Christentum und „der Westen“Gefährdete Balance

Das Konzept einer "westlichen Identität" droht in eine Schieflage zu geraten. Jetzt braucht es eine Selbstvergewisserung – auch der Kirchen.

Porträt Ulrich Ruh
Ulrich Ruh, Ehemaliger Chefredakteur der Herder Korrespondenz© Christian Klenk

Im Text der neuen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ der USA tauchen in den auf Europa bezogenen Passagen die Stichwörter Christentum oder Kirche an keiner Stelle auf. Es ist allerdings programmatisch davon die Rede, es müsse bei der Unterstützung der Verbündeten der USA darum gehen, die „westliche Identität“ Europas wiederherzustellen. Damit wird zumindest implizit die Frage nach dem Verhältnis der beiden Größen Christentum/Kirche einerseits und „westliche Identität“ andererseits aufgeworfen, die im heutigen Europa ohnehin auf der Tagessordnung steht.

In weiten Teilen unseres Kontinents besteht nach Jahrhunderten weltanschaulicher und politischer Auseinandersetzungen eine schiedlich-friedliche Beziehung zwischen den großen christlichen Kirchen und dem als demokratischer Rechtsstaat verfassten Gemeinwesen: Das Christentum ist kulturell und sozial mehr oder weniger präsent und prägt religiös zumindest ansehnliche Minderheiten der jeweiligen Bevölkerung. Die Kirchen bejahen und unterstützen die staatliche Ordnung mit ihren Grundwerten und beteiligen sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten als Partner am gesellschaftlichen Gespräch.

Doch diese insgesamt bewährte, wenn auch nicht konfliktfreie Balance ist gefährdet. Das hat zum einen mit dem Bedeutungsrückgang von Christentum und Kirchen zu tun, zum anderen mit der Zunahme nationalistischer Denkmuster und autoritär-populistischen Trends in nicht wenigen europäischen Staaten. Das Konzept „westliche Identität“ droht so in eine bedenkliche Schieflage zu geraten, wie sich gerade an der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA ablesen lässt.

In dieser Situation wäre auf politischer wie auf christlich-kirchlicher Seite im freien Europa Selbstbesinnung und Selbstvergewisserung notwendig. Christen und ihre Kirchen sollten an ihrem Schulterschluss mit dem demokratischen Rechtsstaat und in der Bejahung gesellschaftlicher Pluralität aktiv festhalten, sich aber auch den Mund für kritische Einreden zu gesellschaftlichen und politischen Fehlentwicklungen nicht verbieten lassen. Insofern gewinnt die Formel von der „freien Kirche in einem freien Staat“ aus dem Italien des 19. Jahrhunderts gerade heute wieder an Gewicht und kann als Wegweisung dienen.

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