Von der Subversivität der Kleinen FormZum Tod Peter Bichsels

Er war ein Meister der kleinen, oftmals trotzigen Form, in der er daran festhielt, dass auch jede vorläufige Suche nach Sinn einen Sinn hat. Nicht nur darin kommen sich Literatur und Theologie auf überraschende Art und Weise nah.

Der Schriftsteller Peter Bichsel beim Sprachsalz Literaturfestival 2015
Peter Bichsel beim Sprachsalz Literaturfestival 2015© Sprachsalz Literaturfestival, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons

I.

Der erklärte Wenigschreiber Peter Bichsel war der kleinen Form so zugetan, dass er Zeit seines schriftstellerischen Lebens an ihr festgehalten hat. Mir wiederum hat das Peter Bichsel immer sympathisch gemacht. Ich mag das Unprätentiöse seiner Erzählungen, die unverschnörkelten Sätze, das Achten auf die kleinen Gesten, in denen so viel Sehnsucht zu greifen ist. Es liegt etwas Theologisches in diesen kleinen Formen, die schnell das Ende suchen und gerade darin zu erkennen geben, dass der Text den Abschluss nur vorgaukelt. Sie erheben die Suche zur Kür. Und ist Theologie nicht immer die Einsicht, dass diese Suche, jedenfalls unter den Bedingungen des Irdisch-Menschlichen, kein Ende findet?

Peter Bichsel wäre diesen ein wenig rasanten Brückenschlag zwischen Literatur und Theologie wohl nur bedingt mitgegangen. Wenn er gepredigt hat, was öfter der Fall war, dann als einer, der nicht weiß, ob er an Gott glaubt. Dass er an Gott dennoch festgehalten hat, schreibt er seinem Trotz zu. Genauer: seiner Suche nach Unterstützung in seinem Trotz. Bichsel nimmt von Luther die Übersetzung von Sprüche 3,26: "Der Herr ist mein Trotz." Er brauche Gott, damit jemand sich freut, wenn er zur hoffentlich rechten Zeit widerständig ist und Nein sagt; damit es wichtig bleibt, sich für Gestalt und Gestaltung dieser Welt zu interessieren; "damit es sinnvoll ist, daß diese Welt mich überlebt." Seit dem 15. März dieses Jahres ist es nun so weit, und die Welt hat Peter Bichsel überlebt. Sein Trotz aber lebt fort: in der kleinen Form seiner Geschichten, die daran festhält, dass auch jede vorläufige Suche nach Sinn einen Sinn hat.

II.

Ich habe beim Schreiben über die kleine Form mit einem Zögern gekämpft. Vielleicht ein wenig wie Frau Blum aus einer der bekanntesten Geschichten Peter Bichsels, die eigentlich den Milchmann kennenlernen wollte. Die Gründe für mein Zögern vermute ich darin, dass ich die kleine Form als ein wenig unangemessen empfinde. Sie ist zu kurz, um die Welt erklären zu wollen; zu lang, um in die kurzen Aufmerksamkeitsspannen der Likes zu passen. Darin hat sie etwas Subversives.

Gelegentlich erreicht ihr subversives Trotzdem die große Bühne. In allem Pomp and Circumstances ist die Inszenierung der Papstwahl und der Präsentation des Neugewählten eine Sache der kleinen Texturen: der dunklen Schuhe, die an den Vorgängerpapst anknüpfen; der Stola, die übergreifende Kontinuität signalisiert. Jedenfalls für mitteleuropäische Ohren merkwürdig ungebrochen klingen die mit Spannung erwarteten ersten Worte. Als sei die Volkskirche noch in Takt spricht Leo XIV. den Friedensgruß des Auferstandenen über den Petersplatz und in die Welt. Als bräuchte es nichts Anderes, Aktuelleres, Mitreißenderes als diese selbstverständlichen Worte, die jede Messe eröffnen. Doch gesprochen im Mai 2025 ist in diesen Worten der Trotz zu greifen – gegenüber den Kriegsherren- und Kriegstreibern, von denen es gerade zu viele gibt. Ein Trotz auch gegenüber denjenigen, für die der Friede Christi etwas Internes ist, gerichtet an die eigenen Leute, statt an alle Menschen gleich welcher Herkunft, welcher Religion, welchen Geschlechts.

Die Worte entstammen einer kleinen Szene, der Erscheinung des Auferstandenen in Joh 20 bei den Jüngerinnen und Jüngern, die sich ängstlich verkrochen hatten. Gleich danach setzt der Text den Zweifel des Thomas. Der Zweifel scheint heute nicht minder angebracht. Wie schwer wird es auch für Papst Leo XIV. werden, sich den Kriegen und denjenigen, die ihn wollen, entgegenzustemmen; und wie offen ist, was diese Friedensverheißung für das Innere der Kirche bedeutet. Der Friedensgruß in seinem changierenden Charakter aus Indikativ und Imperativ, aus Zusage und Aufforderung ist fragil. Kraft und Stabilität erhält er nicht zuletzt durch die Form. Über zwei Jahrtausende haben im Sprechen und Hören dieser Worte Menschen an Hoffnung und Sinn festgehalten, der Gegenwart getrotzt und mit dem Auferstandenen auf Gott und die Zukunft vertraut. Im Mund des Papstes klingen sie wie eine Einladung: sich von ihnen berühren zu lassen, mit dem Trotz auch das Vertrauen zu teilen, dass die Welt besser, vielleicht gut wird. "Ich weiß, dass ich nicht allein bin mit meinem Trotz", so nährt Peter Bichsel seine "ganz, ganz kleine Hoffnung, dass es uns gelingt". Schon fühle auch ich mich verleitet, der Einladung zu folgen, mich in den altbekannten Worten wohnlich einzurichten und ein Gefühl der Zuversicht in mir breit werden zu lassen: Das Böse, so der Papst, wird nicht gewinnen.

III.

Womöglich liegt die Stärke der Botschaft des Jesus von Nazareth bis heute darin: einladend zu sein. Auch er ist ein Meister der kleinen Form. Über Jahrhunderte dienen die Gleichnisse, diese literarischen Miniaturen, in der christlichen Welt als Legitimation, literarisch schreiben zu dürfen. Das war notwendig, denn immer dann, wenn man klar zwischen Wahrheit und Lüge unterscheidet, gilt es als gefährlich, wenn sich das literarische "Als ob" dazwischendrängt. Die Gleichnisse gewinnen ihren Charme gerade aus dem "Als ob" oder, biblischer, dem "es ist wie". Für kurze Zeitspannen locken uns die Texte aus dem Alltag und fremde Szenerien, in Weinberge und an Wegränder, in den Schweinekoben und auf Fußböden. Sie behelligen uns weder mit Indikativen noch Imperativen. Nur kurz nehmen sie die Lesenden in Beschlag und lassen sie dann wieder los. Doch schon hat die Phantasie einen Stups erhalten: Die Welt könnte anders aussehen, womöglich barmherziger, gerechter, zugewandter. Da wäre es wieder, das Subversive der kleinen Form.

IV.

Leicht kann man immer wieder zurückkehren in die Welten der kleinen Textformen, die sich so gut erinnern und erzählen lassen. An die Kindergeschichten Peter Bichsels erinnere ich mich gefühlt schon mein ganzes Leben. Diese kurzen, tiefgründigen Erzählungen sind an kein Alter gebunden. Umstandslos hat Bichsel in ihnen die menschliche Zerbrechlichkeit auf den "Tisch" gelegt, zu dem einer seiner Protagonisten eines Tages einfach "Stuhl" gesagt hatte, und zum "Stuhl" sagte er "Wecker". Der müde Mann war kurzzeitig aufgelebt, weil sich durch das einfache Austauschen der Signifikanten nun endlich alles zu ändern schien. Doch war er am Ende noch müder, hatte er sich durch die Erfindung seiner eigenen Sprache doch grandios aus der Gemeinschaft der Menschen hinauskatapultiert. Übrigens ähnlich wie der Erfinder, der sich zum Erfinden jahrelang zurückzog und nicht mehr mitbekam, dass seine Erfindung längst erfunden worden war. Oder der Mann, der wusste, dass die Erde rund war, aber es nicht glaubte und sich nach vielen Plänen mit Kränen und Schiffen schließlich mit einer Leiter auf den geraden Weg um die Erde machte, um es zu überprüfen. Er wurde nicht mehr gesehen, und niemand weiß, ob und wie seine Reise ein Ende gefunden hat.

Mit unbestechlicher Konsequenz verfolgen die Charaktere Bichsels ihre Ideen und stellen sich quer zu den alltäglichen Grundvollzügen – zu kommunizieren, zu glauben. Oft sind sie traurig, weil sich nichts mehr tut im Leben, ihnen die Geschichten ausgegangen sind und sie ihre Kräfte mobilisieren, um dagegen anzukommen. Es braucht kein großes Einfühlungsvermögen, um zu wissen, dass auch Bichsel diese Traurigkeit kannte: "Die Traurigkeit der Menschen macht sie zu Geschichtenerzählern", so behauptet er in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen. Denn Geschichten besänftigen die Traurigkeit.

V.

Ich habe mich von den Geschichten Peter Bichsels immer gerne besänftigen lassen. Ich bin mit ihnen durch die "Hintertür" des Unbedeutenden gegangen, die Bichsel als den einzigen Weg sah, den Literatur nehmen kann. "Literatur ist darauf angewiesen, Unbedeutendes tun zu können." Dennoch hatte ich immer das Gefühl, Bedeutsames "gesehen" zu haben. Aus Prinzip werde ich dieses Bedeutsame hier nicht mehr auf den Punkt zu bringen versuchen. Ich bin eine Leserin, und Bichsel hat in Lesenden Menschen vermutet, "die mit Fragen umgehen können, ohne gleich nach Antworten zu rufen, in Fragen leben, nicht in Antworten. Das mag für eine Mehrheit bereits subversiv sein." Womöglich waren deshalb für mich Literatur und Theologie immer nahe beieinander, weil ich mich in Fragen, auf die es keine einfachen und klaren, ja womöglich gar keine Antworten gibt, beheimatet fühle. Womöglich auch, weil ich so wenig wie Peter Bichsel allein sein möchte in meinem Trotz und beides mich darin unterstützt. Literatur und Theologie als trotzig-subversive Unternehmungen – ich gebe zu: Mir gefällt der Gedanke.

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