen, ins Namenslose."

Zugleich aber wird die Bewegung nach "anderswohin" in beflügelnder Begleitung eines Engels der poetischen Imaginationsgabe zugeschrieben und als Projektion entlarvt:

"Und solch ein Wünschen hat, in der Regel, auch geholfen, auch wenn ich selber den Schopflüpfengel gab, und der namenlose Ort jenseits der Grenzen allein in meinem Innern sein Wesen trieb."

Die Weiten des Weltinnenraums, die zuletzt Christian Lehnert in seinem Buch Ins Innere hinaus erkundet hat, als Zuflucht vor der allzu engen Enge der äußeren Welt.

VII.

Es gibt bei allem Hin- und Her-Irren im Unterwegssein aber auch einen Fluchtpunkt, der mehr zu sein scheint als Projektion oder dichterische Imagination, der im Vorübergehen angedeutet wird: "Es wird alles wieder gut. – Alles? Wieder? – Ja, alles, und ohne 'wieder': so gut, wie es nie war." Und wenig später bricht sich mit Andeutung auf die andauernden Kriege und Krisen die Sehnsucht nach der pax aeterna durch, die kein Mensch geben kann, die sich aber jeder wünscht: "Den Frieden, den gibt es nicht, den hat es noch keinmal gegeben, den Ewigen Frieden aber, ja doch, o ja."

Postskriptum

"Die Silhouette eines Unbekannten nähert sich nachts quer über die Steppe." Dieser Satz von Anton Tschechow ist Schnee von gestern, Schnee von morgen vorangestellt. Und das schmale Bändchen des inzwischen betagten Peter Handke endet mit einer literarischen Brechung, indem ein Chronist eingeführt wird, der über das Verschwinden des Gehenden eher mutmaßt als berichtet:

"Angeblich soll er vor einiger Zeit noch gesehen worden sein, als letzter Fahrgast hinten zusammengekauert im allerletzten Nachtbus. … aber kein Mensch kann eine Zeit sagen, wo er noch ging, und eine, wo er nicht mehr ging."

Es kommt die Zeit, wo der homo viator aufgehört haben wird zu gehen, wo er kein Proviant mehr braucht, auch kein geistliches, das ihm das "Hinübermahlzeiten" zum ganz Anderen ermöglicht – wird er am Ende des Weges die Brücke über den Abgrund passiert haben und angekommen sein? Ja, den ewigen Frieden erlangt haben?

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