Psalm 60 - "Du hast uns verstoßen und uns beschämt"Der Psalter als Buch des Messias

Angesichts von schweren Schicksalsschlägen Gott anzuklagen, auch hart anzuklagen, ist besser und wirksamer, als sich von ihm abzuwenden und das Gespräch mit ihm ganz einzustellen. Das Leben ist über weite Strecken ein Kampf. Gott als Mitstreiter zu gewinnen, ist das Anliegen von Ps 60.

Bibel
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Der heute zu betrachtende Psalm 60 ist eine Klage und Bitte Israels nach schweren Niederlagen und Schlägen. Sie beginnt mit schweren Vorwürfen an Gott:

3 Gott, du hast uns verstoßen, uns eingerissen, gezürnt – stelle uns wieder her!
4 Du hast beben lassen das Land, es gespalten – heile seine Brüche, denn es kam ins Wanken!
5 Du ließest dein Volk Hartes sehen, du hast uns getränkt mit Wein zum Taumeln.
6 Du gabst denen, die dich fürchten, ein Banner, sich bannerartig zu erheben angesichts der Wahrheit.
7 Damit herausgerissen werden, die dir lieb sind, rette mit deiner Rechten und antworte uns!

Gott wird sofort direkt angesprochen. Mit sieben Verben im Perfekt hält das betende Wir, Israel, Gott die jüngsten Katastrophen vor, an denen Gott Schuld ist: Du hast uns verstoßen – eingerissen – gezürnt – beben lassen – gespalten – ließest sehen – hast getränkt – gabst. Da die Zahl sieben Vollkommenheit und Vollständigkeit symbolisiert, scheint es sich um den Vorwurf totaler Verwerfung zu handeln, im Sinne von: Du hast uns vollständig im Stich gelassen!

Die Verben stellen offenbar einen verlorenen Krieg und seine Folgen vor: Du hast uns verstoßen, uns in der Schlacht im Stich gelassen, so dass wir unterlegen sind. Du hast uns eingerissen, eine Bresche geschlagen in unsere Schlachtreihen und Abwehrmauern. Du hast uns gezürnt, deine Freundschaft aufgekündigt. Das anschließende "Stelle uns wieder her!" (so etwa die Zürcherbibel) könnte auch mit der Einheitsübersetzung als "wende dich uns wieder zu!" übersetzt werden. Dafür spräche der Gegensatz "du hast uns gezürnt – wende dich uns wieder zu!" Andererseits gibt es die Parallele

V. 3: du hast verstoßen, eingerissen, gezürnt – stelle uns wieder her!

V. 4: du hast beben lassen, gespalten – heile

"Rette, antworte uns!"

Diese Parallelität spricht für die Deutung "wiederherstellen". "Verwerfen", "einreißen", "zürnen" stellen den Vorgang aus der Sicht des erleidenden Israel dar. Der verursachende Gott hat zuerst gezürnt, dann in der Schlacht eingerissen und schließlich Israel zum Verlierer gemacht, es eine Niederlage erleiden lassen ("verworfen"). Auf die ersten drei Vorwürfe folgte eine erste Bitte: "Stelle uns wieder her!" Aber sofort setzt eine zweite Vorwurfsreihe ein: Du hast beben lassen das Land, es gespalten, es hat Brüche oder Risse erlitten und kam ins Wanken. Die Verheerung hinterließ das Land wie nach einem schweren Erdbeben. Die anschließende Bitte fleht um Heilung. Eine dritte Vorwurfsserie bietet V. 5: Nicht das Land, das Volk ist wieder Thema. Es musste Hartes erleben. Wein, der taumeln lässt, ist aus Jes 51,17 bekannt oder Hab 2,26. Motivlich nimmt er das "Wanken" des Landes aus V. 4 auf, auf das Volk angewendet. Das Volk ist orientierungs- und besinnungslos geworden. Wie alle antiken Völker war auch Israel der Auffassung, dass Sieg und Niederlage im Krieg letztlich auf die Entscheidung der Götter zurückgehen. Daher macht Israel Gott verantwortlich für seinen Schicksalsschlag.

V. 6 ist verschieden interpretiert worden. Das Banner ist ein Feldzeichen, das die Truppe anführt. Das siebte Verbum im Perfekt scheint noch einen siebten Vorwurf zu machen, aber hier geschieht ein Übergang: Du hast uns hängen lassen und orientierungslos gemacht, obwohl du uns einst auch ein "Feldzeichen" gegeben hast, an dem wir uns orientieren können – wenn denn deine Zusage "Wahrheit" ist. Angesichts der Wahrheit, Wahrhaftigkeit deiner Verheißungen müsste das Banner, das du gabst, uns, die wir dich fürchten, erlauben, uns wieder aufzurichten. Das siebte Verbum klingt nur auf den ersten Blick wie ein Vorwurf: Du hast uns ein Banner gegeben, das getrogen hat. In Wahrheit eröffnet der Vers eine Hoffnungsperspektive: Dein Banner ist doch Wahrheit, auf die wir uns verlassen können! Die Anklage ist am Ende nicht siebenfach, also nicht total. Sie mündet in die Erinnerung an Gottes Verheißung. Auf diese Zusage gegründet wagt die Wir-Gruppe eine letzte drängende Bitte: "Rette, antworte uns!"

"Ich will jubeln, ich will verteilen Sichem und das Tal von Sukkot vermessen!"

Die Heilungsbitten in dieser ersten Strophe werden drängender: stelle uns wieder her (V. 3) – heile! (V. 4) – rette! antworte! (V. 7). Nach dem hebräischen Konsonantentext steht hier "uns", das Wir redet also weiter, nach dem vokalisierten Text und den antiken Übersetzungen steht hier "mir", d.h. der König spräche für das Volk. Die erste Strophe begann mit "Gott" und endet auf "antworte mir!" Mit der neuerlichen Erwähnung Gottes beginnt die zweite Strophe. Gott selbst ergreift das Wort und antwortet, wie eben in V. 7 aufgefordert:

8 Gott hat geredet in seiner Heiligkeit (Heiligtum):
"Ich will jubeln, ich will verteilen Sichem und das Tal von Sukkot vermessen!
9 Mir gehört Gilead und mir Manasse, Efraim aber ist mein Kopfschutz, Juda mein Kommandostab,
10 Moab mein Waschbecken, auf Edom werde ich werfen meinen Schuh. Über mich, Philistäa, schrei laut auf!
11 Wer sollte mich führen in die Festungsstadt? Wer brächte mich bis nach Edom?"

Hatte Israel sich eben wie ein besiegtes Heer, verwüstet, taumelnd, dargestellt, porträtiert sich Gott als strahlenden Sieger auf dem Schlachtfeld, der die Siegesbeute verteilt. Wenn man an ein wirkliches Orakel denkt, kann man qodesch mit "Heiligtum" übersetzen (EÜ), wenn nicht, dann bezeichnet es seine "Heiligkeit", seine völlige Andersartigkeit und Unbegreiflichkeit (Delitzsch). Israel hat Gott vorgeworfen, er habe seine Niederlage verschuldet. Er hält dagegen: Ich will jubeln, d.h. ich werde triumphieren! Sukkot am Ostufer des Jordans und Sichem im Westjordanland waren Stationen der Heimkehr von Stammvater Jakob ins Gelobte Land (Gen 33,17-18).

Zur Zeit, da dieser Psalm verfasst wurde, gehörten sie zum längst verlorenen Nordisrael, das schon 722 v. Chr. von den Assyrern erobert und exiliert wurde. Das verlorene Land von Sichem und Sukkot will der siegreiche Gott zurückerwerben, vermessen und dann verteilen. Die dazu gehörenden Landschaften Gilead und Manasse beansprucht Gott ebenfalls für sich. Im Zentrum der Aufzählung stehen Efraim und Juda. Efraim bezeichnet oft als pars pro toto das Nordreich Israel, das 722 unterging (Hos 11,3), Juda ist das Südreich. Efraim soll als Gottes "Kopfschutz", d.h. als Helm in der Schlacht dienen, Juda als Kommandostab (vgl. Gen 49,10; Num 21,18). Mit ihrer Hilfe will Gott den Kampf gewinnen.

"Mit Gott werden wir Machtvolles tun"

V. 10 setzt die Aufzählung fort mit Nachbarländern, die nicht zu Israel gehören, aber einst auch Israel untertan waren. David hatte die Philister, Moab und Edom unterworfen (2 Sam 8,1.2.13.14). Zu dieser Größe will Gott sein Volk zurückführen. Moab lag am Ostufer des Toten Meers und wird deshalb zum Waschbecken herabgewürdigt. Südlich davon lag Edom. Den Schuh auf Edom werfen, heißt, symbolisch den Fuß daraufsetzen und es in Besitz nehmen. Westlich, am Mittelmeer liegt Philistäa. Es soll über den siegreichen Gott laut aufschreien müssen. Die Bewegung der Lokalitäten hatte mit Sichem und Sukkot im Norden begonnen, kam dann in die Mitte zu Efraim und Juda, um schließlich von Südosten (Moab, Edom) nach Südwesten (Philistäa) zu drehen. In V. 11 fragt der so siegreich daherkommende Gott:

11 Wer sollte mich führen in die Festungsstadt? Wer brächte mich bis nach Edom?

Gott unterstreicht seine Handlungssouveränität (Weber, Werkbuch Psalmen I 269; Vette in Oeming/Vette, Psalmen II 119). Mit der Festungsstadt ist eine der zu erobernden Hauptstädte oder Festungen gedacht, entweder Bozra in Edom oder Petra ebendort. Dass Edom in diesem Psalm so hervorgehoben wird, dürfte damit zusammenhängen, dass die Edomiter bei der Eroberung Jerusalems durch die Babylonier 587 v. Chr. sich als gnadenlose Leichenfledderer beteiligt haben (Obd 1,8-14).

V. 11 wurde von den Auslegern meist schon zur dritten Strophe gerechnet, aber die Fortsetzung im Ich, bevor V. 12 ins Wir zurückkehrt, spricht dafür, V. 11 noch zur zweiten Strophe zu rechnen. Denn die dritte Strophe beginnt in V. 12 wie die erste und zweite mit einer Nennung Gottes und lehnt sich v.a. an V. 3 an mit "Gott, du hast verstoßen". So markiert also die Nennung Gottes in den V. 3, 8 und 12 je den Strophenbeginn, in V. 14 den Gedichtabschluss.

12 Hast denn du, Gott uns nicht verstoßen und willst nicht ausziehen mit unseren Heeren?
13 Gewähr uns Hilfe vor dem Bedränger, nichts ist ja mit Rettung durch Menschen!
14 Mit Gott werden wir Machtvolles tun, er wird zertreten unsere Bedränger!

Nach Gottes triumphierender Rede fragt Israel im Wir in Anlehnung an V 3. "hast du uns dann doch nicht verstoßen?" Zuletzt wolltest du nicht ausziehen mit unseren Heeren, willst du jetzt wieder? V. 12 erinnert an Ps 44,10:

Du hast uns verstoßen und uns beschämt und willst nicht mehr ausziehen mit unseren Heeren.

Lotusblüte als Symbol der Regeneration

Aber sofort fasst das Volk wieder Mut durch Gottes Zusage: Hilfe gegen Bedränger ist nur von Gott zu erwarten, denn von Menschen ist keine Rettung zu erhoffen. Das kleine Königreich Juda hatte vor der Eroberung 587 gegen die Warnungen der Propheten wieder und wieder auf die Hilfe Ägyptens gegen Babylon vertraut (vgl. Jer 37,5.7; Ez 39,6). Aber menschliche Schutzzusagen sind so unzuverlässig und trügerisch, wie es damals Juda erfuhr, heute Europa, da alte Verbündete über Nacht zu Feinden werden können. Das kennt auch jeder in seinem persönlichen Leben. Glücklich, wer in den Kämpfen des Lebens Gott zum Verbündeten hat!

Die Überschrift verbindet dieses Gebet mit 2 Sam 8,1-13, Davids Eroberung der aufgezählten Völker. Die erwähnte "Lotusblüte" ist ein Symbol der Regeneration, wie sie Israel in dem Gebet erhofft (Böhler, Psalmen 1–15, 49). Ps 60,7-14 wird in Ps 108,7-14 wiederverwendet, so wie Ps 57,8-12 ebendort (108,2-6) erneut erscheint. Dadurch werden die verschiedenen Teile des Psalters miteinander verklammert.

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