Unterschiedliche KulturenVersöhnt leben in Vielfalt

Gesine Schwan hielt anlässlich der Festtage der Stadtpatrone Ursula und Gereon in Köln eine Festpredigt, die wir hier dokumentieren.

Gesine Schwan am 12. Oktober 2025 bei einer Predigt in Köln
© Katholisch in Köln-Mitte

Wenn man aus einer ziemlich weltlichen Metropole wie Berlin kommt und der Stadt obendrein sehr verbunden ist, blickt man etwas zwiespältig auf Köln, das gleich zwei Stadtpatrone – eine davon sogar eine Patronin – hat. Zwiespältig einerseits, weil eine moderne, wissenschaftlich ausgebildete Person sich nicht mehr ohne Weiteres auf Legenden stützen kann oder möchte. Aber auch ein wenig neidisch, weil der heilige Gereon wie auch die heilige Ursula so eminente Vorbilder sind, an denen man sich in Zeiten zunehmender Orientierungslosigkeit ausrichten, ja sogar von ihnen ermutigen lassen kann.

Muss man dafür die Legenden ungeprüft zu historischen Wahrheiten erklären? Kann man ja nicht. Aber man kann sie als Zeichen für Werte und Ideale nehmen, die gläubige Menschen im Laufe der Jahrhunderte hochgehalten und in den verehrten Personen zu lebendigen Wegweisern zusammengefügt haben. Ihre Überzeugungskraft würde sich danach aus ihrer schon so lange wirkenden Ausstrahlung speisen.

Das setzt gedanklich voraus, dass wir Menschen zwar historische Wesen sind, die sich kulturell im Laufe der Zeit wandeln. Und wir unterscheiden uns auch von Region zu Region und sogar innerhalb eines Kulturkreises voneinander. Ich habe mir zum Beispiel sagen lassen, dass sich der Kölner Karneval grundlegend vom Mainzer Karneval unterscheidet, was eine arme Berlinerin mit bloßem Auge gar nicht erkennen kann. Und wir sind auch als Kinder anders denn als Großmütter.

Und doch nehmen wir uns als ein durchgängiges „Ich" wahr, das identisch bleibt vom Kleinkind bis zur Großmutter. So können wir auch bei aller Unterschiedlichkeit und in allem Wandel zumal als Christen auf einen Kern des Menschseins und der Menschlichkeit bauen, der uns von der gegenwärtig weit verbreiteten und für viele bedrohlichen Orientierungslosigkeit befreit. Auch in diesem Sinne habe ich Glauben immer als Befreiung empfunden. Und hier ist die katholische Kirche, bei all ihren menschlichen Schwächen, doch als globale Kirche auf der Höhe der Zeit.

Diese Annahme, dass uns als Menschen eine wesentliche Gemeinsamkeit verbindet, ist philosophisch und theologisch von großer Tragweite. Angesichts der Renaissance von Nationalismus und Rassismus ist sie besonders aktuell. Aber sie wird durchaus bestritten. Das muss uns wichtig sein, weil es gefährlich ist. Denn sobald wir anderen Menschen absprechen, dass sie mit uns das Menschsein im Wesentlichen teilen und damit alles, was das an gemeinsamen Menschenrechten und an Empfindungen einschließt, die wir empathisch für ihre Freuden und Leiden nachvollziehen können, reißen wir Brücken zwischen uns ab. Die brauchen wir aber dringend, wenn wir nicht schrankenloser Feindseligkeit, wie sie gegenwärtig erschreckend grassiert und durch Hassbotschaften provoziert wird, das Feld überlassen wollen.

Woher kommt diese neue Welle der Wut, des Hasses, der Ressentiments gegen ,,die Anderen", ,,die da oben", ,,die Fremden", denen gegenüber wir uns, so wird öffentlich geklagt ,,fremd im eigenen Land" fühlen? Auf diese Frage gibt es viele Antworten. lch habe sie vor längerer Zeit in einem Briefwechsel zwischen dem berühmten Wissenschaftler Albert Einstein und dem Arzt und Psychoanalytiker Sigmund Freud gefunden, der aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg im vergangenen Jahrhundert stammt.

Einstein fragt Freud darin, ob die schrecklichen Ereignisse und Erfahrungen, die vielen Toten und Verwundeten des Ersten Weltkriegs die Menschen lehren können, ein für alle Mal mit Kriegen aufzuhören, oder ob man weiter mit Kriegen rechnen muss. Bekanntlich ist der zweite Weltkrieg schon 21 Jahre nach dem Ende des Ersten von Hitler-Deutschland vom Zaune gebrochen worden. Viele geschichtswissenschaftliche Gründe werden dafür angeführt.

Sigmund Freud nennt einen fundamentalen Grund, warum Menschen immer wieder gegen einander Kriege führen werden: die Erfahrung, dass unsere Mitmenschen anders sind als wir. Weil sie anders sind, stellen sie uns, so Freud, als Personen in Frage, unser Selbstverständnis, unseren Lebensentwurf, unser Selbstwertgefühl. Die Andersheit von Menschen verunsichert und provoziert uns nach Freud, weil wir dann, so könnte man sagen, nicht selbstverständlich mit unserem Lebensentwurf und Selbstverständnis im Recht sind.

Freuds Antwort trifft vermutlich den Gemütszustand vieler Menschen, die ihre Identität und ihr Selbstwertgefühl durch andere, die ihnen fremd sind, bedroht fühlen. Aber hat er Recht? Müssen wir vor den anderen Angst haben, weil sie anders sind? Müssen wir sie deshalb hassen? Ist unser Leben erst lebenswert und frei von Angst, wenn alle um uns herum so leben wie wir? Gibt es eine solche Einheitlichkeit überhaupt? Und wäre sie nicht furchtbar langweilig?

Wir erleben im Kindergarten, dass Unterschiede zum Beispiel der Hautfarbe, die bei Erwachsenen zu gefühlten Barrieren werden, für Kinder keine Bedeutung haben. Sie spielen zusammen, streiten miteinander und scheren sich dabei nicht um die Unterschiede ihrer Hautfarben.

Der heilige Gereon, Patron von Köln, kam von weit her, aus Ägypten, aus Theben, und war dunkelhäutig, wie eines seiner Bilder bekundet. Er kam der Legende nach als Offizier einer Thebäischen Legion und als Anführer eines Trupps von etwa 300 christlichen Soldaten, mit denen er den Märtyrertod starb. Als Christ hatte er sich dem Befehl des römischen Kaisers Diokletian widersetzt, die Christen zu verfolgen und umzubringen. Das Christsein war ihm wichtiger als seine Hautfarbe bzw. die Hautfarbe derer, die er umbringen sollte. Für den gemeinsamen Glauben und um seine Mitmenschen zu verschonen, nahm Gereon mi seinen Soldaten den Tod in Kauf, wurde zum Märtyrer.

Daran erkennen wir, wie Unterschiede ihre befremdende Bedeutung verlieren, wenn unser Verständnis vom Anderen nicht selbstverständlich Fremdheit und Bedrohung bedeutet, sondern in einem gemeinsamen Ursprung, im christlichen Verständnis in der gemeinsamen Gotteskindschaft aufgehoben ist. Und das ist nicht nur ein abgehobener intellektueller Gedanke. Wer seine Aufgeschlossenheit und Empathie für andere nicht verkommen lässt, kann jeden Tag erleben, wie sich Menschen, die einem zunächst distanziert und gar feindselig begegnen, weil sie sich vielleicht über irgendetwas geärgert haben, wie durch ein Wunder freundlich aufschließen, wenn man ihnen anteilnehmend und wohlwollend begegnet. Auch das ist eine Form der Nächstenliebe, die nach christlichem Glauben in unserer Welt als stärkste heilende Kraft wirkt.

Freud ging in seinem Menschenbild eher wie der britische Moral- und Staatsphilosoph Thomas Hobbes, dem der zehnjährige Bürgerkrieg in England im 17. Jahrhundert in den Knochen saß, davon aus, dass wir einander von Natur aus wie feindselige Wölfe begegnen (homo homini lupus); wobei noch zu fragen wäre, ob Wölfe einander wirklich von Natur aus als Feinde wahrnehmen. In diesem Erfahrungsbild hatte der Gedanke keinen Platz, dass Menschen als gemeinsame Gotteskinder miteinander liebevoll umgehen können und sollen.

Thomas Hobbes' Bild vom Menschen, als eines misstrauischen egoistischen Wesens, ist als Folge traumatischer Bürgerkriegserlebnisse nachvollziehbar, aber eben nicht der zwingende Ausgangspunkt dessen, wie wir Menschen zusammenleben können oder wollen. Der christliche Glaube lehrt und verpflichtet uns im Gegenteil, uns nicht zu verfeinden, sondern miteinander zu sprechen und uns zu versöhnen, wenn wir in Streit geraten sind. Ohne dieses Gebot entwickelt sich die Spirale der Feindseligkeit immer weiter und droht uns zu zerstören.

Wie viel dabei in unserer Hand liegt, aber auch wie zerbrechlich unser friedliches Miteinander ist, erleben wir jeden Tag. Mir war seit meiner Kindheit immer bewusst, dass Deutschland im Zweiten Weltkrieg Europa und weite Teile der Welt in Schutt und Asche gelegt hat. Trotzdem haben viele Europäer uns Deutschen nach 1945 mutig und großzügig die Hand gereicht. So haben auch die polnischen Bischöfe in den Sechzigerjahren – das ist jetzt gerade 80 Jahre her – einen ersten Schritt auf die Deutschen hin getan und sind dafür in Polen heftig kritisiert worden. Ihr Hirtenwort 1965 endete gegenüber den deutschen Bischöfen mit den Worten: ,,Wir vergeben und bitten um Vergebung", was sich auch auf die als „Vertreibung" erfahrene Umsiedlung vieler Deutscher aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten bezog. Welche Großherzigkeit nach den unzähligen Verbrechen, die Deutsche in Polen nach ihrem Überfall auf unsere Nachbarn begangen haben, hat sich in dieser Geste der polnischen Bischöfe bekundet! Die Antwort der deutschen Bischöfe war damals aus Rücksicht auf die Vertriebenenverbände eher diplomatisch als mutig.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich viele für eine Versöhnung zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern engagiert. Angesichts der vielfachen Gräuel ist Versöhnung dabei ein anspruchsvolles Wort, das Täter und ihre Nachkommen eher nicht in den Mund nehmen, jedenfalls nicht einfordern sollten. Eigentlich kann nur Gott, gegen dessen Ordnung wir mit unseren Sünden verstoßen, seine Versöhnung gewähren. Aber wir können uns um Verständigung bemühen und gegenüber den Opfern und ihren Nachfahren unseren ehrlichen Kummer und unsere Mitverantwortung für die Verbrechen im Zweiten Weltkrieg bekunden.

Eine Konsequenz daraus ist für mich, nie wieder in den Hass nationaler oder ethnischer Vorurteile zu verfallen, mir immer die gemeinsame Gotteskindschaft mi jedem Menschen zu vergegenwärtigen, auch wenn mir das manchmal, wenn mir jemand gründlich auf die Nerven geht, schwerfällt.

Von den beiden Stadtpatronen, die wir heute feiern, habe ich bisher nur an den heiligen Gereon erinnert. Die zweite, die heilige Ursula, für die es offenbar keinen historischen Beleg gibt, lebt außer Verehrung für den Mut und die Standhaftigkeit, mit denen sie sich der Legende nach allen Zumutungen der Verheiratung durch ihren Vater und der Vergewaltigung durch den Hunnenkönig widersetzt, ihre Jungfräulichkeit bewahrt und schließlich den Opfertod erlitten hat. Solche Zumutungen gibt es auch heute noch, gegen sie müssen wir Frauen nach wie vor schützen. Ermutigend finde ich aber, dass starke Frauen heute ganz andere Möglichkeiten haben, zu zeigen, was in ihnen steckt und wie unverzichtbar und wertvoll sie als unabhängige Persönlichkeiten mit ihren Qualitäten und Fähigkeiten für unser Gemeinwesen sind.

Das jüngste Beispiel sehe ich in der Frau, der man zutraut, die Deutsche Bahn zu sanieren. Das ist jetzt ein sehr weltlicher Gedanke – ich komme eben aus dem nüchternen und weltlichen Berlin. Aber der Dienst an der Beruhigung unserer Gesellschaft und am Vertrauen in unseren demokratischen Staat, den Frau Evelyn Palla leisten würde, wenn sie die Bundesbahn – die Grundlage unserer Kommunikation – von einer ständigen Quelle des Ärgers, des Misstrauens und der niederziehenden Häme zu einem Symbol der Verlässlichkeit und der Verpflichtung gegenüber unserem Gemeinwesen machen würde, ist kaum zu überschätzen. Ihr Lebenslauf, zu dem gehört, dass sie eigens die Erlaubnis als Lokomotivführerin zu arbeiten, erworben hat, um zu wissen, wovon bei der Bahn die Rede ist, imponiert mir sehr. Eine moderne Art für eine Frau, unkonventionell die persönliche Eigenständigkeit zu demonstrieren. Hartnäckigkeit, Kompetenz und Dienst an der Sache sind auch heute gar nicht altmodisch, sondern auf der Höhe der Zeit. Und mit einer Portion von Female Chauvinism, den die heilige Ursula nähren mag, füge ich hinzu: Es wundert mich nicht, wenn nach vielen hoch bezahlten Fehlleistungen gerade eine Frau die komplexe Zusammenarbeit von so vielen Menschen, aus der die Deutsche Bahn besteht, für das erfolgreiche gemeinsame und gemeinwohlorientierte Wirken klug, einfühlsam, kompetent und uneitel auf den Weg zu bringen versteht.

Liebe Schwestern und Brüder, von den Stadtpatronen zur Bundesbahn: Das kommt vielleicht ein wenig überraschend und ungeniert daher! Aber unser Glaube schöpft aus beidem: aus der respektvollen Vergegenwärtigung der Tradition, aus der wir zur Selbstvergewisserung schöpfen, und aus den kreativen Lehren, die wir für die Herausforderungen unserer Zeit aus ihr ziehen. Gott hat uns, daran glaube ich fest, mit vielen verschiedenen Talenten ausgestattet, die wir blühen lassen sollten. Zu den wichtigsten gehören der Mut und die Zuversicht, dem Gebot der Nächstenliebe treu zu bleiben, auch wenn uns das zu ganz unkonventionellen Handlungen und Schlussfolgerungen bringt wie dem Erwerb des Lokomotivführerpatents. So können wir als Zeugen seiner Liebe wirken gegen die Abwehr von geflüchteten Fremden und für den Dienst an der Gemeinschaft bei der Deutschen Bundesbahn. Der liebe Gott hat viel Fantasie. Wir sollten sorgfältig auf ihn hören!

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