"Mehr Klarheit über das ökumenische Ziel"Ein Gespräch mit Kardinal Kurt Koch über das neue deutsche Ökumene-Papier

Was meint "volle Einheit" der Kirchen? Welcher Weg führt dorthin? Und ist der Weg wichtiger als das Ziel? Ein in Deutschland entstandenes Ökumene-Dokument wirft viele Fragen auf. Kardinal Kurt Koch, Präfekt des Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen im Vatikan, hat es gelesen.

Kardinal Kurt Koch
© Paolo Galosi/Romano Siciliani/KNA

Benjamin Leven: Sie haben immer wieder beklagt, dass man sich im Gespräch zwischen den christlichen Konfessionen nicht über das Ziel der Ökumene einig sei. Evangelischerseits war oft von "versöhnter Verschiedenheit" die Rede, katholischerseits von "sichtbarer Einheit". Beim Reformationsgedenken 2017 hat man beide Aussagen verbunden und von "sichtbarer Einheit in versöhnter Verschiedenheit" gesprochen. Ist diese Formel weiterführend?

Kardinal Kurt Koch: Es kann keinen Gegensatz zwischen sichtbarer Einheit und versöhnter Verschiedenheit geben. Das Problem liegt vielmehr darin, dass unter "versöhnter Verschiedenheit" oft nicht dasselbe verstanden wird. In katholischer Sicht ist versöhnte Verschiedenheit eine Zielbestimmung. Durch Spaltungen sind in der Geschichte Differenzen entstanden, die in den ökumenischen Dialogen versöhnt werden sollen. Viele verstehen heute unter versöhnter Verschiedenheit jedoch bereits eine Gegenwartsbeschreibung in dem Sinne, dass die Differenzen bereits versöhnt sind. Dass man dieselben Wörter verwendet, jedoch etwas Unterschiedliches darunter versteht, ist ein Problem, das in den ökumenischen Gesprächen immer wieder festzustellen ist.

Prozesshaftigkeit und Zielorientierung

Leven: Das neue Dokument der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland trägt den Titel "Mehr Sichtbarkeit in der Einheit und mehr Versöhnung in der Verschiedenheit". Es widmet sich den "Chancen einer prozessorientierten Ökumene". Dort kann man lesen, dass es gar nicht so sehr auf "theoretisch zu erreichende Zustände" ankomme, sondern auf die "Dynamik des gemeinsamen Weges". Wie bewerten Sie diesen Ansatz?

Koch: "Dynamik des gemeinsamen Weges" ist gewiss eine gute Perspektive. Ich habe aber auf weiten Strecken den Eindruck, dass in dem Dokument eine Alternative zwischen Prozesshaftigkeit und Zielorientierung wegleitend ist. Ich verstehe diese Alternative nicht. Auf anderen Gebieten pflegt man heute einen solchen Gegensatz nicht zu vollziehen. Der "Synodale Weg" beispielsweise ist prozesshaft und zugleich zielorientiert. Warum jedoch in der Ökumene eine solche Relativierung der Zielbestimmung vorgenommen werden soll und man sich allein auf den Prozess konzentrieren will, erschließt sich mir nicht. Das Dokument äußert sich zudem zum Ziel der Ökumene recht widersprüchlich: In Nummer 3 der Einführung kann man lesen: "Es gibt in der katholischen und in der evangelischen Kirche unterschiedliche Zielvorstellungen der Ökumene." In Nr. 6 in Kapitel IV hingegen wird ein "unvermitteltes Nebeneinander zweier vermeintlich konfessionsspezifischer alternativer Zielvorstellungen" abgewiesen, wobei unklar ist, was unter "vermeintlich" zu verstehen ist. Mehr Klarheit über das ökumenische Ziel würde der Prozesshaftigkeit keineswegs schaden – im Gegenteil.

Leven: Vielleicht hat man gemerkt, dass man nicht in der Lage ist, sich auf ein gemeinsames Ziel zu verständigen und setzt deshalb auf Prozesse, damit in der ökumenischen Praxis die Kirchen sozusagen langsam zusammenwachsen.

Koch: Dann soll man es auch sagen, dass man kein gemeinsames Ziel hat. Im Dokument ist hin und wieder davon die Rede, dass es heute noch keine volle Einheit gebe. Es wird aber an keiner Stelle gesagt, was man sich unter dieser vollen Einheit vorstellt und wie der Prozess, der im Dokument beschrieben wird, auf dieses Ziel hinführen kann. Diese Frage bleibt leider weithin offen.

Einheit und Pluralität

Leven: Wenn das Dokument von der Einheit der Christen spricht, dann in Formulierungen wie "Vielfalt der Einheit" oder "dynamische Einheit". Es ist auch von der "konstitutiven Vielstimmigkeit" des Urchristentums die Rede. In welchen Dingen braucht es Übereinstimmung und in welchen Bereichen hat Pluralität ihre Berechtigung?

Koch: Wenn in dem Dokument von Einheit die Rede ist, wird sofort – und mit Recht – relativiert, man verstehe darunter nicht Einheitlichkeit. Wenn jedoch über Vielfalt gesprochen wird, wird nicht vor einem unverbundenen Pluralismus gewarnt. Mir scheint, dass es in diesem Dokument eine Vorliebe für Vielfalt und eine Ängstlichkeit gegenüber Einheit gibt. Hier wäre ein besseres Gleichgewicht angebracht. Blaise Pascal hat in diese Richtung gewiesen: Einheit, die nicht von Vielheit abhängt, ist Diktatur; Vielheit, die nicht von Einheit abhängt, ist Anarchie. Hier braucht es einen gesunden Mittelweg. Was das Ziel der Ökumene betrifft, geht die Katholische Kirche davon aus, dass die Einheit vor allem im Glauben gesucht werden muss. Das Fundament der Ökumene ist das Apostolische Glaubensbekenntnis, das jedem neuen Glied am Leibe Christi in der Taufe übergeben und anvertraut wird. Da dieser Glaube gefeiert wird, wird auch Einheit in den Sakramenten gesucht. Und um dies zu ermöglichen, braucht es auch Einheit in den Ämtern.

Dass die verschiedenen Kirchen Teil des Leibes Christi sein können, setzt voraus, dass die Verschiedenheiten versöhnt sind und Einheit gefunden worden ist. In der heutigen Situation hingegen, in der die Versöhnung noch nicht hinreichend gefunden worden ist und noch keine Kirchengemeinschaft besteht, muss ich diese Formulierung für sehr problematisch halten.

Leven: In dem Papier wird an einigen Stellen, die die Einheit der Kirche mit der Einheit des Leibes Christi, der viele Glieder hat, in Verbindung gebracht. So heißt es: "Als Leib Christi ist sie in den unterschiedlich geprägten Kirchen verborgen gegenwärtig". Was halten Sie von dieser Formulierung?

Koch: Dass die verschiedenen Kirchen Teil des Leibes Christi sein können, setzt voraus, dass die Verschiedenheiten versöhnt sind und Einheit gefunden worden ist. In der heutigen Situation hingegen, in der die Versöhnung noch nicht hinreichend gefunden worden ist und noch keine Kirchengemeinschaft besteht, muss ich diese Formulierung für sehr problematisch halten. Denn die Situation im Neuen Testament, in dem die vielfältigen Kirchen in Gemeinschaft untereinander leben, kann man nicht unhistorisch auf die Vielfalt von Kirchen übertragen, die durch Spaltungen entstanden sind. Wenn die noch immer gespaltenen Kirchen als Glieder des einen Leibes Christi behauptet werden, wäre der Leib Christi arg verwundet.

Leven: In Deutschland ist zuletzt deutlich geworden, dass sich die beiden Kirchen in aktuellen bioethischen Fragen voneinander wegbewegen, etwa wenn es um Gesetzgebung zum assistierten Suizid oder zur Abtreibung geht. Der Heilige Stuhl hat seinen Standpunkt zu diesen Fragen soeben noch einmal in dem Dokument des Glaubensdikasteriums "Dignitas Infinita" deutlich gemacht. Das Problem wird in dem neuen Schreiben von EKD und DBK nur knapp erwähnt. Es heißt dort: "Wir verpflichten uns, in ethischen Fragen, die zwischen uns strittig sind, vor kirchenleitenden Entscheidungen den Dialog zu suchen". Begrüßen Sie das?

Koch: Dies begrüße ich sehr. Doch diese Verpflichtung ist nicht neu; sie wurde bereits im Jahre des Reformationsgedenkens 2017 im Versöhungsgottesdienst in Hildesheim ausgesprochen. Sie scheint jedoch bisher nicht immer verwirklicht worden zu sein. Sie bildet aber in der heutigen ökumenischen Situation eine wichtige Herausforderung. In früheren Jahrzehnten hieß das Leitmotiv in der Ökumene: Glaube trennt, Handeln eint. Heute jedoch müssen wir eher das Gegenteil feststellen: Wir sind uns bei vielen Glaubensfragen näher gekommen; zu denken ist dabei vor allem an die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Katholischen Kirche im Jahre 1999. Neue Differenzen und Spannungen sind aber in der Zwischenzeit vor allem auf ethischem Gebiet aufgetreten. Damit müssen sich die ökumenischen Dialoge noch intensiver beschäftigen. Denn wenn die christlichen Kirchen über die Grundfragen des menschlichen Lebens und des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht weithin mit einer Stimme sprechen können, wird die christliche Stimme in den säkularisierten Gesellschaften Europas immer schwächer; und dies dient der Ökumene gewiss nicht.

Innerkatholische Konflikte und ihre Auswirkung auf die Ökumene

Leven: Es gibt heute auch innerhalb der Kirchen Uneinigkeit, zum Teil in Grundfragen der Lehre. Früher haben sich die Vertreter der verschiedenen Konfessionen gegenseitig verurteilt. Heute verurteilen sich fast mit dem gleichen Eifer die verschiedenen Lager innerhalb der Kirchen, auch innerhalb der katholischen Kirche. Wie wirkt sich das auf das ökumenische Gespräch aus?

Koch: Es ist die besondere Aufgabe der Diözesanbischöfe, innerhalb der eigenen Kirche im Dienst der Einheit zu stehen. Die Art und Weise, wie wir innerhalb unserer katholischen Kirche mit Differenzen und Konflikten umgehen, hat natürlich auch eine Signalfunktion in die ökumenische Situation hinein. Das Ringen um eine bessere Einheit innerhalb der eigenen Kirche ist auch für die Ökumene von Bedeutung. Denn die Entwicklungen innerhalb unserer Kirche werden auch in der Ökumene wahrgenommen und haben Konsequenzen. Wir erleben dies gegenwärtig angesichts der Reaktion von Orientalisch-Orthodoxen Kirchen im Blick auf die Erklärung "Fiducia supplicans" über die Segnung von Gemeinschaften in "irregulären Situationen". So hat die Koptisch-Orthodoxe Kirche wegen dieser Erklärung den Dialog mit der Katholischen Kirche suspendiert.

Leven: Sie haben die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre von 1999 angesprochen. Wie hoffnungsvoll sind Sie heute, 25 Jahre später, dass es noch einmal einen solchen Meilenstein der inhaltlichen Verständigung und Einigung über eine wichtige Streitfrage geben wird?

Die Klärung des Kirchenverständnisses drängt sich freilich nicht nur im katholisch-evangelischen Dialog auf. Bei allen Verdiensten des neuen Dokuments in Deutschland liegt für mich seine wichtigste Grenze darin, dass es allein diesen Dialog vor Augen hat.

Koch: Wenn man sich daran erinnert, wie schwierig der Prozess gewesen ist, bis es zur Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung gekommen ist, wird man mit Prophezeiungen von Meilensteinen vorsichtig sein. In der Gemeinsamen Erklärung von Augsburg 1999 ist auch festgehalten, dass die Konsequenzen für das Kirchenverständnis noch nicht gelöst sind. Ich habe deshalb den Vorschlag gemacht, sich in der Ökumene intensiv mit den Fragen von Kirche, Eucharistie und Amt auseinanderzusetzen. Ich stelle dankbar fest, dass dieses Thema von verschiedenen regionalen Dialogen in Amerika und Finnland aufgenommen worden ist. Die Klärung des Kirchenverständnisses drängt sich freilich nicht nur im katholisch-evangelischen Dialog auf. Bei allen Verdiensten des neuen Dokuments in Deutschland liegt für mich seine wichtigste Grenze darin, dass es allein diesen Dialog vor Augen hat. Gewiss sind die evangelische und die katholische Kirche die beiden größten Kirchen in Deutschland und haben auch eine gemeinsame Geschichte. Doch Deutschland ist heute kein rein bikonfessionelles Land mehr. Es leben in Deutschland immer mehr auch Orthodoxe, Orientalen und auch Freikirchen. Diese größere Ökumene müsste heute stärker in den Blick genommen werden. Es scheint mir wichtig, dass in der Ökumene in Deutschland entschiedener über den evangelisch-katholischen Tellerrand hinausgeschaut wird. Ich erlaube mir jedenfalls, dies als meinen persönlichen Wunsch zu formulieren.

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