Der heute zu betrachende Psalm 58 ist wie die ganze Gruppe der Psalmen 56–60 und Ps 16 als "Inschrift" überschrieben und erinnert mit "zerstör nicht" (wie die Nachbarn Ps 57 und 59 sowie 75) an 1 Sam 26,9 ("zerstör ihn [König Saul] nicht!").
1 Dem Musikmeister, "zerstör nicht!, von David eine Inschrift.
Ps 58 geht hart ins Gericht mit korrupten Richtern, die statt Recht-Sprechung zu üben, Unrecht sprechen, weil sie durch und durch korrupt sind, nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Der Beter appelliert an Gott als den obersten Richter, solchen Unrechts-Richtern das Handwerk zu legen. Das Gedicht hat einen klaren Aufbau:
2-3 Anklage der Richter
4-6 Beschreibung der Richter; Giftschleudern, stellen sich taub.
7 Appell an Gott (als obersten Richter): mach sie unschädlich!
8-10 Beschreibung der Ausschaltung
11-12 Reaktion der Menschen
"Ihr solltet in Geradheit richten die Menschenkinder!"
Die erste Strophe V. 2-3 spricht eine Gruppe in der Ihr-Form an. Es handelt sich offensichtlich um Leute, die sich der Rechtspflege widmen sollten, die ihren ganzen Eifer aber darauf verlegen, Unrecht zu pflegen:
2 Könnt ihr wirklich Gerechtigkeitsverstummung herbeireden?
Ihr solltet in Geradheit richten die Menschenkinder!
3 Wahrhaftig, im Herzen verübt ihr Verkehrtheiten,
im Lande bahnt ihr die Gewalttat eurer Hände an.
Konkret führen sie Prozesse und fällen Urteile, bei denen das Recht und die Gerechtigkeit zum Schweigen gebracht werden sollen. Das Oxymoron "Schweigen herbeireden" zeigt das Perverse ihres Tuns. Die Stichwörter aus V2 bilden einen Rahmen mit denselben Stichwörtern im Schlussvers 12:
Gerechtigkeit-richten-Mensch (V. 2) – Mensch-Gerechtigkeit-richten (V. 12).
Menschen in Gerechtigkeit zu richten – darum geht es in diesem Gedicht. Wenn man den Rahmen etwas weiter fasst, bilden zunächst
gerecht – richten
in V 2 und 12 einen äußeren Rahmen, einen inneren dagegen in chiastischer Aufnahme
Mensch-Frevler (V. 2.4) – Frevler-Mensch (V. 12)
"Abtrünnig wurden die Frevler vom (Mutter-) Schoß an"
Um gerechtes Gericht sollte es gehen, Menschen sollten vor Frevlern geschützt werden. Wahr ist stattdessen das Gegenteil, wie V. 3 sagt: Im Herzen – für die Bibel das Denkorgan – bilden sie nicht etwa ein gerechtes Urteil, sondern verkehren ihre Wahrnehmungen, ihre Schlüsse aus diesen, verdrehen alles, was vorgetragen wird. Danach geht ihr Urteil hinaus ins Land, der Gedanke wird zur Tat ("Herz" → "Hand"), dem Volk im Land, das bei Gericht sein Recht gesucht hatte, wird Gewalt angetan. Die zweite Strophe spricht über die Unrechts-Richter in der 3. Person:
4 Abtrünnig wurden die Frevler vom (Mutter-) Schoß an,
sie irrten vom Bauch an als Lügenredner.
5 Gift eignet ihnen nach dem Gleichbild von Schlangengift.
Wie eine taube Viper verstopft er sein Ohr.
6 So dass er nicht hören kann die Beschwörerstimme,
wenn einer mit Bannsprüchen bannt kunstfertig.
Diese Richter sind so grundverdorben, dass sie offensichtlich von klein auf so wurden, wie sie heute sind: Sie halten sich an keine Regel, kein Gemeinwohl für das Gesellschaftsganze ("abtrünnig"), haben von Kindesbeinen an lügen gelernt. V. 5-6 bringen zwei Tiervergleiche, sie werden sich in V. 7 und 9 fortsetzen. Wenn diese Unrechts-Richter reden, kommt aus ihrem Inneren nur Gift heraus, wie bei einer Schlange. Wenn sie im Prozess zuhören sollten, gleichen sie der Viper, die keine Ohren hat. V. 6 geht in den Singular über und greift beispielhaft einen solchen Richter heraus: Selbst wenn eine Fachmann auf den Richter einredet ("Schlangenbeschwörer"), einer, der das Recht kennt ("kunstfertig"), wird er mit solchen Richtern nicht fertig. Sie stellen sich einfach taub.
Im zentralen Vers des Psalms, der eine eigene "Strophe" bildet, ruft der Beter Gott, den obersten Richter, um Hilfe an:
7 Gott, reiß ihre Zähne ein in ihrem Mund, das Löwengebiss zerbrich, Herr!
"Zerfließen sollen sie wie Wasser, das sich verläuft"
Die Vokative "Gott!" und "Herr!" rahmen den Vers. Zwei Imperative ("reiß!" – "zerbrich!") bilden einen inneren Rahmen, ganz innen stehen die Objekte: "Zähne" und "Gebiss". Die Zähne und das Gebiss im Mund sind das Redeorgan, mit dem die falschen Richter Unrechts-Urteile fällen, im Prozess alles verdrehen und so die Gewalt im Land vermehren (V, 3). Der Beter fleht Gott an, er wolle solchen Richtern die Instrumente ihrer Unrecht-Sprechung zerstören, ihnen die Waffen der Gewaltausübung wegnehmen.
Die vierte Strophe malt in Fortsetzung der mit dem Löwen wiederaufgenommenen Tierbilder aus, wie die Richter unschädlich gemacht werden sollen:
8 Zerfließen sollen sie wie Wasser, das sich verläuft.
Will einer aufspannen seine Pfeile – Wie gekappt sollen sie sein!
9 Wie eine Schnecke in Auflösung sollen sie zergehen,
die Fehlgeburt einer Frau, welche nie geschaut hat die Sonne!
10 Bevor eure Dornen den Stechdorn merken lassen,
ob lebensfrisch, ob ausgedörrt, es wird ihn wegstürmen.
Der Dichter nennt lauter Objekte und Lebewesen, die ihren Zweck, ihr Ziel nicht erreichen. Wasser, das zum Trinken oder Waschen dienen könnte, das sich aber stattdessen sinnlos verläuft – so sollen die Unrechtsrichter zerfließen. Die Rede vom Aufspannen der Pfeile ist im Hebräischen eine Abkürzung für "wenn einer tritt [den Bogen, um anzulegen] seine Pfeile", denn der mannshohe Bogen musste mit dem Fuß getreten und so gebogen werden, damit die Sehne, an die der Pfeil angelegt wird, nach hinten gezogen werden kann. Die Pfeile sollen an ihrer Spitze wie gekappt sein, stumpf und abgebrochen, unwirksam also. Das hebräische Wort für "kappen" wird von manchen als "verwelken" interpretiert. Der Effekt ist derselbe: Pfeile aus Holz, die weich werden wie verwelktes Gras, sind unwirksam. Der Schleim, den die Schnecke aus ihrem Inneren absondert, um sich fortbewegen zu können, kann einem Betrachter erscheinen wie die Selbstauflösung des Weichtiers zu Schleim. Die Schnecke hört auf, Schnecke zu sein. Eine solche Selbstauflösung wünscht der Beter den korrupten Richtern.
Eine menschliche Fehlgeburt, die das Licht der Welt nie erblickt hat, ist ein von Anfang an gescheitertes Menschenleben, das nie ins Dasein trat. Eine Jungpflanze, die ausgewachsen ein Dornbusch, ein Stechdorn geworden wäre, aber nicht alt genug wurde, um richtige, harte Dornen auszubilden, gibt das letzte Bild ab: Vorzeitig verdorrt oder auch nicht, ist es zu Ende mit ihm, wenn ein heftiger Sturm ihn ausreißt und wegweht. Er kann niemanden mehr verletzen. Das Wort für "Dorn" (sir) hat ein Homonym ("Teekesselchen"), das "Topf" bedeutet. Die antiken Übersetzungen, aber auch modernere jüdische Übersetzer (Hirsch, Buber) entscheiden sich für den Dorn. Andere verstehen hier Kochtöpfe, die vom Sturm weggefegt werden, ehe noch die Hitze der Dornbusch-Holzkohle den Topfinhalt gekocht hat (statt "lebensfrisch-ausgedörrt" deuten sie "roh-gekocht"). Das Bild wäre dann von einem Kochtopf, der sein Ziel nicht erreicht.
"Freuen kann sich der Gerechte, denn geschaut hat er Vergeltung"
In fünf Vergleichen (Wasser, Pfeile, Schnecke, Fehlgeburt, Dornbusch/Topf) beschreibt der Dichter das Scheitern einer Existenz. Dergleichen wünscht er den korrupten Richtern.
Die fünfte und letzte Strophe beschreibt die Reaktion der "Menschen", die seit V. 2 auf gerechtes Gericht gewartet hatten, wenn sie den Untergang solcher Unrechtsrichter sehen:
11 Freuen kann sich der Gerechte, denn geschaut hat er Vergeltung.
Seine Füße können baden im Blut des Frevlers.
12 Auf dass sage der Mensch: Ja, Frucht gibt’s für den Gerechten,
ja, es gibt eine Gottheit, die richtet auf Erden!
Das Rechtsempfinden des Gerechten, das bisher schwer verletzt wurde, würde durch den Zusammenbruch einer solchen Unrechts-Justiz (Oxymoron!) Genugtuung erfahren. Das Bild vom verlaufenden Wasser (V. 8), der zerfließenden Schnecke, wird fortgesetzt mit dem Bild vom Baden der Füße im Blut der Gescheiterten. Das Bild drückt eine postmortale Demütigung der zu Tode Gekommenen aus, eine Art Leichenschändung (vgl. Ps 68,24). Gerechte Richter hätten verdienten Nachruhm gehabt. Die korrupte Klasse in diesem Psalm soll nichts dergleichen haben. Die Menschen, die nach V. 2 ein Recht auf gerechte Rechtsprechung hatten, würden den Glauben an das Recht, an die Gerechtigkeit wiederfinden (V. 12), den die Praktiken dieser Richter ruiniert hatte.
Das hebräische Wort elohim ist ein pluralis abstractionis, "Gottheit", der in der Bibel, wenn es um den einen Gott geht, meist mit einem Singular-Prädikat verbunden wird, aber nicht immer (2 Sam 7,23) – so auch hier, wo der Plural des Prädikats die Abstraktion unterstreichen will: Über den falschen Richtern gibt es einen höchsten Richter, der alle zur Rechenschaft zieht. Das ist eine Frohe Botschaft. Kühne poetische Bilder und lyrische Kraft kann man dem Gedicht nicht absprechen.