Psalm 59 - "Gott ist meine Schutzburg"Der Psalter als Buch des Messias

Der Beter von Ps 59 erfährt, wie allein durch das Gebet, das Aussprechen vor Gott, seine innere Stärke zunimmt und ihn dem Bedrohlichen standhalten lässt.

Bibel
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Der Beter von Ps 59 schildert mit starken Bildern die permanente Bedrohung durch seine Gegner. Damit die Angst vor ihnen nicht allein allen Raum erfüllt, eröffnet er im Blick auf Gott einen Gegenraum, in dem er sich aufrecht halten kann, um den Bedrohungen zu widerstehen. Dies gelingt ihm nicht in einem Zug, sondern er braucht zwei Durchgänge, um diesen Gegenraum des Gottvertrauens zu stabilisieren. Der Refrain in V. 10 und 18 teilt das Gedicht in zwei Strophen, zwei Durchgänge.

Die prosaische Überschrift ordnet mit "Zerstör nicht" (2 Sam 26,9) ganz allgemeine den Psalm der Erzählung über Sauls Verfolgung Davids zu (2 Sam 19-26), speziell den Psalmen 57-59 und 75, die im Titel dasselbe Element tragen. Mit "Inschrift" sind die Pss 16 und 56-60 überschrieben. Die biographische Notiz der Überschrift ordnet Ps 59 spezifisch 1 Sam 19 zu, den Anfängen der Verfolgung Davids durch König Saul, als dieser David nachts in seinem Haus auflauern ließ, aus dem Davids Frau Michal, Sauls Tochter, ihm die Flucht ermöglichte.

1 Für den Musikmeister: zerstör nicht! Von David eine Inschrift, als Saul schickte, dass man das Haus bewache, um ihn zu töten.

"Entreiß mich meinen Feinden, mein Gott"

Beide Strophen, V. 2-10 und 11-18, setzen ein mit einer drängenden Bitte, die sodann übergeht in eine Klage, die die Not schildert, um zu enden mit einer Vertrauenserklärung gegenüber Gott.

2 Entreiß mich meinen Feinden, mein Gott,
vor denen, die sich gegen mich erheben, schütze mich!
3 Entreiß mich den Übeltätern, und vor Blutmenschen rette mich!

Mit vier Imperativen (entreiß-schütze-entreiß-rette!) bestürmt der Beter Gott, zu seinen Gunsten einzugreifen. Das Problem sind "Feinde", aber nicht etwa untätige, sondern solche, die sich aktiv "gegen ihn erheben", nicht mit guten Gründen, sondern weil sie "Übeltäter" sind, bereit zu jeder schlimmen Tat, einschließlich Mord, "Blutmenschen". Mit der Steigerung stellt der Beter Gott das Problem drängend vor Augen. Mit einem "denn" und einem rahmenden "siehe" in V. 4 und 8 schließt er die Darstellung der bedrängenden Situation an:

4 Denn siehe, aufgelauert haben sie meiner Seele (Hals), Starke wollen mich angreifen –
nicht mein Vergehen, nicht meine Versündigung (ist’s), Herr,
5 ohne Verschuldung rennen sie an und stellen sich auf. Wach auf, mir entgegen, und sieh!
6 Du aber, Herr Gott Zebaot, Gott Israels, erwache, heimzusuchen alle Nationen!
Gnade nicht denen, die treulos Übles tun! Sela
7 Sie kehren wieder abendlich, heulen wie Hunde, umkreisen die Stadt.
8 Siehe, sie geifern mit ihrem Mund, Schwerter auf ihren Lippen – wer hört's?

Die Feinde wollen dem Beter an den "Hals", ans Leben. Das hebräische Wort nefesch bezeichnet zunächst die Gurgel, durch die dem Menschen permanent Leben zugeführt werden muss (Atem, Speise, Trank). Das Wort bezeichnet daher auch den ganzen Menschen, insofern er bedürftig ist. Die Standardübersetzung der griechischen Bibel, psyche, führte dazu, dass meist "Seele" übersetzt wird. Freilich bedeutet auch das griechische Wort zunächst "Lebensodem", "Lebenskraft, "Verlangen". Starke trachten dem Beter nach dem Leben, die ihm auch wirklich überlegen sind. Dreimal versichert er, dass er keinen Anlass zu solcher Feindseligkeit gegeben hat: ohne Vergehen, Versündigung, Verschuldung seinerseits. Bei der Anwendung, die die Überschrift für den Psalm vorlegt, ist es ja tatsächlich so, dass der mächtige König Saul seinem treuen Soldaten David nur deswegen nachstellt, weil dieser erfolgreich ist und Saul eine Konkurrenz in ihm sieht. Sie "rennen an und stellen sich auf" wie eine Schlachtreihe im Krieg. "Wach auf!" ruft der Beter Gott an, werde endlich tätig "mir entgegen", mir zu Hilfe, "und sieh", nimm zur Kenntnis, was hier abläuft!

"Der im Himmel thront, lacht, der Herr verspottet sie"

Nachdrücklich spricht er Gott als "Herr Gott Zebaot" an, den Gott, der selber "Zebaot", Heerscharen ist, "Mächte und Gewalten". Diesen weit mächtigeren Gott stellt er mit "du aber" der feindlichen Macht entgegen. "Gott Israels" nennt er ihn sodann noch, d.h. er ist zuständig für den betenden Israeliten. "Erwache", ruft er ihn erneut auf. "Heimzusuchen alle Nationen" nimmt nichtisraelitische, heidnische Nationen in den Blick, die in der Geschichte immer wieder Israel bedrückt haben (2 Kön 25; 1 Makk 1). In der Anwendung auf 1 Sam 19 würde David König Saul unter die Heiden einreihen, weil er "treulos Übles tut" (V. 6), den treuen Diener David verrät und verfolgt. "Gnade nicht denen, die treulos Übles tun!" Gottes Wesen ist es, "gnädig" zu sein (Ex 34,6), aber Gnade für die Starken und Grausamen wäre Gnadenlosigkeit gegenüber den Schwachen, den Opfern. Das kann Gott nicht wollen.

V. 7 greift zu einem starken Bild (wiederholt in V. 15): So wie herrenlose, halbwilde Hunde in der Dämmerung um die Stadt herumstreunen, um in den Abfällen vor der Stadt nach Fressbarem zu suchen, bedrohliche Rudel, deren Geheul Angst macht, denen man nachts nicht begegnen möchte, so verhalten sich die Feinde. V. 8 schillert zwischen dem Bild von den Hunden und der Sachebene der Menschen: die fresswütigen Tiere "geifern" und kämpfen um die Beute. Die menschlichen Feinde geifern und verletzen mit ihren Reden. Dazu sagen die Menschen dann noch: Es hört’s ja niemand, der dir helfen könnte. Mit einem neuerlichen "Du aber" wendet sich der Beter an Gott und stellt ihn als überlegene Macht den mächtigen Feinden entgegen:

9 Du aber, Herr, wirst sie auslachen, wirst spotten über alle Nationen.
10 Meine Stärke, auf dich hin will ich wachen, denn Gott ist meine Schutzburg!

Wiederum nennt er ihn mit dem Gottesnamen JHWH ("Herr"), um die persönliche Beziehung zu unterstreichen und zitiert dann Ps 2,4, wo Gott in überlegenes Lachen ausbricht über die rebellierenden Nationen, bevor er ihnen droht:

Der im Himmel thront, lacht, der Herr verspottet sie.

Mit dem Refrain V. 10 spricht der Beter ein erstes Mal das Ziel seines Gebets aus. "Meine Stärke" nennt er Gott. Gegen die Starken (V. 4), die ihn angreifen, ist Gott seine Stärke, seine Schutzburg. Auf ihn hin will er "wachen", d.h. ihn im Blick behalten und auf ihn warten, seine Schutzburg. "Schützen" in V. 2 und "Schutzburg" in V. 10 bilden den Rahmen um diese erste Strophe, denn darum geht es in ihr: Der Beter hält sich seine Schutzburg, Gott, vor Augen, um der Angst vor der Bedrohung nicht zu weichen.

"Gott, der mir loyal ist, soll mir vorangehen"

Die zweite Strophe V. 11-18 ist gerahmt von "Gott, der mir loyal ist" in V. 11 und 18. Auch diese beginnt mit der Bitte, die dann in Klage übergeht:

11 Gott, der mir loyal ist, soll mir vorangehen,
Gott soll mich herabsehen lassen auf meine (lauernden) Gegner!
12 Töte sie nicht, damit nicht vergesse mein Volk!
Lass sie umherirren und stürze sie hinab, unser Schild, mein Herr!
13 Versündigung ihres Mundes ist das Wort ihrer Lippen,
so mögen sie sich verstricken in ihrem Hochmut
und wegen des Fluchs und der Lüge, die sie erzählen!
14 Mach (sie) fertig im Zorn, mach (sie) fertig, dass sie nicht mehr sind,
und erkennen, dass ein Gott herrscht in Jakob – bis an die Grenzen der Erde! Sela
15 Sie kehren wieder abendlich, heulen wie Hunde, umkreisen die Stadt.
16 Sollen sie umherirren nach Fressen, und wenn sie nicht satt werden, über Nacht bleiben!

Er ruft Gott an als "Gott meiner Loyalität", als einen, der ihm die Loyalität hält (und umgekehrt). Er, als "unser Schild, mein Herr" (V. 12) soll abwehrend dem Beter vorangehen (V. 11) und diesen triumphieren lassen über seine aggressiven Feinde. Stand in der ersten Strophe die Rettung des Beters im Vordergrund, so hier nun die Niederlage der Feinde. Gott soll sie nicht töten, sondern unschädlich machen. Sie sollen sogar am Leben bleiben, damit ganz Israel ihre Niederlage sehen kann und immer wieder an sie denkt. V. 13 nimmt V. 8 noch einmal auf: Die Feinde drohen, lästern, verletzen und lügen mit Worten. Sie sollen sich "verstricken" in den Fallen, die sie für den Beter ausgelegt haben. Sie sind hochmütig und halten sich für mächtig. Das werde ihnen zum Fallstrick! Gott soll sie "fertigmachen", unschädlich machen, damit sie "erkennen, dass ein Gott herrscht in Jakob" (V. 14). Sie sollen erfahren, dass es einen stärkeren gibt. In der Mitte der ersten Strophe (V. 69 hatte der Beter "Israel" genannt", in der Mitte der zweiten (V. 14) nennt er "Jakob".

"Ich aber will besingen deine Stärke"

Stammvater Jakob, der in Todesangst verging vor seinem Bruder Esau, wurde im Ringen mit Gott umbenannt zu "Israel", "Gottesstreiter" (Gen 32,29) und erfuhr, wie Gott wundersam den Feind entwaffnete (Gen 33). V. 15 wiederholt das bedrohliche Bild von den heulenden Hunderudeln aus V. 7. Aber V. 16 versichert, dass die "Hunde" den Beter nicht mehr schrecken können, selbst wenn sie die ganze Nacht dableiben. Er ist sicher, dass Gott seine Rettungsmaßnahmen bereits eingeleitet hat, denn seine Zuversicht ist im Prozess des Gebets gewachsen:

17 Ich aber will besingen deine Stärke, will bejubeln morgendlich deine Loyalität,
denn du wurdest eine Schutzburg für mich und eine Zuflucht am Tag, da ich bedrängt wurde.
18 Meine Stärke, für dich will ich spielen, denn Gott ist meine Schutzburg,
Gott, der mir loyal ist.

Er will Gottes Stärke besingen (V. 17), weil sie "seine", des Beters "Stärke" geworden ist. Mögen allabendlich die Hundemeuten kommen (V. 8, 13), kann er doch allmorgendlich Gottes Loyalität feiern. Gott wurde ihm zur "Schutzburg". "Schützen" und "Schutzburg" in den V. 2, 10 und 18 rahmen und unterteilen das Gedicht. Die "Schutzburg" bildet die buchstäbliche Mauer um das Ganze. Dazu kommen "denn … Starke" in V. 4 und "Stärke … denn" in V. 10, 17 und 18. Gottes Stärke, die stärker ist als die starken Angreifer, sie wurde des Beters Stärke gegen sie durch das Gebet. Der Refrain V. 18 wiederholt V. 10, der Dichter musste nur noch "wachen", also harren, durch "spielen", also feiern ersetzen. Dabei genügte es, einen einzigen hebräischen Buchstaben auszuwechseln, und aus sch-m-r ("wachen") wurde z-m-r ("Musik spielen").  

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