I.
Schlag nach (oder google) im Duden. "Aufhören, Ende des Lebens". Dies dort zu dem Stichwort "Tod". Ein Abgrund in bündiger Definition. Unwiderrufliches Verschwinden. Etwas, das sich nur beobachten lässt, von außen, ohne es umfänglich zu erfassen. Wäre solches "Aufhören" schon alles? Definitives Getilgt-Worden-Sein, nichts weiter? Oder handelt es sich auch um ein Phänomen für uns verborgen transformativer Art? 'Irgendwo hin' möglicherweise, auf Offenes zu?
II.
Kulturgeschichtlich blieb letzteres jedenfalls eine Dauer-Obsession, um es einmal so zu formulieren. Grabbeigaben vor mehr als 13.000 Jahren bereits legen Zeugnis davon ab. Evolutionär markieren sie möglicherweise eine zentrale Dufferenz der Ausstattung unserer nachbarschaftlichen Mitwesen gegenüber, den Tieren. Bewusst Mensch sein bedeutet daher, den Tod geistig in unsere Mitte zu holen. Das ist der Sinn jenes alten Worts, wonach Philosophieren Sterben lernen bedeutet. Sich seiner Endlichkeit bewusst werden, um wahrhaftiger Leben zu können – samt einem Koffer voll von Anschlussfragen.
III.
Als finale Auslöschung verstanden, kann der Tod sich zum Felsen des Atheismus auftürmen. Bloß ein Schulterzucken hervorrufen aber auch, die Haltung des 'So isses halt. Besser, wir reden nicht davon!' Unangenehm, weil nicht lösbar. Oder entzückende Banalisierung, wie in der Geschichte vom Münchner Dienstmann Alois Hingerl. Insofern mit ihm der Übergang in 'Anderswirklichkeit' nicht ausgeschlossen blieb, war er lange Zeit hindurch eine (wo nicht gar die) wesentliche Domäne der Religion.
Wie viel von derlei Diskurs noch übrig geblieben ist, steht dahin. Was die institutionellen Glaubensgemeinschaften betrifft, scheint man dort inzwischen wohl lieber in alternative Zukünfte auszuweichen, eine Ethik des Engagements für bessere Verhältnisse im Diesseits vornehmlich. Wer möchte sich auch dem Verdacht von Weltflucht und Vertröstung aussetzen? Transzendenz auf Sparflamme also. Das ultimative Leid und die Trauer, mit denen der Prozess der Sterbens (auch für die Übrigbleibenden) meist einher geht, wird psychologisch begleitet.
IV.
Von Liebe und Tod müsse ein guter Autor schreiben können, besagt eine Regel. Von unserer Ur-Unterworfenheit vor dem "herrn aller herren". Seinem Gedicht, in welchem der Schweizer Dichter (und Pfarrer) Kurt Marti den Aufstand probt, gibt er als Motto deshalb eine treffsichere Pariser Mauerinschrift aus dem Mai 1968 mit: "La mort est nécessairement une contre-revolution". Todesarten, Todesbilder: das Un-Sägliche, profundermaßen Wort-Lose, ist – gerade deshalb – von jeher Mega-Betreff der Wortmächtigen und -sucher. Literarisch Thanatologes in seinen Ausfächerungen würde eigene Bibliotheken füllen.
V.
"Was Tod ist, kann der nicht begreifen, der diesseits dieser Grenze steht. Er kann sich auch nicht vorstellen, was jenseits dieser Grenze geschieht". Sätze aus einem im Frühjahr erschienen Roman. Nicht alle Tage lautet der Titel. Markus Vinzent ist sein Verfasser, ein am Londoner King's College lehrender Theologe und Religionswissenschaftler. In zwei Bänden größeren Formats von insgesamt fast 800 Seiten findet dieser Wechsel des Gelehrten auf künstlerisches Terrain statt, bei denen der Leser keineswegs nur des Umfangs wegen zu tun bekommt.
Eine Vielzahl von Aspekten wird angeschnitten (am Beispiel einer Nebenfigur auch Wunderlich-Skandalöses aus Restbeständen dessen, was vormals das katholische Milieu war). Alle Handlungsstränge aber laufen im Thema des Todes zusammen. Ein kurzer Nachtrag deutet an, dass biographische Erfahrungen in die "fiktive Geschichte" eingeflossen sind.
VI.
"Sie leiden an chronischem Sterben", doch "nicht ausschließlich". Nur "zuerst traf es Sie". Jenem Onkologen im Text, der sich so äußert, mag durchaus verschlossen bleiben, wie recht er damit über die Perspektive seines Faches hinaus hat. Herr Jedermann vor dem Tod ist hier eine Jedefrau. Feeny heißt sie, kreative Modedesignerin ihres Zeichens, die zusätzlich ein Massagestudio betreibt, verheiratet mit dem Investment-Unternehmer René, Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Feinsinnige upper middle class – "aufgeklärt kritisch" und in jedem Sinne liberal –, wo man sich nicht nur gepflegt auszudrücken versteht, sondern auch mancherlei erlesenen Vorlieben nachgeht.
Um die 40 herum wird ein Ovarialkarzinom bei ihr diagnostiziert, Eierstockkrebs. Die Gewissheit eigener Vernichtung gerät damit früh in Sichtweite. Von jetzt an wird Zeit für sie zur Frist.
Elf Jahre hindurch dauert Feenys Kampf um das eigene Leben. Ein Auf und Ab von immer neu erforderlichen (Chemo-)Therapien und operativen Eingriffen. Von Phasen voller Zuversicht wie jähen Abstürzen, wenn die Krankheit desto aggressiver zurückkehrt. Von unglücklichem Bewusstsein im geschundenen Körper, weil das Damoklesschwert über ihr auch Nahestehenden Angst macht, denen sie nicht zur Last werden möchte. Von willensstarken Selbstbehauptungsversuchen, trotz einer immer sicherer werdenden "Nichtzukunft" positiv zu bleiben, "Ja" zu sagen und jeden verbleibenden "Moment" des Daseins (das als noch unabgegolten empfunden wird) zu "genießen". Von achtsamer Selbstsorge, mit Blick auf bestehendes Miteinander insonderheit, das ihr so wichtig ist.
"Erstaunlicherweise fängt das Leben erst an, wenn man weiß, dass es zu Ende geht", sagt Feeny. Verscheuchen lässt das "Todesurteil" sich jedoch nicht. Ein Menetekel irreversibler Abschiede.
VII.
Für die religionsfern Aufgewachsene bewegt sich all dies ausschließlich im Horizont des Innerweltlichen. Gern führt sie zwar eine Ausgabe mit "ausgewählten Texten Meister Eckharts" bei sich (des im Roman mehrfach angesprochenen Mystikers aus dem Hochmittelalter), nimmt dessen Lehre vom Zusammenfall des "Nun" mit der "Ewigkeit" jedoch eher wie einen Impuls wohltuender Selbstverständigung auf, seine Rede von Liebe als universaler Beziehung nicht minder.
Stammelnd berichtet Feeny über ein Nahtod-Erlebnis: "Man erzählt vom Licht am Ende. Ich habe kein Licht gesehen, aber … das Dunkel hat mich nicht geschreckt … eher angezogen … dachte, ich würde mich finden, im Dunkeln gerade, als ich mich … im Dunkel verlor. Nein, kein Licht, aber auch kein schreckendes Dunkel." Und weiter: "das Leben gibt sich ins Dunkel, gibt sich auf, lässt auch das Licht hinter sich, doch es war ein bergendes Dunkel, wie eine Wolldecke, sie drückte nicht, sie wärmte, gab Raum. … Angst eher vor dem gleißenden Licht, dem ich entfloh … es fiel mir nicht leicht, das Dunkel weichen zu lassen."
Ob ihr klar ist, dass sie hier von Ferne eine spirituelle Symbolik anklingen lässt, die weit zurückreicht? "Waz ist daz leste ende? Ez ist diu verborgen vinsternisse der êwigen gotheit", heißt es just etwa bei jenem Meister Eckhart. Schon einer seiner spätantiken Gewährsmänner, Dionysius Areopagita, weiß das unzugängliche Licht, in welchem der Höchste 'sei', nicht anders zu bezeichnen als "die göttliche Dunkelheit". Oder Bonaventura, ein Jahrhundert vor dem Erfurter Magister: Wenn der Geist sich dem höchsten Licht nähere, werde er "in einer Art von wissender Unwissenheit über sich selbst hinaus gerissen in Dunkelheit".
Ist es dieses Phänomen, von dem Feeny gestreift wird? Metanoetisch, um es im vornehmen Ton zu sagen: alles Denken übersteigend. Nacht als Empfänglichkeit, in welcher der Seele mit dem Tod des Körpers eine über-natürliche Realität paradoxerweise 'aufblitzt'. Das Überschreiten einer Schwelle, dem Ziel, der Ruhe und Vollendung des Menschen entgegen, seiner Überformung durch "vinsterniss, dem dis liecht schinet" (so Meister Eckhart, nochmals). Schon vorher auf derlei hin zu leben, kommt ihr freilich nicht in den Sinn.
VIII.
Überhaupt ist Markus Vinzents Roman in der Hauptsache ein Dokument geballter Einblicke, weniger von Deutung unter irgendwelchen Vorzeichen. Anstöße durch Verschwiegenheit. Implizit nämlich drängt die Lektüre nachgerade mit Macht zur Reflexion über das Dargestellte hinaus. Das starke Bild Thomas Hürlimanns, eines der wichtigsten unserer Gegenwartsautoren, hier anbringend: jener "Herr des Raumes", der "Räumer", von Beginn an auch in uns selbst steckend, der sich auf vielfältigste Weise zeigt: er entlässt uns nie aus der Dringlichkeit zur Entscheidung über letzte Fragen.
IX.
Und zwar als Einzelne. "Ich gehe allein", sinniert Feeny demgemäß: "Das ist, glaube ich, der Tod. Der Tod ist, dass du allein bist".