Politische AnmutGerhard Poppenbergs kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die Immaculata

Maria war in ihren verschiedenen Darstellungsformen nie unpolitisch. Das zeigt der Philologe Gerhard Poppenberg in seinem neuen Buch auf. Sein Blick auf Mariendarstellungen legt offen, dass hinter vertrauten Bildern mächtige Denkbilder stehen: ästhetische Formen, die Geschlechterrollen, Frömmigkeit und gesellschaftliche Ideale bis heute prägen.

Marienskulptur
Marienskulptur "crowning" von Esther Strauß im Linzer Mariendom (2024)© Diözese Linz

I.

Wann wäre Ästhetik je unpolitisch gewesen? Zugegeben – diese Einsicht liegt einmal näher und einmal ferner. Ferner vielleicht dann, wenn sie uns in Weiß und Himmelblau entgegenkommt wie in den Darstellungen der Maria von Lourdes und Fatima, die die Marienfrömmigkeit vorangegangener Generationen so sehr geprägt haben. Die Farben suggerieren mit der Unschuld der ohne Erbsünde empfangenen Immaculata nicht zuletzt eine politische Unschuld: Die Immaculata bezeichnet, so war es jedenfalls lange mein Blick, eine ganz inwendig gedachte Christlichkeit – persönlich fromm, getragen von emotionaler Innerlichkeit und wenig rationaler Wundergläubigkeit, in den Ausdrucksweisen blumig bis hin zum Kitsch und desinteressiert an allem Gesellschaftlichen. Das druckfrische Buch des Romanisten Gerhard Poppenberg belehrt einen sehr schnell eines Besseren. In Maria voll der Gnade. Geschichte und Gehalt eines Denkbilds zeichnet er die politische Wucht der Immaculata, an der sich in Prämoderne und Moderne ganze Völker aufgerichtet haben.

Poppenberg setzt freilich nicht mit den Erscheinungen der Immaculata in Lourdes und Fatima ein, sondern geht in die weit längere Geschichte der Ikonologie, und diese "evoziert kein biedermeierliches Idyll, sondern ein historisches Epos, das mit heilsgeschichtlicher Energie aufgeladen ist." Eingeflossen sind in die Darstellungen der Immaculata drei verschiedene Bildtypen: die virgo tuta pulchra aus der brautmystischen Deutung des Hohelieds, die Himmelserscheinung der in den Wehen liegenden Frau aus der Offenbarung des Johannes und die Eva der Genesis, als deren Anti-Typ Maria gezeichnet wird. In ihrer reinen Schönheit ist Maria so eine heilsgeschichtlich-kosmische Siegerin über alles Böse, die den Bogen vom Paradies bis hin zum Eschaton spannt. Darin ist sie ein "Denkbild" – in ihrer Schönheit nicht sexuell-erotisch, sondern Konzeptualisierung einer Reinheit, die den Wirren einer sündigen, von Kriegen und Krisen gebeutelten Welt gegenübersteht.

So wird die Verkündigung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis am 8. Dezember 1854 durch Papst Pius IX. zu einem politisch-spirituellen Programm: Die Welt soll Maß nehmen am Ideal der Immaculata und sich ihm anverwandeln. 

So wird die Verkündigung des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis am 8. Dezember 1854 durch Papst Pius IX. zu einem politisch-spirituellen Programm: Die Welt soll Maß nehmen am Ideal der Immaculata und sich ihm anverwandeln. Dies gilt in umfassender Weise: in den Gesetzen und Institutionen, in den persönlichen Haltungen, in den Emotionen und Trieben und damit auch im Verhältnis der Geschlechter zueinander. Das Urteil des Kulturwissenschaftlers gegenüber dem Erfolg dieser Entwicklungsbemühungen ist ebenso lapidar wie vernichtend: "Der gegenwärtige Stand der Institution, der diese Konzeption entstammt, zeigt, wie weit die Menschheit von der Verwirklichung dieses Ideals entfernt ist."

II.

Gerhard Poppenberg steigt in seine Überlegungen zu Maria mit der prägenden Kraft des Namens ein, die diesem jedenfalls dort noch zugeschrieben wurde, als man statt dem Geburtstag den Namenstag gefeiert hat. Der Geburtstag "feiert die schiere Kontingenz der Geburt des Einzelnen in seiner Einzigkeit." Der Namenstag dagegen ist ein "intentionaler und kulturstiftender, poietisch-performativer Akt". Er verbindet die Einzelnen mit anderen dieses Namens, im Christlichen insbesondere mit ihren jeweils namensgebenden Heiligen und mit den Erzählungen und Bildern um sie herum. Der Namen soll dabei auf die Einzelnen zurückwirken, ein Modell fürs Leben vorstellen, Nachahmung ermutigen und in einer – in der Interpretation freilich durchaus freien – Ähnlichkeit eine kulturelle, ja in christlicher Deutung womöglich heilsgeschichtliche Kontinuität schaffen.

In Poppenbergs Fall ist es der Gerhard, Bischof im ungarischen Csanád und Märtyrer. Beides ist er nicht geworden, aber dennoch konstatiert er Ähnlichkeit. Denn er sei zwar nicht Bischof, aber doch Professor für Romanistik geworden, und die universitäre alma mater lässt durchaus institutionelle Ähnlichkeiten zur "Mutter" Kirche sehen. Und vielleicht, so könnte man jedenfalls der im Buch durch jede Zeile schimmernden Lust an Sache und Sprache entnehmen – legt Gerhard Poppenberg – analog zum Märtyrer – hingebungsvoll Zeugnis für sein Fach ab.

Zum Glück haben Jahrzehnte feministisch-theologischer Arbeit offengelegt, dass es bei den Idealen (marianischer) Fraulichkeit nicht um Wesen, sondern um Kultur geht.

In meinem Fall ist tatsächlich Maria Namensgeberin, und schon weiß ich gar nicht, wie mir zumute sein soll. Gerade für Frauen ist es im Rahmen der christlichen und insbesondere katholischen Tradition durchaus vertraut, mit Maria den Weg ins Überindividuelle anzutreten. Doch gemäß kirchlicher Lehre geht es keineswegs um einen kulturstiftenden Akt, sondern um die ideale Verwirklichung eines "Wesens", das jede Frau mit Maria, der idealen Frau gemeinsam hat. Die Vorgabe ist denn auch klar: Es geht es um Hingabe, wahlweise als Jungfrau oder Mutter, deren Maß wiederum nur total sein kann – denn Marias Hingabe wurde in die Tradition der Brautmystik gestellt, die vor der Selbstnichtung selten Halt macht. Wie frei scheint demgegenüber Poppenbergs Wahl der Universität als Analogie zur Kirchlichkeit des Gerhard. Und wie gefährlich es ist, über Hingabe und ihr Maß nicht selbst gebieten zu können, zeigen aktuell die Untersuchungen zu spirituellem und sexuellem Missbrauch.

Zum Glück haben Jahrzehnte feministisch-theologischer Arbeit offengelegt, dass es bei den Idealen (marianischer) Fraulichkeit nicht um Wesen, sondern um Kultur geht. Einmal die Last der Wesensmetaphysik abgeschüttelt, atme ich die Freiheit, poietisch-performative Ähnlichkeiten zu meiner Namensheiligen herzustellen. Es darf dann gerne auch Hingabe sein, aber es wäre meine Hingabe. Und gerne erinnere ich daran, dass Maria ein Name nicht nur für das weibliche Geschlecht ist.

III.

Dass Maria ohne Erbsünde empfangen wurde, fällt bekanntlich nicht vom Himmel. Schon die Vorstellung ihrer Immerjungfräulichkeit nimmt Maria aus den Sündenzusammenhängen heraus. Gemäß dem 553 auf dem Zweiten Konzil von Konstantinopel anerkannten Dogma ist ihr Hymen unzerstört geblieben – nicht nur im Moment der Empfängnis, sondern der göttliche Sohn ist durch den Geburtskanal gekommen, ohne dass es Schaden genommen hätte. Schon Mitte des 2. Jahrhunderts berichtet das Protoevangelium des Jakobus davon und baut so Maria als Gegenfigur der Eva auf. Denn deren Sündenstrafe und mit ihr die Sündenstrafe für alle Frauen ist es gemäß Gen 3,16 bekanntlich, unter Mühen Kinder zu gebären. Bei Maria ist es anders. Bei ihr geschieht Gebären bereits unter den Vorzeichen der Erlösung.

Grundsätzlich geht es bei der Immerjungfräulichkeit tatsächlich nicht um Biologie, sondern um Sündenzusammenhänge und ihre Überwindung.

Die Erzählung des Jakobusevangeliums warnt freilich auch davor, es zu genau wissen zu wollen. Die Geburt ist von zwei Ammen begleitet, von der die eine der anderen überwältigt berichtet, dass bei Maria untenrum noch alles wunderbar unverletzt sei. Die andere, Salome, gibt sich – analog zum ungläubigen Thomas – mit dem Bericht der Zeugin nicht zufrieden. Sie sieht nach, und in dem Moment verdorrt ihr ausgestreckter Arm. Eine Warnung davor, das Bekenntnis zur Immerjungfräulichkeit Mariens zu biologisch zu verstehen? Grundsätzlich geht es bei der Immerjungfräulichkeit tatsächlich nicht um Biologie, sondern um Sündenzusammenhänge und ihre Überwindung. Es geht es um das umfassende Beziehungsgeflecht des Menschen zu Gott, zu sich selbst, zum eigenen Körper, zu anderen Menschen und zur ihn umgebenden Natur, das immer wieder als gestört erfahren wird.

Die Schlagseite der biologischen Lesart trifft wiederum vor allem Frauen: Denn die zweifellos vorhandenen Mühen jeder Geburt geraten damit in den Ruch der Sünde. Sie werden zu dem, was Julia Kristeva ein Abjekt nennt: ein Außerhalb der Sprache und der symbolischen Ordnung, das diese gleichzeitig bedroht. Womöglich liegt es an dieser Bedrohlichkeit, dass die Skulptur crowning von Esther Strauß, die 2024 in einer zum Ausstellungsraum umfunktionierten Seitenkappelle des Linzer Doms ausgestellt war, derart heftige Reaktionen hervorgerufen hat. Die Figur zeigt lebensgroß eine gebärende Maria in einer Pose, wie sie Geburten landauf landab und von jeher begleitet. Der Oberkörper ist zurückgelehnt, die Beine angewinkelt. Maria stützt die Hände hinter sich auf den Boden und richtet in dieser Situation höchster Verletzlichkeit und körperlich-produktiven Schmerzes den Blick gen Himmel. In der Nacht zum 1. Juli 2024 wird der Skulptur in einem brachialen Gewaltakt der Kopf abgesägt. Mir kommt ein Satz von Rosemary Radford-Ruether in den Sinn: Die Mariologie, die um die Immaculata kreist, "überhöht das jungfräuliche, gehorsame, geistige Weibliche und fürchtet alle wirklichen, fleischlichen Frauen." Ich kann es kaum anders deuten: Maria, wo sie als wirkliche, fleischliche Frau dargestellt wird, den Kopf abzusägen, ist ein symbolischer Femizid.

IV.

Dabei lässt sich die Immaculata auch ganz anders verstehen denn als eine Figur, die in binären Gegensätzen den Geist vom Körper, die Gotteshingabe von der Sexualität, die Reinheit von der Sünde trennt. Gerhard Poppenberg lenkt den Blick darauf, dass es in den Figurationen Marias nicht um die Gegensätze, sondern um Übergänge geht. Die Ikonographie appelliert an die Sinnlichkeit: die "strahlend weiße Madonnenblume" lädt das innere Auge dazu ein, auch noch die olfaktorische Dimension der Lilie wahrzunehmen. Maria ist so gezeichnet als "der Übergang zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen, den Menschen und Gott, der Erde und dem Himmel."

In dieser Vermittlung schafft Maria Durchlässigkeiten. Sie steht für eine mystische Bewegung, die Gerhard Poppenberg mit der französischen Philosophin und Psychoanalytikern Luce Irigaray beschreibt als ein Nacktwerden der Seele beschreibt: Es ist ein Freiwerden von allem, was den Geist fesselt – von Gewissheiten und symbolisch-sprachlichen Strukturen, auch von allem körperlichen Bedürfnis und geistigem Begehren bis hinein in die strukturlose Unendlichkeit der Seele, die Irigaray als "Virginität" bezeichnet. Erst in diesem Freiwerden der Seele, dieser spirituellen Jungfräulichkeit, wird das Selbst adventlich – offen für das "Ereignis einer Zukunft", die mit dem Selbst auch die Welt verwandelt.

COMMUNIO Hefte

COMMUNIO im Abo

COMMUNIO will die orientierende Kraft des Glaubens aus den Quellen von Schrift und Tradition für die Gegenwart erschließen sowie die Vielfalt, Schönheit und Tiefe christlichen Denkens und Fühlens zum Leuchten bringen.

Zum Kennenlernen: 1 Ausgabe gratis

Jetzt gratis testen