Gedächtnis – Gegenwart – WandlungEin Nachruf auf Jan Assmann

Am 19. Februar ist der große Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann mit 85 Jahren gestorben. Sein Werk hat auch die Theologie herausgefordert, wobei Assmann selbst zeitlebens eine liebevoll-vornehme Distanz zu den Sinngehalten des Glaubens unterhielt.

Porträt von Jan Assmann
© Ruth Brozek

I.

"Wer auszieht, überschreitet eine Grenze." (Jan Assmann, Exodus)

Eigentlich hatten wir uns bei seinem nächsten Besuch in Wien zu einem Hochamt im Stephansdom verabreden wollen. In seinem Buch Kult und Kunst über Beethovens Missa solemnis hatte er sich intensiv mit dem Ablauf der katholischen Messliturgie befasst. Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus, Agnus Dei - die Partitur des christlichen Gottesdienstes und die dazu gehörigen rituellen Praktiken hatten ihn interessiert. Gedächtnis, Gegenwart, Wandlung - dafür hatte er eine Antenne, auch wenn er eine liebevoll-vornehme Distanz zu den Sinngehalten des Glaubens unterhielt. Er hatte, um Beethovens gewaltiges Spätwerk sachgerecht zu kommentieren, ausgiebig theologische Literatur konsultiert, Jungmanns große Studie Missarum solemnia gelesen und sich hin und wieder an den Theologen gewandt, um christologische oder liturgische Spezialfragen abzuklären.

Zu unserem gemeinsamen Besuch im Wiener Stephansdom wird es nun nicht mehr kommen. "Jan Assmann ist tot" - diese lapidare Nachricht erreichte mich via WhatsApp, während ich in der U-Bahn unterwegs war. Eine Synkope im Alltag - das Bewusstsein, einen nahen Menschen, Gesprächspartner, Kollegen und Freund unwiederbringlich verloren zu haben.

II.

Wiederholt war der Ägyptologe, Kultur- und Religionswissenschaftler Jan Assmann an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien zu Gast. Über "Monotheismus unter Gewaltverdacht", über "Lessings Ringparabel als Paradigma der Verständigung zwischen den Religionen" haben wir mit einer Gruppe von Kollegen aus unterschiedlichen Disziplinen ebenso debattiert wie über sein Werk Totale Religion und seine Neudeutung der "Achsenzeit", in der er hinter griechische Philosophie und Bibel auf die ägyptische Kultur zurückgriff. Die Sorge vor einer gewaltsamen Instrumentalisierung der Religion in der globalen Moderne verband uns.

Die Therapie, dagegen anzugehen, unterschied uns. Er meinte, allen Religionen empfehlen zu sollen, ihre dogmatischen Wahrheitsansprüche einzuklammern und sich auf das hin, was er verborgene Weisheit nannte, zurückzunehmen. Sein Konzept der "religio duplex", für das er nicht ohne Charme in den Spuren Lessings warb, war für ihn der Schlüssel, das semantische Dynamit zu entschärfen, das in fundamentalistischen Wahrheitsansprüchen steckt, die zwischen Freund und Feind unterscheiden. Sein Vorschlag war, man möge sich auf das unerkennbare göttliche All-Eine beziehen, aber zugleich die religiösen Überzeugungen, rituellen Praktiken und ethischen Weisungen beibehalten, in denen man sozialisiert worden sei.

Der Dogmatiker hielt ihm entgegen, dass er mit seiner freundlichen Empfehlung, die religiösen Wahrheitsansprüche zurückzunehmen, das Selbstverständnis der Offenbarungsreligionen und insbesondere des Christentums nicht ernst nehme. Wer überzeugt sei und bekenne, dass die göttliche Weisheit aus der Verborgenheit herausgetreten sei und sich in der Geschichte geoffenbart habe, der könne nicht zugleich so tun, als ob diese Weisheit verborgen geblieben sei. Vielmehr müsse es darum gehen, aus den religiösen Überzeugungen Sinnpotentiale zur Förderung des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt zu gewinnen. Der Satz von Leo dem Großen: "incomprehensibilis voluit comprehendi - der Unbegreifliche wollte sich begreiflich machen" faszinierte Assmann. Er hat ihn in seinem Buch Exodus. Die Revolution der Alten Welt einem Kapitel als Motto vorangestellt. Dennoch gestand er, nach einem gemeinsamen Abendessen und ein paar Gläsern Wein im Café Landtmann, dass ihm der Begriff der Offenbarung im Letzten fremd geblieben sei.

Jan Assmann und Jan-Heiner Tück im Gespräch
Jan Assmann und Jan-Heiner Tück im Gespräch

III.

Jan Assmann, der ein wunderbares Buch über Thomas Manns Joseph und seine Brüder geschrieben hat, war ein homme de lettres. Die ersten Vorträge der Wiener Poetikdozentur Literatur und Religion hat er gemeinsam mit seiner Frau Aleida Assmann aufmerksam verfolgt und in Gesprächen begleitet. Auch war er ein Liebhaber klassischer Musik. Sein beglücktes Lächeln nach einem Abend im Wiener Konzerthaus mit Mozart-Symphonien unter dem Dirigenten Iván Fischer ist mir unvergesslich. Über Händels Israel in Egypt, über Mozarts Zauberflöte, über Beethovens Missa solemnis hat er in seiner eleganten Wissenschaftsprosa ebenso kundig geschrieben wie über Schönbergs Oper Moses und Aron. Wie aus Kult Kunst entsteht, das wollte er an der vielleicht wichtigsten Mess-Komposition der Wiener Klassik zeigen. Der Akt der Emanzipation, der aus dem Kult kommt, aber über diesen hinausgeht, das hatte er beim späten Beethoven im Blick, der etwas Neues schuf, als er den angestrebten Termin für die gottesdienstliche Aufführung nicht mehr halten konnte: die Konzert-Messe.

Während ich die Zeilen dieses Nachrufs schreibe und seine letzte Nachricht vom November zu Celans Denk dir noch einmal lese, höre ich Beethovens Spätwerk, in dem nach dem Kyrie und dem Gloria das Glaubensbekenntnis vertont wird. Das crucifixus, die Passionsgeschichte, ist in einem sanften "Adagio espressivo" gehalten. Das sepultus est singt der Chor piano - diminuendo - pianissimo, immer leiser werdend, bis alles verebbt und auch die Instrumente schweigen. Stillstand der Zeit. Generalpause. Tod. ... Erst dann bricht geradezu explosiv aus der Grabesstille des Nichts der österliche Jubel im fortissimo hervor: et resurrexit. Möge Jan Assmann, mit dem die Welt einen renommierten Gelehrten und feinsinnigen Menschen verliert, von diesem transitus erfasst werden. R.i.P.

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