Ich denke nicht daran, mich in die Phalanx all jener pastoralen Heilstheologen einzureihen, die die Lehre vom Jüngsten Gericht mit einem seligen Sprung vom Tod in die Auferstehung in das ewige Leben hinein umrunden. Der springende Punkt beim Richterstuhl Christi ist: Gott ist auch in seinem Gerechtigkeitssinn verlässlich. Das jüngste Gericht ist für mich eine Frage der Gnade, nur nicht so, dass Gott in Christus Gnade vor Recht ergehen ließe. Vielmehr macht das Denkbild vom Richterstuhl Christi mit der Gnade Gottes Ernst.
Angesichts immer wieder gnadenloser Weltverhältnisse, sei es in globalen Zusammenhängen, sei es im Allerpersönlichsten, wäre es nachgerade gnadenlos, wenn Menschen einfach so durchkämen, sich in den Himmel hineinmogeln könnten. Wenn schon all jene, die anderen Menschen in schamloser Rücksichtslosigkeit ihr Leben zur Hölle gemacht haben, in dieser Welt davonkommen - und ich denke da am Volkstrauertag, der Kriege eingedenk, an die Folterkeller dieser Tage, an den Kriegshunger, die Flüchtlingsströme, die endlos vielfältigen Alltagsängste -, dann ist das Jüngste Gericht ein Akt der Gnade, indem es klarstellt, zurechtrückt und Christus zum glasklaren Klageführer macht und auf eine sehr besondere Weise rettet, was nicht mehr zu retten erscheint.
Wem die Hölle heiß gemacht wird
Es geht mir dabei auch übrigens um mich selbst, um den Ernst meiner Lebensbiografie, die eigenen Abgründe, um das, was ich nicht schaffe anzusprechen und auszusprechen. Es wäre für mich eine ewige Qual, all dies in den Himmel mit hineinschleppen zu müssen und das in Ewigkeit.
Es geht mir jedoch sicher nicht darum, als Christ mit dem Richterstuhl Christi drohen zu können, auch wenn ich glaube, dass dieser Stuhl für so manche Lebensbiografie ein durchaus bedrohliches, religiös-metaphorisches Möbelstück ist, weil vor diesem Stuhl die selbsterrichteten Kartenhäuser in sich zusammenbrechen werden. Nur muss klar werden, dass der Richterstuhl Christi nicht mit einer solchen Hölle assoziiert ist, in der Gottes Geschöpfen in ihrer personalen Substanz ewig qualvoll heimgezahlt würde. Klar muss umgekehrt werden, dass angesichts von Untaten der Menschheit und menschlicher Subjekte ebenjenen vor dem Richterstuhl Christi die Hölle heiß gemacht wird.
Der Richterstuhl Christi ist nicht mit einer solchen Hölle assoziiert, in der Gottes Geschöpfen in ihrer personalen Substanz ewig qualvoll heimgezahlt wird.
Sie werden - das ist das Erste - von Christus verantwortlich gemacht. Sie werden also darauf angesprochen und es wird ausgesprochen, dass all diese Taten ihre Untaten sind. Das Zweite ist: Sie werden von ihren Untaten endgültig unterschieden. Auf der Linie des Gedankens der Rechtfertigung durch Gott allein aus Gnade gedacht, ist das Jüngste Gericht also ein Akt, in dem das, was Menschen angerichtet und der Welt angetan haben, von ihnen getrennt wird, im Modus eines nicht nur justiziablen, sondern lebensontologischen Aktes. Gericht ist so gesehen die in die Tat umgesetzte Unterscheidung der Person von ihren Werken im Horizont einer wirkungsvollen und endgültigen Rückwirkung der Untaten auf die Person.
Unangetastete Unwürde der Untaten
Inwiefern kann hier von einer Rückwirkung die Rede sein? Auf den ersten Blick scheint es ja so zu sein, dass die Person durch die endgültige Trennung von ihren Taten einfach nur von der immensen Last ihrer Schuld erleichtert wird. Der innere Zusammenhang von Taten und der Lebensbiografie ist jedoch bei einer solchen Trennung folgenreich. Was schlimm war, bleibt schlimm und hat keine Zukunft. Wenn nun die schlimmen lebensbiografischen Zonen und Phasen eines Menschen, in denen er sich an sich selbst, an Gott und anderen verging, endgültig von ihm geschieden werden, bleibt in dem ein oder anderen Fall nur sehr Übersichtliches, ja nahezu nichts übrig. Darin liegt die Härte und zugleich die Gnade des Jüngsten Gerichts. Die Würde auch von Menschheitsverbrechern bleibt zwar vor dem Richterstuhl Gottes unangetastet. Massiv angetastet wird jedoch die maßlose Unwürde ihrer Untaten. Diese negative Fülle ihres irdischen Lebens wird dem definitiven Vergehen preisgegeben. Es verbleibt im wahrsten Sinne des Wortes eine arm-selige Würde.
In den allermeisten Darstellungen des Weltgerichtes sind es eben vollständige personale Subjekte, die zur Linken des auf dem Richterstuhl sitzenden Christus die Hölle bevölkern. Damit aber wird die Gnade der Trennung von Person und Werk im jüngsten Gericht ignoriert.
Gibt es für diese Pointe des Richterstuhls Christi ein Bild? Ich habe kein mich überzeugendes gefunden. Diese Pointe bleibt für mich vorerst ein Sprachbild. Denn in den allermeisten Darstellungen des Weltgerichtes, die zur Freude so manch säkularisiert-kunstbeflissener Zeitgenossen auch Päpste, Bischöfe und Kaiser sowie Könige in der Hölle platzieren, sind es eben vollständige personale Subjekte, die zur Linken des auf dem Richterstuhl sitzenden Christus die Hölle bevölkern. Damit aber wird die Gnade der Trennung von Person und Werk im Jüngsten Gericht ignoriert.
Ist die Hölle am Ende leer?
Was also müsste dann dargestellt und gemalt werden? Der Rechtfertigungspointe des Apostels Paulus folgend, wie Hans Urs von Balthasar einmal meinte, müsste womöglich einerseits eine Hölle in Gestalt einer leeren Menge auf die Leinwand gebracht werden, einer leeren Menge allerdings, so würde ich ergänzen, nur im Blick auf menschliche Subjekte selbst. Denn diese Hölle müsste andererseits mit den Untaten dieser Welt randvoll gefüllt zur Darstellung kommen. So würde vor Augen geführt, wie Gott - frei nach Karl Barth formuliert - nicht Gnade vor Recht ergehen lässt, sondern mit seiner Gnade im Recht ist. Gottes Gerichtsgnade ist dabei eine teure Gnade, die Übeltäter in der Perspektive der gerichtlichen Minimalisierung ihres gelebten Lebens zwischen Wiege und Bahre durch Abscheidung ihrer Untaten teuer zu stehen bekommt, indem ihre Ewigkeitsperspektiven sich auf arm-selige Perspektiven konzentrieren müssen. Auch das wäre im Unterschied etwa zu den hinreißenden (halb)nackten, in gleicher Fülle erscheinenden Leibern zur Rechten des Christus eines Michelangelo in der Sixtinischen Kapelle zu Rom eigens zur Darstellung zu bringen.
Keine außergerichtliche Klärung
Der Richterstuhl Christi ist für mich so gesehen ein starkes theologisches Denkbild für den Umstand, dass im Prozess der Aufarbeitung des gelebten Lebens niemand glauben und denken solle, dass für ihn vor Gott eine außergerichtliche Klärung seines Lebens möglich wäre. Christus ist im Gericht zur Stelle und dabei durchaus, wie soeben skizziert, richtendes göttliches Subjekt. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass das Jüngste Gericht auch einen Moment des Selbstgerichtes haben mag, wie Hans Urs von Balthasar in einem mit dem einen Wort "Gericht" überschriebenen Beitrag 1980 in "Communio" eingeprägt hat:
"Gott in Jesus richtet nicht, wohl aber richtet der Mensch sich selbst, wenn er das in Jesus erschienene reine Heil ausschlägt und nicht durch sein Licht sehend wird, sondern durch das eigene Licht zu sehen und urteilen zu können vorgibt."
Es wird Zeit, dass die Kirchen den Mut aufbringen, in die Krisenlage unserer Zeit diese theologisch anspruchsvollen Züge des christlichen Gerichtsbildes einzutragen. Das ist gerade hierzulande eine besondere Aufgabe. Denn es ist nicht neu, dass eine moralisch ambitionierte Öffentlichkeit von den Kirchen erwartet und darin auch selbst sehr geübt ist, innerweltlich ethische Jüngste Gerichte im Appellton zu vollziehen.
Oftmals werden diese Jüngsten Gerichte durch offene Briefe flankiert, am besten von hunderten unterzeichnet, darunter zahlreiche Pfarrpersonen und leitende Geistliche in Ruhe. Diese Dokumente übernehmen die Funktion einer Art Anklageschrift, die sich ihrer selbst gewiss ist, zur Rechten eines ethischen Pantokrators zu sitzen, um politisches Versagen oder das persönliche Versagen von Menschen, die im öffentlichen Rampenlicht stehen, anzuprangern. Über derlei Haltung haben sich schon früher gar nicht so fromme Leute mokiert. Goethe sprach von einem "sittlichen Richterstuhl", vor dem das Privatleben von Menschen an die Öffentlichkeit gezerrt werde. Und Stendahl beklagte, dass "Deutschland kein Gefühl für Lächerlichkeit" habe und laufend "den Geist der anderen … von dem teutonischen Richterstuhl herab" beurteile.
Das Denkbild vom Richterstuhl Christi wirft so gesehen ein schräges Licht auf die ethischen Richterstühle dieser Welt, die eine imaginierte Gerechtigkeit zugleich Siegesflügel verleiht, mit unter Umständen fatalen Folgen im Horizont einer rücksichtslosen moralischen Besserwisserei.